Argumentieren im Assessorexamen

Die Tech­niken der Bun­des­richter

von Dr. Florian MetzLesedauer: 5 Minuten
Wer im Zweiten Examen überzeugen will, sollte die Techniken für den Aufbau überzeugender juristischer Begründungen beherrschen. Florian Metz zeigt, wie die obersten deutschen Richter argumentieren und was man sich davon abgucken kann.

Die Prüfungssituation im Assessorexamen besteht vereinfacht gesagt darin, in nur fünf Stunden einen umfangreichen Aktenauszug zu lesen und einen überzeugenden Urteilsentwurf zu schreiben. Die Fallkonstellationen im Assessorexamen liegen regelmäßig in wertenden Grenzbereichen, bei denen unterschiedliche Lösungsansätze mit guten Gründen vertretbar sind. Selbst hervorragende Examenskandidaten können das von der Musterlösung präferierte Ergebnis nicht mit hinreichender Sicherheit identifizieren. Im Einklang damit betonen Prüfer im Assessorexamen immer wieder, dass es ihnen bei der Bewertung von Examensklausuren nicht auf das Ergebnis, sondern auf eine überzeugende Begründung ankommt. Differenzierungspotential bei der Bewertung von Examensklausuren besteht somit in erster Linie bei der Entscheidungsbegründung. Damit unterscheidet sich die Prüfungssituation im Assessorexamen von der Gerichtspraxis, bei der vor allem das Ergebnis der Entscheidung überprüft wird. Vor diesem Hintergrund sind sprachliche Techniken zur überzeugenden Begründung des Ergebnisses für den Examenserfolg wichtig. Gute Argumentationslinien entstehen nicht zufällig. Bundesrichter und hervorragende Examenskandidaten verwenden vielmehr wiederkehrende Muster für den Aufbau juristischer Begründungen, die im Folgenden vorgestellt werden. Wer dagegen fürs Assessorexamen einzelne Argumente und Formulierungen auswendig lernt, kommt mit unbekannten Aufgaben nicht zurecht. Selbst bei bekannten Aufgaben entsteht der Eindruck, schematisch auswendig gelernt zu haben.

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Perspektive und Gegenperspektive

Die Einnahme bestimmter Perspektiven ist eine wichtige juristische Argumentationstechnik. Auf Seiten der Staatsanwaltschaft wird die Perspektive traditionell aus Sicht des Opfers formuliert, während auf Seiten der Verteidigung die Perspektive des einzelnen Angeklagten bestimmend ist. Und im Zivilrecht geht es aus Sicht des Verbrauchers um den Schutz vor übermächtigen arbeitsteiligen Organisationen und unfairen Vertriebsmethoden, während aus Sicht des Unternehmers die Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses und die Eigenverantwortung im Vordergrund stehen. Bundesrichter und hervorragende Examenskandidaten nehmen beim Aufbau juristischer Argumentationslinien die Perspektive bestimmter Personen- und Interessengruppen ein. So ging es beispielweise in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 04.03.2015, Az. VIII ZR 166/14) um die Wirksamkeit einer Eigenbedarfskündigung. Der Vermieter benötigte die von ihm vermietete 136-Quadratmeter-Wohnung für seinen studierenden Sohn, der dort gemeinsam mit einem Mitbewohner einziehen sollte. Auf dieser Grundlage kündigte er das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Eigenbedarfskündigung nach § 573 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) wirksam ist, kamen die Gerichte zu gegenläufigen Ergebnissen. Das Amtsgericht Karlsruhe hielt die Kündigung für wirksam, das Landgericht Karlsruhe dagegen nicht und der BGH ging wiederum von einer Wirksamkeit der Kündigung aus. Dabei legten die Gerichte zum Aufbau ihrer jeweiligen juristischen Begründung unterschiedliche Perspektiven zugrunde. Während der BGH zur Begründung der Wirksamkeit der Kündigung die Perspektive des Vermieters einnahm, wechselte das Landgericht Karlsruhe zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung in die Perspektive des Mieters. Die Formulierung wird also nicht unabhängig vom Argumentationsziel gewählt: Vermieterperspektive (Bundesgerichtshof) "Der Vermieter wird durch Art. 14 GG in seiner Freiheit geschützt, die Wohnung bei Eigenbedarf selbst zu nutzen oder durch privilegierte Angehörige nutzen zu lassen..". Mieterperspektive (Landgericht Karlsruhe) "[D]ie Dispositionsbefugnis des Eigentümers [steht] unter dem Vorbehalt der Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 GG…"

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2/2: Grundsatz und Ausnahme

In der Rechtsetzung und Rechtsanwendung werden sprachliche Begründungshürden durch Grundsatz-Ausnahme-Formulierungen gesetzt. Deshalb verorten höchstrichterliche Entscheidungen das Entscheidungsergebnis regelmäßig sprachlich im Bereich des Grundsatzes und drängen die Gegenposition damit von Vornherein in eine rechtfertigungsbedürftige Position. Doch Vorsicht: Die Formulierung eines rechtlichen "Grundsatzes" ist nicht beliebig. Vielmehr ist der Grundsatz durch Traditionen und Konventionen der Rechtsprechung geprägt und festgelegt. Mit Blick auf das vorgenannte Beispiel zur Eigenbedarfskündigung bestehen verschiedene Formulierungsmöglichkeiten. Aus der Formulierungsperspektive des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB ist die Wirksamkeit einer Eigenbedarfskündigung der Grundsatz, eine solche kann danach nur ausnahmsweise unwirksam sein. Begibt man sich auf die übergeordnete Ebene der allgemeinen Grundsätze zur Kündigung von Mietverträgen, verändert sich die sprachliche Grundsatz-Ausnahme-Struktur: Mietverträge sind durch den Vermieter grundsätzlich nicht ordentlich kündbar. Von diesem Grundsatz aus betrachtet ist die Möglichkeit einer Eigenbedarfskündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB die Ausnahme. Der BGH und das Landgericht Karlsruhe verwenden ebenfalls Grundsatz-Ausnahme-Formulierungen zum Einstieg in ihre jeweiligen juristischen Begründungen. Dabei geht der Bundesgerichtshof von der Formulierungsperspektive des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB aus, während das Landgericht Karlsruhe von anderen – den Anwendungsbereich des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB einschränkenden – Rechtsprechungsgrundsätzen ausgeht. Wieder wird die Formulierung nicht unabhängig vom Argumentationsziel gewählt: Vermieterperspektive (Bundesgerichtshof) "Dabei [ist der] Entschluss des Vermieters, die vermietete Wohnung nunmehr selbst zu nutzen oder durch den - eng gezogenen - Kreis privilegierter Dritter nutzen zu lassen, grundsätzlich zu achten…" Mieterperspektive (Landgericht Karlsruhe) "Dabei wurden Wohnungsgrößen ab 100 m² regelmäßig als unangemessen angesehen, wenn keine besonderen Gründe die Nutzung einer derart großen Wohnung durch eine alleinstehende Person ohne erhebliche Einkünfte rechtfertigen…"

Positiv- und Negativstrukturen

Bundesrichter verwenden beim Aufbau von Begründungslinien vorzugsweise negative Formulierungen. Sprachlich unterscheiden sich negative Begründungsstrukturen erheblich von positiven Begründungsstrukturen. Negative Begründungsstrukturen sind weniger angreifbar und erzeugen den Eindruck sprachlicher Präzision. So ist beispielsweise die negative Formulierung "Der Wortlaut spricht nicht dagegen, dass…" vielseitiger argumentativ verwendbar als die positive Formulierung "Der Wortlaut spricht dafür, dass…". Der Übergang in eine negative Struktur wird traditionell durch bestimmte sprachliche Techniken vorbereitet. Dabei werden insbesondere auf das Ergebnis zugeschnittene Grundsatz-Ausnahme-Formulierungen in verschiedenen Varianten eingesetzt. Wieder ausgehend vom Beispiel zur Wirksamkeit der Eigenbedarfskündigung und der genannten Grundsatz-Ausnahme-Formulierung aus Perspektive des Vermieters lässt sich so der Übergang in eine negative Begründungsformulierung einfach erzeugen: "Die Eigenbedarfskündigung ist gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB wirksam. Nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB liegt ein zur Kündigung berechtigtes Interesse grundsätzlich vor, wenn der Vermieter die Räume als Wohnung für einen Familienangehörigen benötigt. Dabei ist der Entschluss des Vermieters, ihm gehörenden Wohnraum durch einen Familienangehörigen nutzen zu lassen im Grundsatz zu akzeptieren […] Der Umstand, dass die Wohnfläche 136qm beträgt und der Sohn des Klägers sie gemeinsam mit einem Mitbewohner nutzen will, rechtfertigt keine andere Bewertung. Denn…" Fürs Assessorexamen bedeutet das: Sollte der oben genannte Beispielsfall Grundlage einer Klausur sein, so rechtfertigt die Entscheidung des Prüflings für eine Klageabweisung im Einklang mit dem Landgericht Karlsruhe für sich betrachtet keine schlechte Examensnote. Vielmehr kommt es für die Bewertung – ebenso, wenn sich der Kandidat für die vom BGH angenommene Klagestattgabe entscheidet - maßgeblich darauf an, ob der Aufbau einer guten juristischen Begründung gelingt. Im Assessorexamen sind diese Überzeugungskraft und Tiefe der Argumentation für die Bewertung von Examensklausuren sehr wichtige Kriterien. Wer dort erfolgreich sein will, sollte diese grundlegenden sprachlichen Argumentationstechniken beherrschen. Der Autor Dr. Florian Metz ist Richter am Amtsgericht und Referendarausbilder. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der wissenschaftlichen Analyse juristischer Klausurtechniken im Assessorexamen.

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