Die zwielichtige Quelle
Wer über des Juristen Verhältnis zur Wikipedia etwas sagen will, muss zwei Richtungen des Informationsflusses unterscheiden. Geht es um die Bereitschaft, eigenes Fachwissen mit interessierten Nicht-Fachkollegen zu teilen ("Geben"), ist die Bilanz eher durchwachsen – freundlich ausgedrückt. Schon auf der nicht allzu anspruchsvollen technischen Ebene sind Juristen wenig wiki-affin, wie sich bereits auf einer dem Thema gewidmeten Tagung gezeigt hat. Geradezu klein ist ihre Neigung, mühsam erworbenes und vor allem geldwertes Fachwissen in laienverständliche Form zu bringen, ohne dafür ein Honorar oder auch nur die Ehre der Autorenschaft zu erhalten. Dabei zeigt die ziemlich unterschiedliche Qualität von Wikipedia-Lemmata zu Rechtsthemen, dass da noch Luft nach oben ist, was die juristische Expertise angeht: Wer hat sich beim –natürlich rein zufälligen – Stöbern im Online-Lexikon nicht schon über fehlende, unvollständige, veraltete und manchmal auch einseitige Artikel zu juristischen Themen geärgert? Das muss man wohl hinnehmen, zumal jeder Jurist es selbst in der Hand hat, diesen Zuständen abzuhelfen
Nicht für Fach-, aber vielleicht Allgemeinwissen
Aber es gibt ja auch noch eine andere Richtung des Informationsflusses ("Nehmen"). Eine beeindruckende und ständig wachsende Liste von Belegstellen in der Rechtsprechung und gelegentlich auch der Rechtswissenschaft beweist, dass die Wikipedia längst im juristischen Arbeitsalltag etabliert ist. Besonders deutlich kann man das an der Hochschule beobachten. In studentischen Übungsarbeiten sind Wikipedia-Belege ein Dauerbrenner – an passenden wie unpassenden Stellen. Kein Wunder, so hat man es ja auch in der Schule gelernt. Also versuchen die Leiter von Anfängertutorien zum wissenschaftlichen Arbeiten nach Kräften, den Studenten die (überbordende) Wikipedia-Nutzung wieder abzugewöhnen. Das hat nur nicht immer Erfolg. Und bei Themen, die nicht das Recht betreffen, sondern Nachbarwissenschaften oder erweitertes Allgemeinwissen, ist die Versuchung natürlich groß: Schnell verfügbare, kostenlose und halbwegs qualitätsgesicherte Information in digital weiterverarbeitbarem Zustand anstatt zeitraubender Bibliotheksrecherche auf fachlich unbekanntem Gebiet – da braucht es schon ein wenig Standfestigkeit, um die Wikipedia komplett links liegen zu lassen. Hinzukommt, dass heute die – im Einzelnen teils an derselben Hochschule widersprüchlichen – Vorgaben zur Anfertigung der juristischen Arbeiten den Gebrauch von Online-Lexika nicht mehr pauschal verbieten, sondern in bestimmten Zusammenhängen sogar erlauben oder geradezu empfehlen.Was soll man als Student also tun (oder lassen)?
Belastbare Regeln, wie mit der Wikipedia in juristischen Hausarbeiten umzugehen ist, versprechen Gerichtsurteile. Die gibt es aber kaum, weil Gerichte über die Zulässigkeit der Nutzung der Wikipedia nur in seltenen prüfungsrechtlichen Streitigkeiten urteilen müssen. Ein solches Urteil hat schon vor zwei Jahren das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig-Holstein gesprochen, welches aber erst auf gezielte Anfrage hin vor wenigen Monaten veröffentlicht worden ist (Urt. v. 28.6.2016, Az. 7 A 230/14). Geklagt hatte ein ehemaliger Doktorand, dem seine Universität den juristischen Doktorgrad täuschungshalber wieder aberkannt hatte. Das Spannende an dem Fall: Seine erkennbar schnell heruntergeschriebene Arbeit bestand unter anderem aus Wikipedia-Auszügen. Das Urteil ist interessant, auch weil das Gericht die Beanstandungen der Universität an der betreffenden Doktorarbeit Stück für Stück betrachtet. Diese mühsame, geradezu philologische Vorgehensweise versuchen die Verwaltungsgerichte in der Regel zugunsten eines eher summarischen Herangehens zu vermeiden. Hier war der damit verbundene Aufwand aber noch halbwegs übersichtlich, weil die Dissertation ziemlich kurz ausgefallen war. Die Erwägungen des Gerichts dürften sinngemäß auf Seminarbeiten, Schwerpunktbereichsabschlußarbeiten, Bachelor- und Master-Theses übertragbar sein.Geht gar nicht I – die Übernahme ohne Beleg
Vielleicht war es nur ein Versehen, vielleicht glaubte der Verfasser, das allgemein Bekannte nicht belegen zu müssen. So oder so, die Universität sah es als Plagiat an und das VG teilt diese Auffassung (Rn. 36): Darüber hinaus hat der Kläger […] die Definitionen der Begriffe "IPTV" (Internet Protocol Television) und "Web-TV" den entsprechenden Artikeln der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" ohne Angabe der Quelle entnommen. Es handelt sich bei diesen Übernahmen nicht lediglich um Allgemeinwissen im Sinne von Grundwissen (vgl. hierzu Ziff. 13 VDStRL-Leitsätze). Jedenfalls aber hätte die nahezu wortwörtliche Übernahme des fremden Textes also [sic] solche gekennzeichnet werden müssen […].Geht gar nicht II – das Bauernopfer
Wer beim Abschreiben den Mut zum vollständigen Verschweigen der Quelle nicht aufbringt, versucht es gern mit dem sogenannten Bauernopfer. Dabei wird ein wörtliches Zitat als bloß sinngemäßes ausgegeben. Die Quelle der Information ist also benannt, aber der Verfasser der Arbeit beansprucht, in Eigenleistung gekürzt, umformuliert oder anders fokussiert zu haben. Auch diese Technik haben sowohl die Universität als auch das VG im Umgang mit dem Online-Lexikon für unzulässig erachtet und als Täuschung des Prüfers qualifiziert (Rn. 43): Gleiches gilt für die Übernahmen […] aus dem Artikel "Fußball-Bundesliga" der Online-Enzyklopädie "Wikipedia". Weder aus dem Text noch aus den Verweisen in den Fußnoten […] lässt sich entnehmen, dass der Kläger die Passagen wörtlich bzw. wortlautnah übernommen hat. Der Kläger gibt hier vielmehr vor, die Informationen selbst aus den genannten Quellen zusammengestellt und mit eigenen Worten zusammengefasst zu haben. Dieser Eindruck wird insbesondere durch die in den Fußnoten […] benannten Quellen vermittelt, wobei etwa der […] Hinweis auf den Artikel aus dem "kicker" vom 10. Oktober 2006 lediglich aus der entsprechenden Fußnote 52 des "Wikipedia"-Artikels übernommen wurde. Es ist für den Leser nicht erkennbar, dass der Kläger hier lediglich Informationen aus dem "Wikipedia"-Artikel weitgehend wörtlich wiedergibt."Das war doch alles nur im deskriptiven Teil"
Eine besonders unter plagiierenden Medizinern beliebte Verteidigung besteht darin, auf die Stellen mit den Textidentitäten im Einführungsabschnitt der Arbeit zu verweisen und dann auf eine geltungserhaltende Reduktion der Dissertation zu hoffen. Dieses Argument hatte der vor dem VG klagende Jurist ebenfalls übernommen, damit aber keinen Erfolg gehabt. Das Gericht verwies (Rn. 32) auf die: […] Verpflichtung des Doktoranden, sämtliche von ihm verwendeten Fremdtexte durch Zitate auszuweisen und zweifelsfrei kenntlich zu machen, welche Stellen seiner Arbeit im Wortlaut oder nach ihrem wesentlichen Inhalt anderen Werken entnommen sind […]. Ein Zitat darf danach beim Leser keine Fehlvorstellungen darüber hervorrufen, welchen Textumfang in der vorgelegten Arbeit es "abdeckt" […]. Entlehnungen aus fremden Texten müssen auch dann hinreichend kenntlich gemacht werden, wenn es sich um Textpassagen handelt, in denen keine eigene Lösung oder Wertung, sondern lediglich vorhandenes fremdes Wissen dargestellt wird. […] Auch sind an einen einführenden "allgemeinen Teil" keine minderen Ansprüche an die Wissenschaftlichkeit einer Dissertation zu stellen. Denn eine Dissertation, die den Leser ausführlich in die Problematik einführt, hat weitaus bessere Chancen, im Wissenschaftsbetrieb und der Fachöffentlichkeit wahrgenommen und rezipiert zu werden, als eine solche, deren Gegenstand sich der Leser praktisch erst selbst erarbeiten muss […]. Die Bedeutung dieser Ausführungen ist nicht zu unterschätzen, denn auch die anspruchsvollsten juristischen Texte enthalten praktisch immer deskriptive Abschnitte. Die Beschreibung eines tatsächlichen Problems und der bisher dazu vertretenen Rechtsansichten entbinden den Verfasser nicht von der Pflicht, korrekt zu zitieren – und wenn es auch "nur" aus der Wikipedia ist. Zwar wird man sie für juristische Probleme kaum jemals brauchen; aber beim eingangs erwähnten Allgemeinwissen – man denke nur an historische Begebenheiten oder Persönlichkeiten – dürfte die Verwendung der Wikipedia fast immer unbedenklich sein. Schließlich gilt der Rückgriff auf Lexika und Enzyklopädien in derlei Fällen schon lange als legitim. Daran hat das kollaborative Modell der Wikipedia letztendlich nichts geändert. Wer noch den einen oder anderen Hausarbeits-Schein erlangen muss und Zeit hat, sollte einmal das vollständige Urteil lesen. Es enthält etliche Argumente, die von Verfassern plagiierter Arbeiten immer wieder vorgebracht werden, die aber vor Prüfungsausschüssen und Verwaltungsgerichten regelmäßig keinen Bestand haben – und die man sich damit sparen kann, nicht nur im Umgang mit Zitaten aus der Wikipedia. Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2018 M09 18
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