Stereotype in juristischen Ausbildungsfällen

Rechts­an­walt R, Ehe­frau E und die Geliebte G

von Manuel LeidingerLesedauer: 5 Minuten
Ausbildungsfälle dienen der Vorbereitung auf die Examina. Dass Frauen darin bestenfalls Statistinnen sind und Straftäter Migrantennamen tragen, nehmen viele Studierende, Referendare und Lehrende kaum wahr. Drei Juristinnen wollen das ändern.

"Der E genügt das Haushaltsgeld, welches sie von B erhält, nicht mehr. Um weiterhin mit ihren Freundinnen die ausladenden Sektfrühstücke im Hotel Adlon genießen zu können, nimmt sie bei der S-Bank einen "Hausfrauenkredit" in Höhe von 20.000 Euro auf." Auszug aus einem Fall zur Vorbereitung auf das Erste Juristische Staatsexamen. Fälle, die Rollenklischees bedienen, sind wohl vielen während der juristischen Ausbildung einmal untergekommen. Drei Juristinnen gehen nun öffentlich gegen den diskriminierenden Sprachgebrauch vor. Selma Gather, Lucy Chebout und Dana-Sophia Valentiner sind die Gründerinnen des tumblr-Blogs "Üble Nachlese". Der Blog soll Beispiele für Diskriminierung in der juristischen Ausbildung sichtbar machen und Studierende sowie Lehrpersonal in der Rechtsdidaktik sensibilisieren. Einiges haben die Bloggerinnen selbst beobachtet. Daneben veröffentlichen sie Einsendungen von Leserinnen und Lesern ihres Blogs. Die Namen der Personen, von denen die diskriminierenden Äußerungen stammen, werden dabei nicht genannt. "Wir wollen Leuten, die sagen, sie sähen das Problem nicht, den Wind aus den Segeln nehmen", erklärt Selma Gather. Davon gibt es in der Rechtwissenschaft nicht wenige.

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Studie: Frauen sind Freundin, Ehefrau oder Geliebte

Bisher ist das Thema Stereotype in juristischen Ausbildungsmaterialien in der Rechtswissenschaft kaum behandelt worden. Andere Wissenschaftsdisziplinen nehmen die fachdidaktische Forschung zur Verwendung von Stereotypen deutlich stärker in den Fokus. Valentiner hat kürzlich eine Studie über Rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen herausgebracht. Dazu hat die Doktorandin an der Universität Hamburg 87 Übungsfälle aus den Examensklausurenkursen der Bucerius Law School und der Universität Hamburg ausgewertet. Die Fälle wurden auf fünf Hypothesen untersucht, darunter die Frage, ob die Namen und Berufe der Fallpersonen (Geschlechter-)Rollenstereotype bedienen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der untersuchten Fallpersonen männlich, dagegen nur 18 Prozent weiblich seien. Frauen werden in den untersuchten Fällen außerdem deutlich seltener berufstätig dargestellt als Männer. Während 62 Prozent der männlichen Fallpersonen einen Beruf ausüben, sind es bei den Frauen laut Studie nur 39 Prozent. In vielen Fällen werden die Frauen lediglich über die Beziehung zu einem Mann als Freundin oder Ehefrau charakterisiert. Außerdem falle das Spektrum der Berufe unter den männlichen Fallpersonen deutlich diverser aus. In fast jeder Berufsgruppe – ob juristische, medizinische, handwerkliche oder selbstständige Tätigkeiten – seien die Frauen entweder in der Unterzahl oder gar nicht repräsentiert. Die Namen der weiblichen Fallpersonen werden laut der Untersuchung häufiger mit einem Beziehungsattribut versehen, während die männlichen Fallpersonen eher nach ihrer Berufsbezeichnung benannt werden. Ehefrau Elvira E oder Rechtsanwalt Robert R sind gängige Beispiele. Einen negativen Beigeschmack habe außerdem, dass teilweise Straftäter in den ausgewerteten Fällen Namen trugen, die auf einen Migrationshintergrund hindeuteten.

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2/2: Valentiner: "Keine kritische Auseinandersetzung mit dem Erlernten"

"Unser Ausgangspunkt war Sexismus", erklärt Lucy Chebout. "Selbstverständlich wollen wir aber auch auf andere Formen der Diskriminierung aufmerksam machen. Es geht genauso um Rassismus, Heteronormativität, ableistische Perspektiven und vieles mehr." Den Blog betreiben Gather, Chebout und Valentiner seit Januar 2017, inzwischen führen sie ihn im Rahmen des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes weiter. Viele Lehrende an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten wenden ein, der lustige Name einer Fallperson, der das ein oder andere Stereotyp bestätigt, sei für die Studierenden eine gute Merkhilfe, um die juristischen Probleme des Falles zu verinnerlichen. Andere geben zu bedenken, die Ausbildungsfälle basierten meistens auf Gerichtsurteilen. Sie bildeten die Realität ab. Für die meisten Studierenden und Referendare steht die Vorbereitung auf die Staatsexamina im Vordergrund. Bei dem starken Konkurrenzdenken und dem enormen Leistungsdruck, die das Studium der Rechtwissenschaften prägen, bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erlernten auf der Strecke. "Die juristische Ausbildung konzentriert sich hauptsächlich auf die Vermittlung von Sachwissen. Die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, die - wie zum Beispiel die Legal Gender Studies - für Gender- und Diversity-Aspekte in der Rechtswissenschaft sensibilisieren, tritt dahinter zurück", sagt Valentiner. Dabei müssen angehende Juristinnen und Juristen ihrer Ansicht nach lernen, Stereotype, die in Ausbildungsmaterialien transportiert werden, kritisch zu hinterfragen. In ihren verantwortungsvollen beruflichen Tätigkeiten als Rechtsanwender und Rechtsgestalterinnen könnten Vorurteile, die in den Ausbildungsfällen vermittelt wurden, die eigene Rechtspraxis sonst negativ beeinflussen, so die Doktorandin. 

"Man lernt nicht nur fürs Examen, sondern auch fürs Leben"

Die Reaktionen auf den Blog und die Studie sind vielfältig. Im April 2017 gaben Gather, Chebout und Valentiner der feministischen Zeitschrift Missy Magazine ein Interview über Sexismus und Rassismus in der juristischen Ausbildung. Das Interview wurde von der Seite iurastudent.de auf Facebook geteilt und löste eine rege Diskussion aus. "Kritik an diskriminierenden Sachverhalten finde ich lächerlich. Ich möchte bitte den Stoff gut behalten und die Klausuren lösen. Über Rassismus o. ä. kann man in sozialwissenschaftlichen Fächern diskutieren", so der Kommentar einer Facebooknutzerin. "Der Glaube, die juristische Ausbildung sei eine komplett unpolitische, ist ein großer Irrtum", hielten dem andere Stimmen entgegen. "Man lernt nicht nur fürs Examen, sondern auch fürs Leben." Ein weiterer Facebooknutzer gab zu Bedenken, die Beteiligten in den Fällen seien doch ohnehin schon auf Buchstaben reduziert, sodass die rein rechtlichen Probleme im Vordergrund stünden. Auch dies sieht Valentiner kritisch: „ Im Jurastudium wird eine Illusion der Objektivität und Neutralität des Rechts erzeugt. Später hat man es aber mit echten Menschen und echten Geschichten zu tun“ sagt sie. Von der Uni Hamburg und von der Bucerius Law School hat sie bei der Durchführung der Studie viel Unterstützung erfahren, sagt Valentiner. Die BLS sei sogar von sich aus auf die Doktorandin zugekommen, um ihr Fälle für die Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. In den Gleichstellungsplänen beider Universitäten findet die Studie Erwähnung.

Wie Lehrende es besser machen können

Was sollten Lehrende denn nun eigentlich bei ihrer Fallgestaltungspraxis beachten? Valentiner schlägt drei Handlungsstrategien vor: Stereotype Personendetails in den Fällen könnten aufgespürt und entfernt werden (Neutralisierung). Eine weitere Möglichkeit wäre es, sie bewusst aufzubrechen und umzukehren (Gender Trouble). Schließlich könnten bewusst vielfältige Identitäten und Lebensentwürfe dargestellt werden (Diversität). Valentiner räumt ein: "Die Handlungsstrategien lassen sich nicht widerspruchsfrei zusammendenken. Jede Strategie bringt ihre eigenen Vor- und Nachteile mit sich. In erster Linie ist es unser Ziel, dass Lehrende in Zukunft bei der Erstellung eines Falles über ihre Fallgestaltungspraxis reflektieren." Um möglichst viele Dozenten mit ihrer Initiative zu erreichen, haben Gather, Chebout und Valentiner viele Ideen: unter anderem Workshops und Schulungsangebote, einen Katalog mit Reflexionsfragen oder Lehrevaluationsbögen, die Gender- und Diversitätsaspekte berücksichtigen. Die Meinungen zu den Initiativen der drei Bloggerinnen werden wohl auch weiterhin auseinandergehen. Dass die Debatte um gender- und diversitätssensible Fallgestaltungen dennoch wichtig ist, fasst Dr. Anna Katharina Mangold, Privatdozentin für Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt, auf Facebook treffend zusammen: "Die Beiträge unter diesem Post belegen die dringende Notwendigkeit der Debatte."

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