Warum Jurastudenten es kennen sollten
Der Sachverhalt des Falls, zu dem der Bundesgerichtshof (BGH) am vergangenen Freitag sein Urteil verkündete, ist denkbar übersichtlich, wenn auch nicht in allen Einzelheiten typisch.
Kläger ist ein Autohaus, das einen teuren Camping-Van niemals wieder sah, nachdem es diesen einem vermeintlichen Interessenten zwecks Probefahrt überlassen hatte. Der angebliche Käufer hatte professionell gefälschte Identitätspapiere vorgelegt, sodass die Probefahrt zwar kurz, aber unbegleitet stattfand - und er sich mit dem Wagen daraufhin aus dem Staub machen konnte.
Wenig später verkaufte er den Wagen nahe dem Marktpreis an die beklagte Familie, die er durch ebenfalls hochwertig gefälschte Fahrzeugpapiere über seine Eigentümerstellung täuschte. Das Autohaus verlangt von der Familie nun Herausgabe des Wagens.
Für den Jurastudenten, der die Rechtsprechung regelmäßig auf Prüfungsrelevanz abklopft, mag der Fall auf den ersten Blick recht harmlos erscheinen. Er bietet für Klausuren vom Grundstudium bis zum Examen aber sehr viel mehr. Exerzieren wir ihn einmal durch.
Gutgläubigkeit trotz Bargeschäfts in Höhe von 50.000 Euro
Der Anspruch des Autohauses auf Herausgabe ergibt sich aus § 985 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Er besteht aber nur, wenn das Autohaus noch Eigentum am Fahrzeug hat. Ob stattdessen die Familie Eigentümerin des Wagens geworden ist, hängt davon ab, ob gutgläubiger Erwerb möglich war. Da § 932 BGB an § 929 BGB anknüpft, ist zuerst festzustellen, dass Einigung und Übergabe stattgefunden haben. War aber der Veräußerer nicht Eigentümer, geht das Eigentum nur über, wenn der Erwerber gutgläubig war.
Die Gutgläubigkeit - genauer: die Nicht-Bösgläubigkeit - haben das Landgericht und das Oberlandesgericht (OLG) in diesem Fall angenommen - obwohl es sich um ein Bargeschäft in Höhe von rund 50.000 Euro gehandelt hat, die Parteien sich am Hauptbahnhof der nächsten Stadt verabredet hatten und obwohl der Verkäufer im schriftlichen Vertrag mit seltsamer Begründung eine niedrigere Summe stehen haben wollte. Der Familie als Erwerber sei keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, so die Vorinstanzen. Letztlich ausschlaggebend für diese Einschätzung dürfte gewesen sein, dass das Fahrzeug zu einem unverdächtigen Preis von etwa 90 Prozent des aktuellen Werts verkauft wurde.
Die Zeichen stehen also gut für den gutgläubigen Erwerb.
Zur Kontrolle: eine kleine Gerechtigkeitsüberlegung
Bei Fragen des gutgläubigen Eigentumserwerbs kollidieren immer zwei gesetzliche Prinzipien: Der Eigentumsschutz einerseits und der Vertrauensschutz andererseits. Auf ersteren beruft sich der "alte" Eigentümer, der nicht aus seinem Eigentum verdrängt und auf unsichere Schadensersatzansprüche gegen ungreifbare Dritte verwiesen sein will. Letzteren führt der Erwerber ins Feld, der sich auf die leichtere Verkehrsfähigkeit beweglicher Sachen in einer modernen Wirtschaft beruft. Anknüpfungspunkt für den guten Glauben ist sinnvollerweise der Besitz (denn ein Register gibt es mit dem Grundbuch nur für Grundstücke).
In § 932 BGB hat der Gesetzgeber diesen Konflikt weitgehend zugunsten des Erwerbers entschieden, allerdings mit einer wichtigen Ausnahme in § 935 BGB: Gestohlene oder sonstwie abhandengekommene Sachen können nicht gutgläubig erworben werden. Für das Abhandenkommen, so viel ist sicher, kommt es darauf an, ob der "alte" Eigentümer seinen Besitz an der Sache freiwillig verliert.
Damit ist – auf den ersten Blick - eine stimmige Entscheidung im Ausgangssachverhalt möglich. Das Autohaus hat die unmittelbare Sachherrschaft (§ 854 I BGB) am Wagen freiwillig probefahrthalber auf den Kaufinteressenten übertragen. Wo es seinen Glauben gelassen hat, da muss es ihn suchen; oder moderner formuliert: Das Verlustrisiko liegt beim Autohaus. Oder noch kürzer gefasst: selbst schuld.
Auch wenn es auf Verschuldensfragen beim Eigentümer nach dem Gesetz nicht ankommt, ist das ein ganz vernünftiges Ergebnis: So hat es der Eigentümer selbst in der Hand, wem er sein Eigentum anvertraut. Gibt er das Auto einem ihm Unbekannten zur Probefahrt, liegt es in seinem eigenen Interesse, sich von dessen Identität zu überzeugen (oder das Auto technisch gegen Diebstahl zu sichern oder einen Mitarbeiter auf den Beifahrersitz zu setzen). Möglichkeiten gäbe es jedenfalls.
OLG: Der Kaufinteressent als Besitzdiener
Der Rechtsstandpunkt des Autohauses ist also nur sinnvoll vertretbar, wenn es seinen Besitz gar nicht verloren hatte. Das zu begründen wiederum ist mit ein wenig juristischer Kreativität möglich. War nämlich der Kaufinteressent nur Besitzdiener (§ 855 BGB) des Noch-Eigentümers, blieb das Autohaus Besitzer. Und ohne freiwilligen Besitzverlust kein gutgläubiger Erwerb. Aus die Maus. So argumentierte das Autohaus und so hat das OLG Frankfurt in der Vorinstanz entschieden: Die Probefahrt begründe eine Besitzdienerschaft.
Das ist eines dieser Urteile, bei deren Lektüre trotz ausführlicher und sorgfältiger Begründung eine leichte Irritation zurückbleibt. Irgendetwas kann da doch nicht stimmen. Mit dem Begriff des Besitzdieners - dem ein wenig der sprachliche Staub des 19. Jahrhunderts anhaftet - verbindet man wegen der erforderlichen Weisungsgebundenheit des Besitzdieners Fallgruppen wie Arbeitnehmer oder Angehörige. Nach der Argumentation des OLG ist aber auch der Autokaufinteressent in gleicher Weise weisungsgebunden, zumal wenn es sich um eine nur einstündige Probefahrt handele, während derer er telefonisch für das Autohaus erreichbar sei.
BGH: Probefahrt als Besitzmittlungsverhältnis
Der BGH hat in seinem am Freitag verkündeten Urteil nun den gegenteiligen Standpunkt eingenommen. Die Probefahrt begründet danach nicht eine Besitzdienerschaft, sondern ein Besitzmittlungsverhältnis (§ 868 BGB). Für eine Besitzdienerstellung ist nach dem Standpunkt des BGH nämlich ein Rechtsverhältnis erforderlich, das nicht nur einen Bezug zum Fahrzeug hat. Die mit der Probefahrt beabsichtigte Vertragsanbahnung beziehe sich aber nur auf das Fahrzeug und begründe keine darüber hinausgehende soziale Abhängigkeit.
Damit ist die oben skizzierte Risikozuweisung wieder hergestellt. Weil der Probefahrt eine Art Leihvertrag zugrundeliegt, hat der Kaufinteressent zwar etliche Pflichten hinsichtlich des Fahrzeugs, ist aber nicht wie ein Arbeitnehmer des Autohauses weisungsunterworfen. Sachenrechtlich gesehen muss also das Autohaus das Verlustrisiko tragen.
Die Begründung des BGH wird man abwarten müssen, aber das Ergebnis passt: Regelmäßig wird das Autohaus leichter die Möglichkeit haben, Vorkehrungen gegen den Verlust des Fahrzeugs zu treffen, während der Erwerber - sofern er gutgläubig ist - Schutz verdient. Und auch der Normwortlaut des § 855 BGB, der von "Haushalt oder Erwerbsgeschäft oder einem ähnlichen Verhältnis" spricht, lässt die Besitzdienerstellung nicht so recht naheliegend erscheinen.
Die wichtigste Frage von allen: Ist das prüfungsrelevant?
Muss man aus studentischer Perspektive nun damit rechnen, einer solchen Sachverhaltsgestaltung in einer Prüfung zu begegnen? Ja.
Der Sachverhalt bietet Stoff für die Sachenrechtsklausur im dritten Semester bis hin zum (mündlichen wie schriftlichen) Examen: Er lässt sich leicht auf ein paar Zeilen Text eindampfen, benötigt nur drei Beteiligte und das Rechtsproblem darf als Standardwissen gelten. Den Gutglaubenserwerb muss man kennen, bei beweglichen Sachen allemal.
Bedenken könnten anständige Prüfer bisher gehabt haben, weil der Gedanke an den Besitzdiener nicht so richtig naheliegt, sodass die Geprüften das Problem vielleicht gar nicht ausgeschöpft hätten. Darüber kommt man in einer mündlichen Prüfung aber leicht durch einen Hinweis hinweg. Und sobald die Entscheidungsgründe des BGH vorliegen, passt es wohl auch für eine Examensklausur.
Es dürfte sich also lohnen, das Urteil auf dem Schirm zu behalten, und sei es auch nur, um die Figur des Besitzdieners ein wenig auszukonturieren. Wenn man genauer hinsieht, stellen sich nämlich noch einige Anschlussfragen: Wie steht es etwa mit dem Besitzdienerwillen? Ist der überhaupt erforderlich? Streitig sind übrigens auch die Folgen der Besitzdienerschaft beim Abhandenkommen der Sache.
Kurzum: Prüfungsrelevanz (+).
Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht und Bürgerliches Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences und prüft regelmäßig im Examen.
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2020 M09 22
Staatsexamen
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