Das Grundgesetz hat seinen 73. Geburtstag gefeiert. In der Ukraine wurde in einem ersten Kriegsverbrecherprozess ein russischer Soldat verurteilt. Am morgigen Mittwoch verhandelt der bayerische Verwaltungsgerichtshof über den Kreuz-Erlass.
Thema des Tages
Grundgesetz: Gestern vor 73 Jahren wurde das Grundgesetz verkündet. Annelie Kaufmann (LTO) meint, zum Grundgesetz passe "kein Feiertag, keine Eiscreme, kein Feuerwerk". Der Verfassungstext sei als Provisorium nach den Nazi-Verbrechen "von Anfang an mit ambivalenten Gefühlen gelesen" worden. Spätere Änderungen hätten die Verfassung nicht immer besser gemacht. Gleichwohl gelinge es mit dem Grundgesetz, eine demokratische rechtsstaatliche Gesellschaft zu sichern. Dazu brauche es "keinen irgendwie gearteten Verfassungpatriotismus", sondern eine klare Sprache, ein bisschen kritische Distanz zum Text und eine klare Haltung.
Im Gespräch mit LTO (Hasso Suliak) meint Rechtsprofessor Alexander Thiele, das Grundgesetz sei aktuellen Herausforderungen unserer Zeit gut gewachsen. Im Zweifel fehle es am politischen Willen, nicht aber an einer Verfassungsregelung. Zugleich nehme jedoch das Bundesverfassungsgericht oftmals dem politischen Raum zu viel Luft zum Atmen. So laute für ihn die Devise zum Geburtstag: Mehr Politik wagen.
Ukraine-Krieg und Recht
Ukraine – russische Kriegsverbrechen: Im ersten ukrainischen Kriegsverbrecherprozess ist ein 21 Jahre alter russischer Soldat wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte gestanden, einen unbewaffneten 62-jährigen Zivilisten erschossen zu haben. Der Anwalt des Verurteilten hat angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Indessen bereitet die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine Anklagen gegen 45 namentlich identifizierte russische Soldaten vor. Es berichten FAZ (Gerhard Gnauck), taz (Dominic Johnson) und LTO.
Reinhard Müller (FAZ) meint, das Strafverfahren zeige den Willen der Ukraine zu einer rechtsstaatlichen Aufklärung. Wer Freiheit und Menschenrechte verteidige und sich gegen Rache und Vergeltung wende, hebe sich umso mehr von Putins Zivilisationsbruch ab. Nun gehe es auch darum, bei der Aufklärung nicht bei den Befehlsempfängern stehen zu bleiben. Barbara Oertel (taz) äußert die Hoffnung, dass das Urteil auch in der russischen Öffentlichkeit etwas in Bewegung bringt. Bei dem Verfahren der Ukraine handele es sich nicht bloß um ein billiges Manöver.
Rechtspolitik
Chatkontrolle: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat in Bezug auf die von der EU-Kommission vorgestellten Pläne für eine sogenannte Chatkontrolle eine Kehrtwende vollzogen. Dort müsse der Rechtsstaatsgedanke so verankert werden, dass geschützte private Kommunikation auch geschützt bleibe. Eine anlasslose Kontrolle jeder privaten Nachricht lehne sie ab. In einer ersten Reaktion hatte Faeser sich zustimmend zu den Brüsseler Plänen geäußert. Es berichten spiegel.de und LTO.
Schwarzfahren: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer schreibt bei LTO über die Diskussion über die Strafbarkeit des Schwarzfahrens, bislang enthalten in § 265a Strafgesetzbuch. Nach seiner Ansicht fehlt es in der Vorschrift an einer abgrenzbaren Tathandlung. Das Unrecht des bloßen Schwarzfahrens ohne Zugangserschleichung rechtfertige weder eine Verfolgung als Straftat noch als Ordnungswidrigkeit. Dagegen erschöpfe sich die gegenwärtige Kritik an der Vorschrift in "Sozialromantik".
Parteinahe Stiftungen: Der Bund der Steuerzahler fordert für die Arbeit parteinaher politischer Stiftungen eine explizite gesetzliche Grundlage nach dem Vorbild des Parteiengesetzes. Er kritisiert eine faktisch enge Verflechtung mit den Parteien und eine sehr üppige finanzielle Ausstattung der Stiftungen. Die gegenwärtige Praxis sei eine "undurchsichtige Konstruktion". Demgegenüber halten die Stiftungen selbst ihre Arbeit für rechtlich abgesichert. Die Grundsätze der Stiftungsfinanzierung seien mehrfach vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet worden. Es berichtet die SZ (Henrike Roßbach/Robert Roßmann).
Bundeswehr-Sondervermögen: Rechtsprofessor Matthias Knauff stellt auf FAZ-Einspruch den Stand der Umsetzung der von Bundeskanzler Scholz (SPD) angekündigten sicherheitspolitischen "Zeitenwende" dar. Die entsprechenden Gesetzentwürfe für die Ergänzung von Art. 87a Grundgesetz sowie ein "Bundeswehrsondervermögensgesetz" stocken; die zweite Lesung im Bundestag wurde verschoben. In der derzeitigen Entwurfsfassung dürfte das Sondervermögen nur für die "Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit" verwendet werden, nicht für andere Zwecke wie die Entwicklungs- oder Wirtschaftshilfe. Politisch sei aber noch immer nicht klar, für welchen Auftrag die Bundeswehr letztlich zu befähigen sei.
Umwandlung im Gesellschaftsrecht: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plant laut Hbl (Alexander Pradka) die Umsetzung der EU-Umwandlungsrichtlinie. Vorgesehen ist in einem aktuellen Referentenentwurf ein rechtssicheres und europaweit kompatibles Verfahren für grenzüberschreitende Verschmelzungen, Spaltungen und Formwechsel von Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien und Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Zudem sollen auch innerstaatlich die Rechte der Minderheitsgesellschafter:innen bei Umwandlungen vereinheitlicht werden.
Virtuelle Hauptversammlungen: Alexander Pradka (Hbl) kritisiert den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur virtuellen Hauptversammlung. So ließen die hohen Hürden für Unternehmen vermuten, dass der Gesetzgeber nicht vollends hinter dem Konzept stehe. Es drohe eine vertane Chance. Stattdessen solle der Gesetzgeber Effizienz und Fokussierung auf das Wesentliche etablieren.
Justiz
VGH Bayern – Kreuz-Erlass: Am morgigen Mittwoch verhandelt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof über § 28 der Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaats Bayern. Dieser sieht seit 2018 vor, dass im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes gut sichtbar ein Kruzifix anzubringen ist. Das Gericht wird entscheiden müssen, ob die Vorschrift mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zu vereinbaren ist. Es berichtet LTO.
BGH zu Sektenmord: Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung der Anführerin einer religiösen Gemeinschaft wegen Mordes an einem vier Jahre alten Jungen im Jahr 1988 aufgehoben. Der Junge war auf Anweisung der Sektenchefin von seiner Mutter in einen Sack gesteckt worden und dort an seinem Erbrochenen erstickt. Das Landgericht Hanau habe unter anderem den Tötungsvorsatz nicht ausreichend beleuchtet. Entscheiden muss nun das Landgericht Frankfurt, wie die FAZ (Jan Schiefenhövel) berichtet.
BAG zu Massenentlassungen: Nun berichtet auch beck-community (Markus Stoffels) über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von voriger Woche zu Massenentlassungen. Das BAG hat klargestellt, dass eine Kündigung nicht unwirksam ist, weil der Arbeitgeber die Soll-Angaben des § 17 Abs. 3 S. 5 Kündigungsschutzgesetz nicht zum Bestandteil seiner Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit gemacht hat.
VG Berlin zu Dönerspießen: Einer Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts zufolge darf das Bezirksamt einer Herstellerin von Dönerspießen untersagen, diese als Lebensmittel zu verkaufen, wenn die Herkunft der Dönerspieße zweifelhaft erscheint. An einem Nebenstandort des Unternehmens aufgefundene Dönerspieße hätten sich nicht zum angeblichen Ort der Produktion zurückverfolgen lassen. Dies verstoße gegen europäisches Lebensmittelrecht, so das Gericht laut LTO.
LG Hamburg zu Tod in Fahrradkeller: Das Landgericht Hamburg hat einen 24-Jährigen wegen versuchten Mordes durch Unterlassen sowie wegen Überlassen von Betäubungsmitteln mit Todesfolge zu neun Jahren Haft verurteilt. Der Mann hatte einer 20-jährigen Frau Drogen gegeben, mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt und sie in einen Fahrradkeller geschleift, nachdem sie bewusstlos geworden war. Dort war die Frau erstickt. Es berichtet spiegel.de.
LG Neuruppin – KZ-Wachmann Sachsenhausen: Die Welt (Frederik Schindler) schreibt über den nun vor dem Landgericht Neuruppin zu Ende gehenden Prozess gegen den 101-jährigen Josef Sch., einen früheren Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Sch. behauptet bislang, Sachsenhausen nicht zu kennen und unschuldig zu sein. Zahlreiche historische Dokumente belegen jedoch die Tätigkeit von Sch. Während seiner Dienstzeit starben mindestens 566 Häftlinge an Hunger, Kälte, Krankheiten und Nötigung zur Zwangsarbeit. Das Urteil soll Anfang Juni ergehen.
StA Kiel – Kasernen-Einbrüche: Die Staatsanwaltschaft Kiel hat zwei Soldaten festnehmen lassen, die im Verdacht stehen, als Teil einer Bande Einbruchdiebstähle in Kasernen begangen zu haben. Unmittelbar vor dem Zugriff hatten die Männer offenbar vergeblich versucht, in den Marinestützpunkt in Eckernförde einzudringen. Es berichtet spiegel.de (Matthias Gebauer/Ansgar Siemens).
Recht in der Welt
USA – Zuckerberg und Cambridge Analytica: Der Generalstaatsanwalt des US-Distrikts Washington, D.C., verklagt Mark Zuckerberg. Er hält den Facebook/Meta-Chef für direkt verantwortlich für Entscheidungen, die es der Datenanalysefirma Cambridge Analytica ermöglicht haben, unbefugt Daten von Millionen von Nutzer:innen zu sammeln. Es berichtet spiegel.de.
USA – Donald Trump: Ex-Präsident Donald Trump hat bereits 110.000 Doller Strafe bezahlt, weil er in einem Betrugs-Ermittlungsverfahren gegen seinen Immobilien-Konzern Trump Organization bestimmte Unterlagen nicht vorgelegt hat. Dies berichtet LTO.
Großbritannien – Boris Becker: spiegel.de (Marco Schulz) beantwortet Fragen im Zusammenhang mit der Verurteilung Boris Beckers vor einem britischen Gericht wegen Insolvenzstraftaten. So sei eine Berufung weiter möglich. Nach der Verbüßung der Haftstrafe drohe Becker die Abschiebung nach Deutschland.
Sonstiges
Asylrecht: Die taz (Dinah Riese) erinnert eingehend an die massive Einschränkung des deutschen Asylgrundrechts im Jahr 1993, inklusive Vorgeschichte und Folgen.
Unternehmensjuristen: Das Hbl (Alexander Pradka) stellt eine Studie zum Gehaltsniveau von in Rechtsabteilungen Beschäftigten vor. Danach verdienen die Leiter:innen von Rechtsabteilungen im Durchschnitt etwa 142.000 Euro brutto pro Jahr. Mit variablen Anteilen sind es durchschnittlich 170.000 Euro. Dabei verdienen Frauen durchschnittlich 26 Prozent weniger als Männer. Auch regional gibt es große Unterschiede. So liegt das Durchschnittsgehalt in Baden-Württemberg um etwa 50 % über demjenigen in Niedersachsen.
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LTO/jng
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Die juristische Presseschau vom 24. Mai 2022: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48541 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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