Der frühere BVerfG-Präsident nimmt Stellung zur Rechtsstaatlichkeit in Europa und dem Vertragsverletzungsverfahren wegen des PSPP-Urteils. Die Regierung will Prostituierte besser schützen und die Allianz-Arena wird nicht erleuchtet.
Thema des Tages
Andreas Voßkuhle und der EuGH: Bei einem Online-Vortrag äußerte sich der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, ausführlich zu dem von der EU-Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren wegen des von ihm mitverantworteten Urteils zum PSPP-Programm der Europäischen Zentralbank. Der Europäische Gerichtshof habe die Integration des Kontinents entscheidend vorangetrieben, so LTO (Annelie Kaufmann) über die Darlegungen Voßkuhles. In seiner Entscheidung zu – im Ergebnis gebilligten – Gehaltskürzungen portugiesischer Richter infolge einer Haushaltsnotlage vom Februar 2018 habe sich der EUGH aber selbst die Kompetenz über Entscheidungen in einem nicht harmonisierten Bereich, der richterlichen Unabhängigkeit, überantwortet. Entscheidungen zum Thema müssten aber nicht nur formelle Strukturen, sondern auch die im jeweiligen Mitgliedstaat gepflegte Rechtskultur in den Blick nehmen. Dem in die Wege geleiteten Vertragsverletzungsverfahren drohe eine "Sackgasse" ohne sinnvollen Ausgang. Als mögliche Lösung für Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten schlug der Rechtsprofessor einen Kompetenzgerichtshof vor, der in ausgewählter Konstellation und unter Beteiligung von Verfassungsrichtern und -richterinnen der Mitgliedstaaten entscheiden sollte. Im Umgang mit rechtsstaatlich bedenklich handelnden EU-Mitgliedern favorisiert Voßkuhle eine Lösung mit politischem Druck und einer gesamtgesellschaftlichen, europaweiten Diskussion.
Rechtspolitik
Prostitution: Am nächsten Freitag wird der Bundestag über ein Maßnahmenpaket der Regierung zum besseren Schutz von Prostituierten abstimmen. Die Koalitionsparteien einigten sich nach Bericht der FAZ (Kevin Hanschke) unmittelbar vor der parlamentarischen Sommerpause über Aussteigerprogramme sowie eine Verschärfung von § 232a Strafgesetzbuch (StGB). Dessen sechster Absatz bestrafe in der aktuellen Version Freier, die Dienste einer Sexarbeiterin in Anspruch nehmen, obgleich sich diese in einer offensichtlichen Zwangslage befindet. In der neuen Fassung müssten Freier künftig den Nachweis führen, dass sie von der Zwangslage nichts wussten.
Wiederaufnahme: Wolfgang Janisch (SZ) spricht sich im Leitartikel gegen die Regierungspläne aus, eine Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Beschuldigter bei schwersten Straftaten zu erleichtern. Spektakuläre Fälle verdeckten den Blick auf die Sorgfältigkeit von Ermittlungen in Mordfällen, wer allerdings "die Triebkräfte der strafwütigen Rechtspolitik der letzten Jahrzehnte verfolgt" habe, könne sich leicht ausrechnen, dass der geplante Dammbruch bald auch "Kinderschänder, Drogenbosse, Terroristen" betreffe. Bislang böten formale Regeln "im Strafprozess die beste Chance auf ein faires Verfahren".
Universitäre Kettenverträge: In der aktuell unter dem Twitter-Hashtag #ichbinHanna geführten Diskussion über die Auswirkungen von Kettenbefristungen im akademischen Mittelbau erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin Louise Sophia Kavacs auf JuWissBlog die rechtlichen Grundlagen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz und unterbreitet Lösungsvorschläge. So wäre eine Neuorganisation des Konstrukts "Mittelbau" analog zu Lösungen in den USA oder Frankreich denkbar.
ADG Ba-Wü: Die grün-schwarze Regierung Baden-Württembergs plant die Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes. Das im neuen Koalitionsvertrag vereinbarte Vorhaben solle sich ausdrücklich nicht an der vergleichbaren Berliner Regelung orientieren, so die FAZ (Rüdiger Soldt), und etwa auch Amtsträger vor Diskriminierung schützen. Eine eigene Ombudsstelle zur Klärung von Vorwürfen diskriminierenden Verhaltens sei nicht vorgesehen, stattdessen sei eine Zuständigkeit der Beauftragten für Bürgerbeschwerden, Polizei und Justiz denkbar.
Ökozid am IStGH: Eine internationale Expertengruppe hat eine Definition des Verbrechens "Ökozid" vorgeschlagen, wie sie ins Statut des Internationalen Gerichtshofs aufgenommen werden könnte. spiegel.de (Susanne Götze) berichtet.
Justiz
EuGH zu Ausweisungen von Unionsbürgern: Auf Vorlage des niederländischen Staatsrats hat sich der Europäische Gerichtshof zu Ausweisungen innerhalb der EU geäußert, die nicht auf Verstößen gegen die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit beruhen. Wer sein in der Freizügigkeits-Richtlinie verbrieftes vorläufiges Aufenthaltsrecht infolge einer Ausweisungsverfügung verliert, kann deren vollständige Vollstreckung nicht allein durch bloße physische Ausreise erreichen. Erforderlich sei vielmehr, so die Doktoranden Karoline Dolgowski und Dennis Traudt auf LTO in einer ausführlichen Darstellung der Rechtsproblematik, eine tatsächliche und wirksame Beendigung des Aufenthalts im ausweisenden Land sowie eine umfassende Würdigung des Einzelfalls.
EuGH zu YouTube-Haftung: Nach bisherigem Recht haften Plattformen wie YouTube nicht für Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer. Dies stellte der Europäische Gerichtshof nach den Berichten von LTO, tagesschau.de (Klaus Hempel) und taz (Christian Rath) in zwei verbundenen Rechtssachen auf Vorlage des Bundesgerichtshofs klar. Die Entscheidung dürfte aber nurmehr von rechtshistorischer Bedeutung sein. Am 1. August tritt die nationale Umsetzung der neuen EU-Richtlinie in Kraft, sie sieht eine Haftung ausdrücklich vor.
EuGH zu Recht auf Vergessenwerden: Wie schon die mit der Sache zuvor befassten belgischen Gerichte hat nun auch der Europäische Gerichtshof entschieden, dass der Verursacher eines tödlichen Verkehrsunfalls nach den Grundsätzen des Rechts auf Vergessenwerden einen Anspruch darauf hat, in einem Online-Artikel nicht mit vollem Namen erwähnt zu werden. Der beklagte Chefredakteur hatte sich erfolglos auf seine Meinungsfreiheit berufen, meldet die FAZ.
BGH zu nachbarlicher Schwarzkiefer: Den jüngst vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall zu einem Selbsthilferecht gegenüber überhängenden Ästen einer nachbarlichen Schwarzkiefer nimmt SWR RadioReportRecht (Michael-Matthias Nordhardt/Christoph Kehlbach) zum Anlass, die Rechtslage bei Baumbewuchs auf Nachbargrundstücken genauer in den Blick zu nehmen.
BGH – Framing: Der Bundesgerichtshof verhandelte vergangene Woche über das Framing, also das Einbinden fremder Inhalte auf der eigenen Internetseite. Im vergangenen März hatte der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des BGH entschieden, dass Framing dann eine Urheberrechtsverletzung ist, wenn hierdurch gezielt Mechanismen umgangen werden, die eben dieses sogenannte Framing verhindern sollen. Nun liegt der Fall wieder beim BGH, der am 29. Juli sein Urteil verkünden wil. netzpolitik.org (Pia Stenner) stellt die technischen Details des Rechtsstreits und dessen bisherigen Instanzengang vertieft vor.
BFH zu Aktien-Verlustrechnung: Der Bundesfinanzhof hält die derzeitige Regelung, nach der Verluste aus Aktienveräußerungen lediglich mit Gewinnen aus Aktiengeschäften verrechnet werden können, für verfassungswidrig und hat sie dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung vorgelegt. Darüber berichten vertieft nun auch die Rechtsanwälte Katrin Dorn und Tobias Möhrle im Recht und Steuern-Teil der FAZ und empfehlen Anlegern, gegen eine in Steuerbescheiden fehlende Verlustrechnung vorsorglich Einspruch einzulegen.
BAG zu DHV-Gewerkschaft: Die christliche Gewerkschaft DHV ist wegen geringer Mitgliederzahlen und der hieraus folgenden Durchsetzungsfähigkeit nicht tariffähig. Die von der Gewerkschaft erhobene Rechtsbeschwerde gegen eine entsprechende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamburg wurde nun vom Bundesarbeitsgericht verworfen, berichtet community.beck (Christian Rolfs).
VG Berlin – Einäscherungsmonopol: Eine Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin hält das staatliche Einäscherungsmonopol für verfassungswidrig und hat die Frage in einem nun bekanntgewordenen Beschluss von Mitte April dem Verfassungsgerichtshof für das Land Berlin zur Beantwortung vorgelegt. Im Ausgangsfall setzte sich eine GmbH gegen die behördliche Versagung einer Betriebserlaubnis für Errichtung und Betrieb eines Krematoriums zur Wehr, so LTO. Die Versagung wurde unter Berufung auf eine Bestimmung des Berliner Bestattungsgesetzes mit der Existenz bereits zweier Krematorien begründet. Das VG sehe hierin einen ungerechtfertigten Eingriff in die grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit.
VG Berlin zu Wirecard-U-Ausschussbericht: Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Eilantrag eines Bilanzprüfers verworfen, mit dem dieser die Veröffentlichung des Abschlussberichts des Wirecard-U-Ausschuss des Bundestages verhindern wollte, soweit er darin namentlich erwähnt wird. In seinem Beschluss verwies das Gericht laut LTO auf Art. 44 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG), nach dem Beschlüsse von U-Ausschüssen der richterlichen Erörterung entzogen sind.
LG Berlin zu Eigenbedarfskündigung: Ende Mai hat das Landgericht Berlin eine Eigenbedarfskündigung wegen der tiefen Verwurzelung der hochbetagten Mieterin in ihrem Kiez abgewiesen. Die bemerkenswerte "Vehemenz", mit der das LG die Annahme eines Härtefalls auch unter Berücksichtigung des Menschenwürdegebots verteidigt, wird in einem Gastbeitrag von Rechtsreferendarin Marie Drießnack im FAZ-Einspruch betont und gleichzeitig bedauert, dass unterlassen worden sei, rechtssichere Maßstäbe zu entwickeln. Gleichzeitig rekapituliert der Beitrag den Instanzengang der Sache, in der der Bundesgerichtshof ein alleiniges Abstellen auf das Alter der Mieterin für rechtswidrig erklärt hatte.
AG Köln zu Karl-Erivan Haub: Nach Ablauf einer Meldefrist hat das Amtsgericht Köln den 2018 in den Schweizer Alpen verschollenen früheren Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub für tot erklärt. In seinem Bericht geht das Hbl (Anja Müller/Volker Votsmeier) auch auf die zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der Familie Haubs ein. Mit der Todeserklärung trete nun der Erbfall ein. Eine Regelung hinsichtlich der Geschäftsanteile des Verstorbenen hatten die Beteiligten bereits zuvor gefunden.
AG Potsdam zu Wolfsabschuss: Über den Freispruch eines Jägers wegen der Tötung eines Wolfs durch das Amtsgericht Potsdam wird nun auch von tagesschau.de (Pia Brandsch-Böhm) berichtet.
Recht in der Welt
EuGH/Lettland – Datenschutz und Verkehrsregister: Eine lettische Regelung zu einem unbeschränkten Einsichtsrecht in das nationale Verkehrsregister verstößt gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Dies entschied nach Bericht von LTO der Europäische Gerichtshof. Die notierten Strafpunkte für Verkehrsverstöße seien personenbezogene Daten, ihre Übermittlung an Dritte eröffne den Anwendungsbereich der DSGVO. Etwaige verkehrserzieherische Aspekte der bisherigen Regelung stünden jedenfalls hinter dem Recht auf Achtung der Privatsphäre zurück.
Spanien – Katalonien-Konflikt: Wie bereits angekündigt, hat die spanische Regierung mit einem einstimmigen Kabinettsbeschluss die Begnadigung neun katalanischer Separatisten verfügt, die wegen ihrer Beteiligung am Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017 verurteilt wurden. Den Betreffenden bleibe die Ausübung politischer Ämter weiter untersagt, schreibt die FAZ (Hans-Christian Rößler).
Sonstiges
UEFA zu Neutralität und Regenbogen: Der europäische Fußballverband UEFA hat die regenbogenfarbige Beleuchtung der Münchner Allianz-Arena beim heutigen Europameisterschaftsspiel der Nationalmannschaft gegen Ungarn unter Hinweis auf ihre politische und religiöse Neutralität untersagt, berichtet u.a. die SZ (Kassian Stroh).
In einer Analyse macht die FAZ (Stephan Löwenstein) geltend, dass europäische Aufgeregtheit wie die jetzige das "Lebenselixier" der ungarischen Regierung sei. Je heftiger die Kritik des Auslands erscheine, umso eher könne sich Viktor Orban als Wahrer der "nationalen ungarischen Souveränität gegen eine Internationale der Liberalen inszenieren".
Jan Feddersen (taz) stellt die Lauterkeit des Münchner Vorhabens in Frage. Solange sich kein einziger offener schwuler Fußballspieler der hiesigen Profiligen aus Furcht vor den Folgen offenbare, sei Kritik an Ungarn "wohlfeil". Auch Reinhard Müller (FAZ) hält "das breite Eindreschen auf die UEFA" für ebenso "bigott wie billig". Wer mit dem "Gratis-Mut bayerischer Provinzpolitiker" nun die ersatzweise Beleuchtung anderer Stadien vorschlage, dem gehe es "vor allem um die eigene Beleuchtung".
Das Letzte zum Schluss
Falscher Alarm: Eine besondere Art von Anglerlatein hielt Bonner Ermittler:innen in der vergangenen Woche in Atem. spiegel.de berichtet, dass nach der Meldung eines Spaziergängers am Rhein, er habe mehrere Männer beim Verpacken eines leblosen Körpers beobachtet, die Polizei der alten Hauptstadt zu einem Großeinsatz mit Hubschraubern und Tauchern veranlasste. Erst nach einem polizeilichen Aufruf habe sich dann ein Mann gemeldet, der zur angegebenen Zeit mit Freunden Angelutensilien in Anhänger verpackte.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
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Die juristische Presseschau vom 23. Juni 2021: . In: Legal Tribune Online, 23.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45276 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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