Der BGH bestätigt die Verurteilung der früheren KZ-Sekretärin Irmgard Furchner. Die Ukraine will die russisch-orthodoxe Kirche wegen zu großer Nähe zu Russland verbieten. Die restriktive Aufnahmepraxis des Bündnis Sarah Wagenknecht ist wohl zulässig.
Thema des Tages
BGH zu KZ-Sekretärin Stutthof: Die Verurteilung der inzwischen 99-jährigen Irmgard Furchner zu einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom Dezember 2022. Die frühere Sekretärin im KZ Stutthof habe als "zuverlässige und gehorsame Untergebene" des Lagerkommandanten psychische Beihilfe zum Massenmord geleistet. Weil das KZ wie eine Behörde arbeitete, habe sie mit ihrer Tätigkeit als Schreibkraft aber auch physische Beihilfe geleistet. Ihre Sekretärinnentätigkeit sei nicht als straflose "berufstypisch neutrale Handlung mit Alltagscharakter" einzustufen, weil Furchner die im Lager verübten Tötungen kannte. Furchner könne auch keinen Vertrauensschutz aus der früheren "fehlgeleiteten Strafverfolgungspraxis" in Deutschland ableiten. SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Carlotta Roch), taz (Christian Rath), LTO, beck-aktuell (Maximilian Amos), spiegel.de (Fabian Hillebrand) und zdf.de (Daniel Heymann/Fabian Medler) berichten.
tagesschau.de (Michael Nordhardt/Frank Bräutigam) geht in Frage-und-Antwort-Form auch auf weitere Aspekte ein und schreibt u.a., dass gegenwärtig an den Landgerichten Hanau und Berlin I nach Beschwerden der Staatsanwaltschaften nochmals über die Zulassung zweier vergleichbarer Anklagen entschieden werde. Der SWR-RadioReportRecht (Gigi Deppe) macht die Entscheidung und rechtsphilosophische Fragen über die Notwendigkeit des Verfahrens und der Bestrafung einer Hochbetagten zum Inhalt seiner dieswöchigen Sendung. Die taz (Klaus Hillenbrand) schildert, warum die Justiz früher nicht gegen KZ-Mitarbeiter:innen vorging und wie sich dies in den Fällen Demjanjuk und Gröning änderte. Die taz (Gereon Asmuth) erinnert daran, dass der Kommandant des KZ Stutthof, Paul Werner Hoppe, 1955 vom Landgericht Bochum nur zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. 1957 wurde die Strafe auf neun Jahre angehoben, wobei Hoppe nur drei Jahre absitzen musste. In einem Gastbeitrag für zeit.de heben Rechtsanwalt Onur Özata und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Daria Breyer hervor, dass die Entscheidung nun endgültig die "in vielerlei Hinsicht verfehlte Rechtsprechung der deutschen Nachkriegsjustiz" beende. Es hätte dem BGH gut zu Gesicht gestanden, seine "Mitverantwortung der verschleppten sowie vereitelten juristischen Aufarbeitung explizit zu benennen."
Wolfgang Janisch (SZ) hält es für bedeutsam, dass der BGH der deutschen Gesellschaft auch Jahrzehnte nach dem Holocaust in Erinnerung gerufen hat, dass persönliche Verwantwortlichkeit auch kleine Rädchen eines mörderischen Getriebes treffe. Reinhard Müller (FAZ) hält in diesem Sinne die "einstweilen letzten Urteile gegen Greise nach Jugendstrafrecht" für eine "Mahnung zu Wachsamkeit." Klaus Hillenbrand (taz) begrüßt es im Leitartikel, dass fast achtzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus die rechtlichen Bedingungen für die Verfolgung der NS-Verbrecher:innen endlich "wünschenswert" gut sind. Leider seien die Täter:innen jetzt alle tot oder verhandlungsunfähig. Immerhin könne das Furchner-Urteil in völkerstrafrechtlichen Fällen noch praktische Bedeutung haben. Max Bauer (tagesschau.de) macht in den jahrzehntelangen Versäumnissen bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Verbrechen eine "zweite deutsche Schuld" aus. Das jetzige Urteil müsse "der Auftakt zu einer neuen Phase des Erinnerns und des Aufarbeitens" sein. Jost Müller-Neuhof (Tsp) schließlich erkennt in der jahrzehntelangen Untätigkeit "ein politisches Versäumnis, nicht allein ein juristisches. Man hätte mehr gekonnt, wenn man gewollt hätte."
Rechtspolitik
Geldstrafe: Rechtsprofessorin Charlotte Schmitt-Leonardy und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Elisabeth Faltinat fordern im FAZ-Einspruch eine "evidenzbasierte Reform des gesamten Geldstrafensystems." Der Menschenwürde und dem aus ihr folgenden Gleichheitsgrundsatz sei nicht Genüge getan, solange vermögenslose Menschen immer noch weit überproportional wegen Bagatelldelikten in Haft kommen. "Reformstückwerk" wie die jüngst beschlossene Halbierung von Ersatzfreiheitsstrafen kratzten "allenfalls an der Oberfläche" der mit ihr verbundenen Probleme.
Beamtenstatus und Anwaltschaft: "Mit Nachdruck" spricht sich die Bundesrechtsanwaltskammer in einer Stellungnahme gegen die Idee aus, Beamt:innen den Zugang zur Anwaltschaft zu ermöglichen. Eine entsprechende Petition wird von der BRAK unter Verweis auf die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung abgelehnt. Die anwaltliche Tätigkeit zeichne sich durch die Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege aus, die Beamtenschaft hingegen sei Teil der Exekutive. beck-aktuell berichtet.
Schwangerschaftsabbruch: Nun berichtet auch beck-aktuell über den Vorstoß von zehn Landesminister:innen der Grünen zur grundsätzlichen Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.
Messer: Christoph Koopmann (SZ) zeigt sich skeptisch gegenüber den aktuellen Plänen zur Bekämpfung des "Messerproblems". Das geltende Recht erlaube bereits ein an strafrechtlich Verurteilte gerichtetes Verbot zum Tragen von Waffen, wovon zuwenig Gebrauch gemacht werde. Letztlich seien die jüngsten, aufsehenerregenden Fälle von Messergewalt aber Bestandteil eines allgemeinen Anstiegs von Gewaltkriminalität. Diesem müsse mit "mühevoller Präventionsarbeit, in Elternhäusern, Schulen, Beratungsstellen" und der erforderlichen finanziellen Ausstattung begegnet werden.
Pflege: In einem Gastbeitrag für das Hbl warnt Rechtsprofessor Gregor Thüsing vor einem Kollaps des Sozialversicherungssystems. Aktuelle Vorschläge für komplette Kostenübernahmen zugunsten von Pflegebedürftigen könnten einen Wandel vom "Teilkasko-" hin zu einem "Vollkasko"-Schutz bewirken und schüfen darüber hinaus auch sinkende Anreize für die bislang noch als Regelfall vorgesehene häusliche Pflege.
Kinderrechte ins Grundgesetz: Im Feuilleton plädiert Jakob Biazza (SZ) für eine Grundgesetzänderung, wonach das Wohl der Kinder vom Staat “vorrangig zu berücksichtigen” sein soll. Zwar seien auch andere Interessen vorrangig zu berücksichtigen, weshalb der Vorschlag “insofern mindestens mal symbolpolitisch interessant bis wirkmächtig” sei. Dennoch müsste der Staat anschließend sehr viele Entscheidungen in Bildungspolitik, Sozialpolitik, Städteplanung, Umweltpolitik und Entwicklungspolitik anders treffen. Und deshalb unterbleibe wohl auch die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz.
Justiz
BVerwG zu Compact-Verbot: Der Tsp (Jost Müller-Neuhof) analysiert die nun veröffentlichten Gründe, warum das Bundesverwaltungsgericht vorige Woche in einem Eilbeschluss das Verbot des Compact-Verlags aussetzte. Zwar könne Propaganda für Konzepte, die wie die Remigrations-Pläne des Rechtsextremisten Martin Sellner die Menschenwürde verletzen, durchaus ein Vereinsverbot rechtfertigen. Es sei aber zweifelhaft, ob derartige Inhalte das Magazin prägen. Anders als das Innenministerium hält das Gericht die reißerischen Cover nicht für eine Delegitimierung des demokratischen Systems.
LVerfG Brandenburg – Verfassungstreue-Check: Auf Antrag der Landtagsfraktion der AfD wird sich das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg demnächst in einem Normenkontrollverfahren mit dem sogenannten Verfassungstreue-Check im Bundesland befassen. Nach der im April verabschiedeten Neuregelung wird bei Bewerbungen für ein Beamtenverhältnis ab dem 1. September eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz erfolgen. beck-aktuell berichtet.
OLG Frankfurt/M. - Umsturzpläne/Reuß: Am Oberlandesgericht Frankfurt/M. setzte die Angeklagte Birgit Malsack-Winkemann ihre Aussage fort. Die frühere Richterin und AfD-Bundestagsabgeordnete beschrieb dabei, dass ihre "Patriotische Union" von der Machtübernahme einer "Allianz", eines militärischen Geheimbündnisses anderer Staaten ausgegangen sei, die in einer weltweiten Aktion auftreten sollte. Erst nach einer Übergangszeit wären dann die nun angeklagten "Patrioten" zum Zuge gekommen. LTO berichtet.
OLG Köln – Postbank-Übernahme: Die SZ (Markus Zydra) erläutert, warum das Oberlandesgericht Köln den für den heutigen Mittwoch angesetzten Verkündungstermin im Entschädigungsstreit zwischen Deutscher Bank und früheren Aktionären der Postbank um zwei Monate verschoben hat. Offenbar wolle man den Parteien auch weiterhin die Möglichkeit einer vergleichsweisen Einigung offenhalten, wird die Einschätzung eines Klägeranwalts wiedergegeben.
OLG Köln zu Google-Löschungsanspruch: Anfang Juli entschied das Oberlandesgericht Köln, dass die irische Google-Tochter datenschutzrechtlich verantwortlich für die Anzeige rechtsverletzender Suchergebnisse und damit passivlegitimiert gegenüber Löschungsbegehren ist. Der am Verfahren als Klägervertreter beteiligte Rechtsanwalt Marcel Leeser stellt im Recht und Steuern-Teil der FAZ die bislang uneinheitliche Rechtsprechung zum Thema vor und prognostiziert, dass die "überzeugende" Entscheidung sich auch höchstrichterlich durchsetzen wird.
LG Köln – Tod durch Betonplatte: Der in der vergangenen Woche am Landgericht Köln begonnene Strafprozess um den Tod einer Autofahrerin durch die umgestürzte Betonplatte einer Lärmschutzwand muss neu gestartet werden. Grund ist die mangelnde Begründung und Dokumentation bei der Entpflichtung einer Schöffin durch das LG Köln, die vom Oberlandesgericht Köln auf Antrag der Verteidigung beanstandet wurde. LTO berichtet.
LG Augsburg – Schuss mit Dienstwaffe: Am Landgericht Augsburg sagte ein wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagter Polizist aus. Im Rahmen eines Einsatzes bei einem Bundesliga-Spiel hatte er mit Kollegen herumgealbert und während einer Auseinandersetzung mit Wasserpistolen plötzlich seine Dienstwaffe betätigt. Der abgegebene Schuss hatte einen Kollegen nur knapp verfehlt und einen unbesetzten Fan-Bus getroffen. An die entscheidenden Sekunden dieses selbst als "unprofessionell" beschriebenen Verhaltens könne er sich jedoch nicht erinnern. spiegel.de (Julia Jüttner) berichtet.
StA Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Zwei der wegen des Juwelendiebstahls im Dresdner Grünen Gewölbes Verurteilten haben eine am vergangenen Montag abgelaufene Frist zum Haftantritt verpasst. Beide hatten bei der Staatsanwaltschaft Haftaufschub beantragt, die Anträge waren jedoch abgelehnt worden. Nunmehr könnten Vollstreckungshaftbefehle erlassen werden, auf deren Grundlage die Betreffenden dann zur Fahndung ausgeschrieben werden. Die FAZ (Kim Maurus) berichtet.
Recht in der Welt
Ukraine – orthodoxe Kirche: Das ukrainische Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das "Aktivitäten ausländischer religiöser Organisationen, die in einem Land ansässig sind, das der ukrainische Staat als Aggressor gegen sich einstuft" unter Strafe stellt. Von einem möglichen Verbot ist somit die russisch-orthodoxe Kirche der Ukraine betroffen. Deren Metropolit hatte zwar den russischen Überfall auf das Land verurteilt und die Beziehungen zur Moskauer Mutterkirche abgebrochen. Gleichwohl gelte die Kirche immer noch als russlandnah, schreiben FAZ (Stefan Locke) und taz (Barbara Oertel) übereinstimmend. Um in Kraft zu treten, müsse das Gesetz innerhalb eines Monats vom Präsidenten unterzeichnet werden.
Russland – Theatermacherinnen: Die "einen neuen Maßstab für politische Repressionen in Russland" setzende Verurteilung der Theatermacherinnen Schenja Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk von Anfang Juli greift die FAZ (Kerstin Holm) in einer Reportage auf. Es sei anzunehmen, dass den wegen "Rechtfertigung von Terrorismus" verurteilten Künstlerinnen ihre kriegskritischen Social-Media-Beiträge zum Verhängnis wurden. "Die Logik des Systems" erlaube es jedoch nicht, "Autoren von gegen Putin gerichteten Gedichten anzuklagen", da die fraglichen Texte hierdurch mehr Publizität erhielten.
Sonstiges
BSW: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Christof Steidele untersucht im JuWissBlog die restriktive Aufnahmepraxis der Partei Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW). Die Entscheidung über eine Mitgliedschaft im BSW trifft der Bundesvorstand der Partei; dies sei zwar ungewöhnlich, aber vom Wortlaut der entsprechenden Bestimmung des Parteiengesetzes gedeckt. Auch im Übrigen seien keine Rechtsverletzungen erkennbar, wenngleich der vom BSW gewählte Weg ungewöhnlich erscheinen mag. In einer Leitentscheidung über eine – verneinte – Aufnahmepflicht hatte der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass ein hoher Mitgliederstand Parteien bei der Durchsetzung ihrer Ziele helfe. Das BSW könnte die Aussage widerlegen.
Kai Ambos bei "Jung & Naiv": Amtsrichter Lorenz Leitmeier rezensiert für LTO den Auftritt von Rechtsprofessor Kai Ambos im YouTube-Format "Jung & Naiv". "Soweit man das beurteilen kann", seien die Ausführungen des ausgewiesenen Völkerrechtsexperten "hochinteressant" gewesen, hätten sich jedoch zu oft auf die Nennung von Stichpunkten beschränkt. So bleibe beim Zuhören "hoffnungslose Überforderung".
Markenschutz: Rechtsanwalt Ralf Hackbarth macht auf beck-aktuell darauf aufmerksam, dass ein effektiver Markenschutz nicht nur die Anmeldung der Marke, sondern darüber hinaus auch deren Benutzung beinhaltet. Angesichts von Verfallsverfahren, die wegen geringer Anforderungen und Kosten derzeit "geradezu en vogue" seien, sollten sich Markeninhaber beizeiten darum kümmern, die Benutzung der Marke hinreichend zu dokumentieren.
Das Letzte zum Schluss
Publicity: Ihre Leidenschaft für Musik ist einer in der Slowakei gesuchten Straftäterin zum Verhängnis geworden. Die FAZ (Sarah Obertreis) schreibt, dass die Frau bei einem Konzert des Rappers Macklemore auf dessen Einladung hin mit ihm auf der Bühne ein wenig sang und natürlich umgehend Fotos postete. Einem aufmerksamen Beobachter fiel auf, dass er sie kurz zuvor in einem polizeilichen Fahndungsaufruf sah. Die Festnahme erfolgte dann kurz nach Ende des Konzerts.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 21. August 2024: . In: Legal Tribune Online, 21.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55240 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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