Die IMK diskutierte über besseren Schutz von Wahlkämpfer:innen. Eine gehbehinderte Schülerin hat Anspruch auf Taxikosten, wenn sie sonst nicht zur Schule kommen kann. Das VG Hamburg hält die Richter- und Beamtenbesoldung für zu niedrig.
Thema des Tages
Gewalt gegen Politiker:innen: Aufgrund der Zunahme von Beleidigungen und körperlichen Angriffen auf Politiker:innen, Kandidierende und ehrenamtliche Wahlkampfhelfer:innen, bittet die Innenministerkonferenz die Justizministerkonferenz, zu prüfen, ob das aktuelle Strafrecht, insbesondere bei Körperverletzungs- und Nötigungsdelikten, ausreicht. Außerdem unterstützt die IMK eine Bundesratsinitiative, die Angriffe auf gemeinnützig Engagierte bei der Strafzumessung schwerer bestrafen will. Eine Bundesratsinitiative aus Sachsen will das Stalken und Einschüchtern von Amts- und Mandatsträger:innen in einem neuen Straftatbestand unter Strafe stellen. Es berichten FAZ (Marlene Grunert/Mona Jaeger), taz (Gereon Asmuth), Welt (Tim Daldrup/Thorsten Jungholt/Nikolaus Doll) und LTO (Hasso Suliak).
Constanze von Bullion (SZ) meint, es sei an der Zeit, dass "die Politik sich aufbäumt". Eine Strafrechtsreform könne man machen, aktuell gehe es aber vor allem um "schnelle Polizeizugriffe". Auch müsse man ins Gespräch kommen – "gern mit etwas weniger Rücksicht auf politische und auch ostdeutsche Befindlichkeiten als bisher". Christian Rath (taz) hält Gesetzesverschärfungen für symbolisch. Die Symbolik von Sonderdelikten könne zudem "nach hinten losgehen, wenn das neue Delikt Fälle nicht erfasst, die in der öffentlichen Wahrnehmung gleichbehandelt werden sollten". Der Gesetzentwurf des Bundesrats, der Strafverschärfung bei Angriffen auf jede Form gemeinnützigen Engagements vorsieht, sei insofern konsequent. Denn: "Wenn schon Symbolik, dann für alle". Max Bauer (swr.de) begrüßt es, dass die Politik eine Verschärfung der Gesetze zum Schutz von Amts- und Mandatsträger:innen in Erwägung zieht; auch aufgrund der symbolischen Wirkung von Gesetzen. "Gerade beim Strafrecht" spreche man davon, "dass die Gesellschaft mit dem Strafrecht einen Konsens ausformuliert, was überhaupt nicht geht im sozialen Zusammenleben".
Rechtspolitik
Kinderehen: Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zum Schutz Minderjähriger bei Auslandsehen beschlossen. Danach sollen im Ausland geschlossene Ehen, bei denen mindestens ein Partner zum Zeitpunkt der Heirat unter 16 Jahre alt war, weiterhin automatisch unwirksam sein. Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Unterhalt und zu Heilungsmöglichkeiten wurden umgesetzt. Der Gesetzentwurf soll den Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag nun als Formulierungshilfe zur Verfügung gestellt werden, sodass er zügiger in den Bundestag eingebracht werden kann. Es berichten FAZ (Marlene Grunert) und LTO.
Schwangerschaftsabbruch: Wie die taz (Dinah Riese) berichtet, beschäftigen die jüngsten Empfehlungen der Regierungskommission zu Schwangerschaftsabbrüchen auch den Deutschen Ärztetag. Dort wurden bereits mehrere Anträge gestellt, die sich mit den Vorschlägen der Kommission und der derzeitigen Rechtslage befassen, wobei die Meinungen weit auseinandergehen. Größtenteils besteht jedoch Einigkeit in der Forderung, die Debatte "mit Augenmaß zu führen und die Ärzteschaft eng in die Diskussion einzubeziehen".
Terrorismus: Laut LTO hat das Bundeskabinett einen von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegten Entwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung beschlossen. Der Entwurf sieht unter anderem vor, dass sowohl Reisen in Risikogebiete in terroristischer Absicht als auch die Rückreise aus diesen Risikogebieten als strafbare Handlung eingestuft werden. Auch soll die Finanzierung terroristischer Handlungen umfassend unter Strafe gestellt werden. Der Regierungsentwurf wird nun dem Bundesrat zur Stellungnahme vorgelegt.
Sozialstaat: Im Interview mit beck-aktuell (Tobias Freudenberg/Monika Spiekermann) spricht der Rechtsanwalt Nikolaos Penteridis über das Gutachten des Nationalen Normenkontrollrats zur Komplexität des Sozialstaats. Die darin vorgebrachte Kritik hält er in vielen Bereichen für berechtigt. So führten komplexe Verwaltungsprozesse und eine Vielzahl von Regelungen dazu, dass die Effizienz des Systems beeinträchtigt werde. Es sei daher notwendig, "einen offenen und umfassenden Diskurs über die Zukunft des Sozialsystems zu führen, der alle gesellschaftlichen Gruppen ein- und innovative Lösungen" nicht ausschließe.
Lieferketten und Menschenrechte: Der Rechtsanwalt Bastian Brunk widerspricht auf LTO dem Hauptkritikpunkt an der geplanten EU-Lieferkettenrichtlinie, wonach kleine und mittlere Unternehmen (KMU) durch die Regelungen überfordert würden. Zum einen fielen diese gar nicht in den Anwendungsbereich. Zum anderen sei es zwar richtig, dass große Unternehmen ihre Pflichten auf KMU abwälzen könnten, sie müssten die KMU dann aber auch dazu befähigen und sie dabei unterstützen, diese Pflichten zu erfüllen. Die EU-Richtlinie sei hier besser konstruiert, als das deutsche Lieferkettensorgfaltsgesetz.
Justiz
BSG zu Taxikosten für gehbehinderte Schülerin: Laut spiegel.de entschied das Bundessozialgericht, dass Sozialhilfeträger gehbehinderten Schüler:innen die Fahrten mit dem Taxi bezahlen müssen, sofern es keinen Schulbus gibt und der Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad nicht zurückgelegt werden kann. Der Schulbesuch gehöre zum Recht auf Teilhabe zur Bildung. In diesem Zusammenhang anfallende "behinderungsbedingte Mehrkosten" müsse der Sozialhilfeträger im Wege der Eingliederungshilfe unabhängig vom Einkommen der Eltern gewährleisten.
VG Hamburg – Beamten- und Richterbesoldung: Laut LTO hält das Verwaltungsgericht Hamburg die Beamten- und Richterbesoldung in Hamburg für teilweise verfassungswidrig niedrig. Aus diesem Grund hat es fünf Verfahren, die die Höhe der Besoldung betreffen, ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. In den Besoldungsgruppen A 7 bis A 15 sowie R 1 werde der verfassungsrechtlich gebotene Mindestabstand zur Grundsicherung nicht gewahrt und deshalb das Alimentationsprinzip verletzt.
EuG zu Beihilfe/Condor: Im Streit um Beihilfen für die Fluggesellschaft Condor hat der Konkurrent Ryanair einen Sieg vor dem Gericht der Europäischen Union errungen: Die EU-Kommission hätte 2021 eine Umstrukturierungshilfe Deutschlands für die Airline nicht ohne förmliches Prüfverfahren genehmigen dürfen. Es berichtet LTO.
BGH zu Investor Jagdfeld: Wie die FAZ (Marcus Jung) berichtet, ist der Immobilieninvestor Anno August Jagdfeld vor dem Bundesgerichtshof nun auch mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem jahrelangen Rechtsstreit mit dem Versicherungskonzern Signal Iduna gescheitert. Damit ist Jagdfelds Vorhaben, bis zu einer Milliarde Euro wegen angeblicher Rufschädigung von der Signal Iduna zu fordern, endgültig gescheitert. Ein Anwalt von Signal Iduna hatte Jagdfelds Tätigkeit als Geschäftsführer des Fonds zur Finanzierung des Berliner Hotels Adlon kritisiert.
LSG BaWü zu Corona als Arbeitsunfall: Wie LTO und beck-aktuell schreiben, hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg erstmals über die Anerkennung einer Corona-Infektion als Arbeitsunfall entschieden und diesbezüglich grundsätzliche Kriterien aufgestellt. Im konkreten Fall wurde das Vorliegen eines Arbeitsunfalls verneint, da der Nachweis einer Ansteckung innerhalb des Betriebs nicht erbracht werden konnte.
BayObLG zu Billigung von Straftaten: Nachdem ein Mann unter einer Youtube-Reportage über Klimaaktivist:innen den Kommentar "Einfach drüber fahren selbst schuld wenn man so blöd ist und sich auf die Straße klebt" gepostet hatte, bestätigte das Bayerische Oberste Landesgericht nun laut LTO (Charlotte Hoppen) und beck-aktuell den Freispruch der Vorinstanz vom Vorwurf der Billigung von Straftaten. Als Revisionsgericht sei das BayObLG an die Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden, insbesondere auch an die als glaubhaft angesehene Erklärung des Angeklagten, die Aufforderung nicht ernst gemeint zu haben, sie sei nur ein Beitrag zur öffentlichen Debatte gewesen. Das BayObLG stellte jedoch klar, dass es sich um einen Grenzfall handele und in ähnlich gelagerten Fällen eine Verurteilung durchaus denkbar sei.
OLG Hamm zu Schöffin mit Kopftuch: Eine Schöffin, die aus religiösen Gründen vor Gericht nicht auf ihr Kopftuch verzichten will, begeht keinen grobe Amtspflichtverletzung, die ihre Enthebung im jeweiligen Verfahren rechtfertigen würde, vielmehr sei sie direkt von der Liste der Schöff:innen zu streichen. Dies entschied das Oberlandesgericht Hamm laut beck-aktuell.
OLG Hamburg zu Julian Reichelt/NDR: Auf Berufung des NDR hob das Oberlandesgericht Hamburg laut FAZ (Michael Hanfeld) eine Entscheidung der Vorinstanz auf, wonach die NDR-Sendung "Reschke Fernsehen" eine Gegendarstellung Reichelts hätte senden müssen. Das Magazin hatte sich mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs Reichelts in seiner Zeit als Bild-Chefredakteur befasst. Gegen die Wiedergabe der dort aufgebotenen, anonymisierten Aussagen hatte Reichelt in fünf Punkten Gegendarstellungen verlangt; das Landgericht Hamburg hielt das Anliegen auch für berechtigt. Das Hanseatische Oberlandesgericht folgte nun jedoch der Auffassung des NDR, "wonach die von Julian Reichelt verlangte Gegendarstellung nicht den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht". Die Begründung liegt noch nicht vor.
LG Mönchengladbach zu Verletzung der Fürsorgepflicht: Laut spiegel.de verurteilte das Landgericht Mönchengladbach einen Vater wegen Verletzung der Fürsorgepflicht und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten. Der Mann, der sich selbst als christlich-fundamental bezeichnet, hatte – gemeinsam mit seiner Frau – die drei gemeinsamen Kinder in einem Waldstück mehrere Monate lang versteckt gehalten und dort regelmäßig körperlich misshandelt.
LG Dessau-Roßlau zu Kindesmissbrauch: Wie spiegel.de schreibt, verurteilte das Landgericht Dessau-Roßlau einen 54-Jährigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs an Kindern zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der einschlägig vorbestrafte Mann im August 2022 während einer saisonalen Tätigkeit als Schwimmmeister in einem Freibad zwei Jungen im Alter von damals elf und zwölf Jahren missbraucht hatte. Auf seinem Laptop seien zudem Bilddateien mit kinderpornografischem Inhalt gefunden worden.
AG Berlin-Tiergarten – Autofahrer gegen Klimaaktivist: Ein Apotheker hatte einen Klimaaktivisten, der eine Straße blockiert hatte, mit seinem Porsche touchiert und schließlich von der Straße gezerrt. Der Aktivist blieb unverletzt. Das Verfahren gegen den Apotheker wurde nun – auch auf Bitte des Aktivisten, der angab, es wichtiger zu finden, dass man miteinander in den Dialog komme – gegen eine Auflage eingestellt. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über den ungewöhnlichen Prozessverlauf.
Strafrichterin Sonja Cors: Die Welt (Julia Ruck) stellt die 28-jährige Richterin am Amtsgericht Hamburg-Harburg Sonja Cors vor und spricht mit ihr über ihre Beweggründe und die Vor- und Nachteile ihres Berufs.
Recht in der Welt
USA – Trump/Stormy Daniels: Ausführlich berichten nun auch FAZ (Sofia Dreisbach) und spiegel.de (Marc Pitzke) über die Zeugenaussage der früheren Pornodarstellerin Stormy Daniels im Strafverfahren um die Fälschung von Geschäftsunterlagen durch Donald Trump.
Schweden – Greta Thunberg: Wie spiegel.de schreibt, wurde die Klimaaktivistin Greta Thunberg von einem schwedischen Gericht zu einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet rund 512 Euro verurteilt, weil sie zusammen mit anderen Aktivist:innen den Eingang des schwedischen Parlaments blockiert hatte. Zudem muss sie etwa 85 Euro Schadensersatz und Zinsen zahlen. Thunberg hatte den Vorwurf des zivilen Ungehorsams zurückgewiesen und angegeben, den polizeilichen Anordnungen aufgrund des Klimanotstands nicht gefolgt zu sein: "In einer Notsituation haben wir alle die Pflicht zu handeln."
Sonstiges
75 Jahre Grundgesetz: Nun stellt auch die SZ (Wolfgang Janisch) die Studie des Politikprofessors Hans Vorländer über die Haltung der Deutschen zum Grundgesetz vor. Die SZ weist insbesondere auf die leicht gefallenen Zustimmungsraten zum Einfluss des Bundesverfassungsgerichts hin. Dies deute "darauf hin, dass die Karlsruher Rolle als weiser König, dem man Übergriffe in die Politik gern verzeiht, heute kritischer beurteilt wird als früher."
Heribert Prantl (SZ) geht in seiner Kolumne der Frage nach, wie pazifistisch das Grundgesetz ist und befasst sich in diesem Zusammenhang auch mit dessen Entstehungsgeschichte. Zusammenfassend kommt er zu dem Schluss, dass das Grundgesetz "eine sehr friedliebende Verfassung" sei. Dies sei auch gut so, denn: "Die Grundfragen von Krieg und Frieden brauchen einen festen Halt in der Verfassung."
Gigi Deppe (swr.de) freut sich, dass die Bundesrepublik mit der Kombination aus Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht bislang "gut gefahren" sei. Gerade dadurch, dass viele grundsätzliche Fragen irgendwann in Karlsruhe gelandet seien, seien diese "anlässlich von mündlichen Verhandlungen" auch "in der breiten Öffentlichkeit diskutiert" worden. So nehme "die Bevölkerung Teil an unserem Grundgesetz" und lebe "mit diesem Text".
Cannabis am Arbeitsplatz: Die Rechtsanwält:innen Kerstin Gröne und Christoph Corzelius gehen im Expertenforum Arbeitsrecht der Frage nach, welche Auswirkungen Cannabiskonsum auf das Arbeitsverhältnis hat und in welchen Fällen ein Beschäftigungsverbot in Betracht kommt.
Rechtsextremist bei Landratswahl: Die Juristin Maryam Kamil Abdulsalam schildert auf LTO, wie es dazu kommen konnte, dass der Neonazi Tommy Frenck im Landkreis Hildburghausen bei der Landratswahl am 26. Mai antreten darf, obwohl das Thüringer Kommunalwahlgesetz Extremist:innen ausschließt, und welche Folgen dies haben könnte. So käme etwa eine nachträgliche Anfechtung der Wahl in Betracht. Mit den Voraussetzungen einer solchen Wahlanfechtung setzen sich auch der Rechtsreferendar Ali Ighreiz und der Rechtsanwalt Joschka Selinger auf dem Verfassungsblog ausführlich auseinander.
Meinungsfreiheit/Israelkritik: Ronen Steinke (SZ) stellt vor dem Hintergrund der propalästinensischen Proteste an der Freien Universität Berlin klar, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland keinesfalls – wie teilweise unterstellt werde – eingeschränkt sei. Die Unileitung habe das Protestcamp nicht wegen der radikalen Israelkritik räumen lassen, sondern weil Hörsäle aufgebrochen und Feueralarme zerschlagen wurden.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/bo/chr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 9. bis 10. Mai 2024: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54518 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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