Die Schöffenwahl 2024 führte wohl nicht zu einer Unterwanderung der Justiz. Der Juristinnenbund lehnt den geplanten Systemwechsel beim Armutsschutz für Kinder ab. Der BGH verneint Entschädigungsansprüche für Lockdown-Verluste von Hotels.
Thema des Tages
Extremistische Schöff:innen: Bei der Schöffenwahl Anfang des Jahres konnten die Bundesländer keine Anzeichen für eine systematische Unterwanderung der Justiz durch Extremist:innen feststellen. Dies ergab eine Umfrage von LTO (Markus Sehl/Helena Schröter). Es seien nur drei Fälle von Extremist:innen aufgefallen (zwei in Hessen, einer in Baden-Württemberg), obwohl extremistische Organisationen zur Bewerbung aufgefordert hatten und sich diesmal auch mehr Personen um die rund 60.000 Schöffenposten bewarben.
Rechtspolitik
Kindergrundsicherung: Der Deutsche Juristinnenbund (djb) lehnt die von der Bundesregierung geplante Kindergrundsicherung schon im Ansatz ab. "Ganz einfach, am besten automatisch, und zugleich zielgenau, eine solche Leistung kann es nicht geben", sagte djb-Expertin Franziska Vollmer, die früher im Familienministerium für die Kindergrundsicherung zuständig war. Der djb fordert stattdessen erhöhte Leistungen und bessere Aufklärung im bestehenden System. Hierzu schlägt der djb ein "Kindesmindestsicherungsgesetz" ohne komplexe Systemumstellungen vor. focus.de berichtet.
Schwangerschaftsabbruch: Jost Müller-Neuhoff (tagesspiegel.de) warnt vor einer Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, wie sie eine Regierungskommission am Montag vorschlagen wird. In den USA habe man gesehen, was bei einer Freigabe des Abbruchs geschehe: "Es baute sich Widerstand auf, der das Rad zurückdrehte." Dagegen wirbt Sabine Rennefanz (spiegel.de) für eine Umsetzung der Empfehlung, die aus ostdeutscher Sicht "überfällig" sei: "Der restriktive Umgang mit Abtreibungen hat sich in Deutschland so lange gehalten, weil der Einfluss eines konservativen, moralisch aufgeladenen Frauenbilds und der Kirche hier besonders stark wirkte." Auch Katharina Riehl (SZ) spricht sich dafür aus, die aktuelle Gelegenheit zu nutzen, weil sich das Fenster ab der nächsten Bundestagswahl wohl wieder für einige Jahre schließen werde.
Das EU-Parlament hat sich für die Aufnahme eines Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in die Europäische Grundrechte-Charta ausgesprochen. 336 Abgeordnete stimmten für eine entsprechende Resolution, 163 dagegen. 39 enthielten sich. Eine Änderung der Charta wäre aber nur mit Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedsstaaten möglich. zeit.de berichtet.
Asyl/Bezahlkarte: Am heutigen Freitag wird der Bundestag im Asylbewerberleistungsgesetz die Möglichkeit einführen, Bezahlkarten an Asylantragsteller:innen auszugeben. Die taz (Tobias Schulze/Dinah Riese) zeichnet die Diskussion der letzten Wochen noch einmal nach.
Asyl/GEAS: Die FAZ (Thomas Gutschker) stellt in Frage/Antwort-Form die wesentlichen Inhalte der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar, der das Europäische Parlament am Mittwoch zugestimmt hat. Auch die SZ (Josef Kelnberger) und die taz (Eric Bonse/Christian Jakob) berichten noch einmal vertieft.
Kinderpornographie: Im Rechtsausschuss des Bundestags sprachen sich Sachverständige einhellig für ein Rückgängigmachen der Strafverschärfung von 2021 aus. Überwiegend wurde aber die bloße Einführung eines minderschweren Falles abgelehnt, weil er nicht die Einstellung strafunwürdigen Verhaltens ermöglicht. Die von der Bundesregierung geplante Absenkung der Mindeststrafe wurde überwiegend unterstützt. beck-aktuell berichtet.
Cannabis: Der Richter und Privatdozent Tobias Kulhanek prognostiziert auf beck-aktuell, dass das jüngst beschlossene Cannabisgesetz in den Ländern sehr uneinheitlich angewandt werden wird. "Während manche Bundesländer neben einem möglichst restriktiven Normverständnis zudem bereits strenge Kontrollbemühungen angekündigt haben, ist in anderen mit einer Ausweitung der 'faktischen Entkriminalisierung' noch über den Gesetzeswortlaut hinaus zu rechnen".
Justiz
BGH zu Corona-Entschädigung/Hotels: Der Bundesgerichtshof hat den Anspruch von zwei Bremer Hotels, die zur Dorint-Gruppe gehören, auf Entschädigung für Einnahmeausfälle während der ersten beiden Corona-Lockdowns abgelehnt. Die Hotels hatten geltend gemacht, die Schließungs-Anordnungen seien unverhältnismäßig, weil sie keine Entschädigungspflicht vorsahen. Dies hat der BGH jedoch abgelehnt, die Rechtsgrundlagen seien verfassungkonform. Die Eingriffe seien schließlich "durch großzügige staatliche Hilfsprogramme entscheidend abgemildert" worden. Allein die Dorint-Gruppe habe aus staatlichen Förderprogrammen insgesamt 73,6 Millionen Euro und aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds einen Kredit in Höhe von 47,5 Millionen Euro erhalten. Dies sei nach Ansicht des BGH ausreichend gewesen. FAZ (Marcus Jung) und LTO berichten.
BVerfG zu Vaterschaft: Rechtsprofessorin Anne Sanders weist im Interview mit spiegel.de (Elisa Schwarze) darauf hin, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Dienstag nicht nur die Stellung leiblicher Väter gestärkt hat, sondern auch die Sicherheit rechtlicher Väter schwächte. Für Sanders gilt: "Die soziale Familie, also die Familie, in der das Kind hauptsächlich aufwächst, ist schutzwürdig." Sanders befürwortet das Konzept der Mehrelternschaft. In ihrer Habilitation hatte sie eine Abstufung zwischen Haupt- und Nebeneltern vorgeschlagen.
BVerwG zu Mehrleistung aus der Unfallkasse: Das Bundesverwaltungsgericht sprach der Familie des 2013 bei einem Gondelunfall in Italien gestorbenen Rechtsprofessors Joachim Vogel höhere Leistungen aus der Unfallkasse zu. Eigentlich stand Vogels Erben eine Mehrleistung aus der gesetzlichen Unfallkasse zu, weil er verunglückte, als er seine dreijährige Tochter rettete. Der Freistaat Bayern kürzte jedoch die Hinterbliebenenversorgung um den gleichen Betrag. Diese Verrechnung war rechtswidrig, entschied nun das BVerwG, denn die Mehrleistung sollte das Sonderopfer im Dienste der Allgemeinheit honorieren. beck-aktuell (Maximilian Amos) berichtet.
OVG NRW - Verdachtsfall AfD: Am dritten Verhandlungstag versuchte Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, darzustellen, dass die AfD in der Staatsvolk-Frage letztlich kaum andere Position vertrete als die CDU, die ebenfalls die Beachtung der deutschen Leitkultur fordere. Es berichten taz (Gareth Joswig), tagesspiegel.de (Jost Müller-Neuhof) und spiegel.de (Ann-Katrin Müller/Tobias Großekemper).
VG Düsseldorf zu Polizeikessel gegen Demonstrant:innen: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf billigte den Ausschluss von mehreren hundert Personen von einer Demonstration gegen die Verschärfung des NRW-Versammlungsgesetzes 2021. Aus dem Block waren immer wieder gewalttätige Störungen hervorgegangen. In einem anschließenden Polizeikessel durften die Personalien aller Personen festgestellt werden, die sich innerhalb des Blocks befanden, da sie dem Anschein nach Störer seien. Wer sich aber außerhalb des durch Stoffbanner abgegrenzten Blocks befand, wurde zu Unrecht eingekesselt, so das VG. Im Ergebnis hatten zwei von sieben Klagen Erfolg. Es berichten taz (Andreas Wyputta) und LTO.
StA Düsseldorf - Gunnar Beck: Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf kann gegen den AfD-Europaabgeordneten Gunnar Beck ermitteln, nachdem das Europaparlament seine Immunität aufhob. Beck wird vorgewofen, dass er in einem Kaufhaus versuchte, Produktproben zu stehlen und später Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet habe. Beck behauptet, das Verfahren habe ursprünglich eingestellt werden sollen, was nach einer politischen Intervention dann unterblieben sei. LTO berichtet.
StA Mainz - Richard David Precht: Die Staatsanwaltschaft Mainz hat gegen den Philosophen Richard David Precht keine Ermittlungen wegen Volksverhetzung aufgenommen. Precht hatte im Oktober im Podcast "Lanz & Precht" behauptet, dass orthodoxe Juden nicht arbeiten dürfen, außer im Diamantenhandel und im Finanzsektor. Precht wurde daraufhin wegen Volksverhetzung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft stellte zwar fest, dass die Aussage falsch ist und antisemitischen Klischees entspreche, Precht habe sich jedoch nicht vorsätzlich falsch geäußert und keine Verhetzungsabsicht gehabt. Die SZ (Harald Hordych) berichtet.
Klimaklagen: Rechtsprofessor Bernhard Wegener warnt auf dem Verfassungsblog vor illusorischem Vertrauen in Klimaklagen. Bei Erfolg verlangten die Gerichte entweder nur Selbstverständlichkeiten oder die Urteile greifen zu sehr in die Kompetenz des Gesetzgebers ein und werden deshalb in der nächsten Instanz aufgehoben.
Weltverbesserung: Das Hbl (Ben Mendelson) stellt ein Buch von Rechtsprofessorin Nora Markard und Journalist Ronen Steinke vor. "Jura not alone - 12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern" sei ein optimistisches Buch. Das zentrale Kapitel widme sich den Klimaklagen. "Wer den Planeten kaputtmacht, der begeht ein Unrecht", heißt es dort. Fehlende Rechtsdurchsetzung liege auch an einer "heruntergesparten Justiz".
Recht in der Welt
Frankreich - Sterbehilfe: Aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe sollen in Frankreich künftig unter bestimmten Bedingungen erlaubt sein. Einen entsprechenden Gesetzentwurf legte die Regierung am Mittwoch vor. Erwachsenen mit schwersten Erkrankungen soll nicht nur die Einnahme tödlicher Medikamente erlauben werden. Wenn der Zustand es den Betroffenen nicht möglich macht, die Medikamente selbständig zu nehmen, sollen sie sich auch von einer Person ihrer Wahl helfen lassen können.
Juristische Ausbildung
Jurastudium: LTO-Karriere (Charlotte Hoppen) berichtet über eine Tagung der Bucerius Law School zur Reform des Jurastudiums. Gefordert wurde dort u.a. eine Reduzierung des Prüfungsstoffs im Ersten Staatsexamen, eine vielfältige Besetzung von Prüfungskommissionen und die blinde Zweitkorrektur.
Sonstiges
Scholz auf Tiktok: "Der Bundeskanzler hat auf Tiktok nichts zu suchen." Zu diesem Schluss kommt der Ex-Datenschutzbeauftragte von BaWü, Stefan Brink, auf FAZ-Einspruch. Zum einen ignoriere Olaf Scholz eine Unterlassungsanordnung des Bundesdatenschutz-Beauftragten für ähnliche Netzwerke. Zweitens dürfe der Kanzler als Verfassungsorgan ohnehin nicht in den politischen Wettbewerb mit der AfD eintreten. Und schließlich falle Scholz denjenigen in den Rücken, die gerade gegen Tiktok unter Hinweis auf die suchtauslösenden Algorithmen klagen.
AfD-Verbot: Rechtsprofessor Cengiz Barskanmaz weist auf dem Verfassungsblog darauf hin, dass die Organisationen der Rassismus-Betroffenen überwiegend kein AfD-Verbot fordern. Diese Forderung sei eher Ausdruck von weißer Bevormundung ("white Saviorism"), die damit versuche, vom Rassismus der Mitte abzulenken.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/chr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 12. April 2024: . In: Legal Tribune Online, 12.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54318 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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