Die Regierungskoalition findet eine Formulierung für Kinderrechte im Grundgesetz. Die AfD scheitert mit ihrer Klage gegen die Sitzverteilung im hessischen Landtag. Kritik an Sperrung von Trumps Twitter-Account kommt auch von der Bundeskanzlerin.
Thema des Tages
Kinderrechte ins Grundgesetz: Union und SPD haben sich nach Angaben von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) darauf geeinigt, die Rechte von Kindern ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern, berichten spiegel.de und zeit.de. In Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz soll es nun heißen: "Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt." Für die Verfassungsänderung bedarf es indes einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, also auch die Zustimmung von Oppositionsparteien.
Rechtspolitik
Legal Tech: Auf LTO erläutert Philipp Plog den jüngsten Entwurf des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz für ein "Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt". Dieser nehme auch eine Definition des Begriffes "Inkasso" vor und führe ihn auf die eigentliche Forderungsdurchsetzung zurück. Damit wende er sich gegen das "Lexfox"-Urteil des Bundesgerichtshofes, wonach "Inkasso" etwa auch mietrechtliche Beratung umfasst, die über die eigentliche Forderung hinausgeht – wie die Aufforderung an den Vermieter, künftig nicht mehr die überhöhte Miete zu verlangen.
Hartz-IV: Frank Specht (Hbl) bespricht den von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgelegten Referentenentwurf zur Reform von Hartz IV. Die Streichung besonders harter Sanktionen für Grundsicherungsempfangende sei durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnet. Die Regel, dass Hartz-IV-Empfänger zwei Jahre lang nicht gezwungen sein sollen, sich eine billigere Wohnung zu suchen oder ihr Vermögen aufzuzehren, werde jedoch auf Widerstand aus der Union stoßen.
Corona – Impfung: Im Hbl äußert Rechtsprofessor Michael Heese die Überzeugung, dass sich "Privilegien" für Corona-Geimpfte entgegen verschiedener Forderungen in verfassungskonformer Weise grundsätzlich nicht verhindern ließen. Denn ein Verbot von privaten "Impfprivilegien" betreffe die in Artikel 2, 12 und 14 Grundgesetz verbürgte unternehmerische Betätigungsfreiheit in ihrem Kernbereich.
Die Rechtsverordnung zur Priorisierung der Corona-Impfung ist nach Einschätzung einer Vielzahl namhafter Staatsrechtler verfassungswidrig, berichtet die Welt (Ricarda Breyton). Erforderlich sei statt einer Verordnung ein förmliches Gesetz des Parlaments, weil der Gesetzgeber nach der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts alle "wesentlichen" Entscheidungen selbst zu regeln habe. Bei den Maßnahmen zur Impfpriorisierung handele es sich um eine solche, da sie der Verwirklichung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit dienten.
Homeoffice: Rechtsanwalt Martin Biebl spricht sich auf beck-community gegen eine verpflichtende Einführung von Homeoffice-Tätigkeiten während der Corona-Pandemie aus, da es viele Gründe gebe, wegen derer Unternehmen auf Homeoffice-Lösungen verzichteten. Selbst vermeintlich für das Homeoffice geeignete Tätigkeiten könnten Gefahren mit sich bringen. So bestünde etwa die Angst vor datenschutzrechtlichen Verstößen, wenn es um besonders geschützte Daten und Informationen gehe und eine entsprechend geschützte IT-Infrastruktur fehle.
Justiz
BVerfG zu Auslieferung nach Rumänien: Nach dem Ersten hat auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das BVerfG im unionsrechtlich vollständig determinierten Bereich eine Kontrolle der Grundrechte der europäischen Grundrechte-Charta durchführen darf. Diese Entscheidung aus dem Dezember 2020 erläutert die wissenschaftliche Hilfskraft Robert Pracht auf JuWissBlog. Die Bedeutung der Grundrechte-Charta werde nun in der juristischen Ausbildung und Praxis enorm ansteigen, es sei einem jeden und einer jeden ans Herz gelegt, sich intensiv mit ihr zu beschäftigen. Die Verfassungsidentitätskontrolle hingegen werde entscheidend an Bedeutung verlieren, weil dem BVerfG über die Auslegung der Charta-Grundrechte ausreichend Spielraum verbleibe, um einen Fall genauso wie bei einer Aktivierung der Identitätskontrolle zu entscheiden.
BVerfG zu Arbeitsschutz in der Fleischindustrie: Wie beck-community (Markus Stoffels) berichtet, hat das Bundesverfassungsgericht die Begründung veröffentlicht, aufgrund derer im Dezember mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Arbeitsschutzkontrollgesetz abgelehnt wurden. Es sei nicht hinreichend dargelegt worden, dass durch ein Abwarten bis zum Abschluss der Verfahren über die noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerden die geforderten schweren, kaum oder nicht reversiblen Nachteile entstünden. Soweit gravierende Nachteile dargelegt worden seien, hätten die Anträge in der Sache keinen Erfolg, da die Interessen der Antragstellenden gegenüber den Zielen des Gesetzgebers nicht eindeutig überwögen.
BGH zur Notarprüfung: In seiner ablehnenden Entscheidung zur Anfechtung einer Notarprüfung hat der Bundesgerichtshof konkretisiert, was zu den "Grundzügen" eines Rechtsgebiets gehört, berichtet LTO. Danach reicht es aus, wenn die abgeprüften Fragenkreise sich "hin und wieder" im Arbeitsalltag eines Notars stellen würden, weil sich die notarielle Amtstätigkeit nicht auf die Bewältigung von Standardsituationen beschränke. In der konkreten Prüfungsaufgabe musste die Kandidatin u.a. einen Ausgliederungsvertrag entwerfen, durch den das gesamte Vermögen eines einzelkaufmännischen Unternehmens ausgegliedert und auf eine GmbH & Co. KG übertragen wird.
StGH Hessen zu Landtagssitzen: Die Sitzverteilung im hessischen Landtag ist rechtmäßig. Dies hat der Staatsgerichtshof Hessen laut FAZ (Julian Staib), taz (Christoph Schmidt-Lunau), zeit.de, spiegel.de und LTO entschieden und eine Beschwerde der AfD-Fraktion zurückgewiesen. Sie hatte argumentiert, dass die aktuelle Sitzanzahl von 137, welche auf eine Berechnung von Ausgleichs- und Überhangmandaten zurückgeht, zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung anderer Parteien führe. Das Gericht nannte es zwar einen "Fehler im Wahlverfahren", dass der Landeswahlleiter bei der Berechnung nicht geprüft habe, ob ein Landtagszuschnitt mit 138, 139 oder 140 Sitzen das Wahlergebnis besser abgebildet hätte. Dies habe aber keine Auswirkung auf das Ergebnis, weil die Abweichung zwischen den tatsächlichen Sitzanteilen der Parteien und ihren jeweiligen Anteilen an den zu berücksichtigenden Landesstimmen bei den aktuellen 137 Sitzen am geringsten sei.
Daniel Deckers (FAZ) fordert vor diesem Hintergrund eine Wahlrechtsreform, um die Aufblähung der Sitzzahl aufgrund von Ausgleichs- und Überhangmandaten zu verhindern. Es sei "auf lange Sicht klüger, wenn das Wahlrecht nicht per se Legitimitätsprobleme aufwerfen würde." Auch Christoph Schmidt-Lunau (taz) fordert die Parteien in Bund und Ländern auf, die Aufblähung der Parlamente zu beenden und für klare gesetzliche Vorgaben bei deren Berechnung zu sorgen.
OLG München zu Versorgungszusagen: Ein Geschäftsführer kann sich nicht auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen, wenn andere Geschäftsführer eine höhere Versorgungszusage erhalten haben. Diese Entscheidung des Oberlandesgerichts München aus dem November 2020 bespricht Rechtsanwalt Thomas Frank auf dem Handelsblatt-Rechtsboard.
VG Koblenz zu Wahlzettel: Das Verwaltungsgericht Koblenz hat den Eilantrag eines parteilosen Wahlkreiskandidaten bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 2021 abgelehnt, der sich gegen seine Platzierung am unteren Ende des Wahlzettels gewehrt hatte. Der Antrag sei bereits unzulässig, da im Vorfeld der Wahlen lediglich offensichtliche Fehler gerügt werden könnten und ein solcher hier nicht vorliege. Denn es könne davon ausgegangen werden, dass die Wählerinnen und Wähler verantwortungsbewusst genug seien, den Inhalt des gesamten Stimmzettels zu erfassen, berichtet LTO.
VG Gelsenkirchen zu Corona-Impfung: Zwei 84-jährige Eheleute sind vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit einem Eilantrag gescheitert, unverzüglich eine Corona-Impfung zu bekommen, berichtet LTO. Ein Anspruch auf Impfung bestehe nur im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe. Es stelle keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, dass in Nordrhein-Westfalen zunächst alle Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegeheime geimpft würden – inklusive derjenigen, die noch nicht 80 seien – weil dort das Schutzbedürfnis höher sei. Die Über-80-Jährigen, die noch in häuslicher Umgebung wohnten, seien deutlich weniger Kontakten ausgesetzt als die Bewohnerinnen und Bewohner eines Heims.
LG München I – Corona-Betrug: Vor dem Landgericht München I muss sich ein 31-Jähriger wegen Subventionsbetrugs verantwortet, der mit Scheinidentitäten und gefälschten Ausweisen in mindestens 91 Fällen unberechtigt Corona-Soforthilfen beantragt haben soll. Dies berichtet FAZ (Corinna Budras) und spiegel.de. Die beantragte Gesamthöhe habe bei mehr als 2,5 Millionen Euro gelegen, jedoch sei es nur in drei Fällen tatsächlich zur Auszahlung gekommen.
LG Bonn – Cum-Ex/Warburg-Bank: Im zweiten Strafprozess zum Cum-Ex-Skandal vor dem Landgericht Bonn hat der Zeuge Darren T. eine Aussage unter Verweis auf § 55 Strafprozessordnung verweigert, um sich nicht selbst belasten zu müssen. Laut SZ (Klaus Ott) hatte derselbe Zeuge noch 2019 im ersten Cum-Ex-Prozess umfangreich ausgesagt und als Kronzeuge gegolten. Hintergrund seien Bestrebungen der bayerischen Finanzverwaltung, mehr als 300 Millionen Euro wegen Cum-Ex-Geschäften zurückzufordern, was letztlich auch Darren T. treffen könne.
Corona und Gerichtstermine: Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) hat in einem offenen Brief die Aussetzung aller nicht eilbedürftigen Gerichtsverfahren sowie die Aussetzung der Zustellung von negativen Asylbescheiden bis zum Ende des harten Lockdowns gefordert, berichtet LTO. Jede Gerichtsverhandlung führe zu einer Steigerung der Gesundheitsgefährdung der Verfahrensbeteiligten, da die bisher in den meisten Gerichten ergriffenen Hygienemaßnahmen nicht ausreichend seien. Für Betroffene von negativen Asylbescheiden sei derzeit der Zugang zu anwaltlicher Beratung oder Unterstützung durch unabhängige Beratungsstellen de facto nicht gegeben.
Justiz – Personalprobleme: Über das Problem mangelnden Nachwuchses in der Justiz insbesondere auf dem Land berichtet die FAZ (Marcus Jung). Bis 2030 müssten 10.000 Stellen nachbesetzt werden. Dabei sei es ratsam, pensionierte Richter befristet zurückzuholen, damit sie die neuen Kollegen als Beisitzer an Verfahren heranführen und mithelfen könnten, Altbestände an Verfahren abzubauen.
Recht in der Welt
USA – Trump und Twitter: Der Kurznachrichtendienst Twitter hat den Account von US-Präsident Donald Trump dauerhaft gesperrt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sieht dies kritisch: Die Meinungsfreiheit als Grundrecht von elementarer Bedeutung könne nur durch den Gesetzgeber, nicht nach der Maßgabe von Unternehmen eingeschränkt werden, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert laut Hbl (Larissa Holzki/Torsten Riecke) und zeit.de.
Reinhard Müller (FAZ) merkt an, dass Trump "eigentlich nicht Träger von Grundrechten", sondern vielmehr verpflichtet sei, diese durchzusetzen. Gegen die Sperrung stehe ihm aber der "von ihm ja auch sonst gern beschrittene Rechtsweg offen." Michael Hanfeld (FAZ) nennt die Sperrung von Trumps Konto "heuchlerisch" und verweist auf die Einschätzung des russischen Oppositionellen Aleksej Nawalnyj, welcher in der Sperrung einen "inakzeptablen Akt der Zensur" sieht, der einen gefährlichen Präzedenzfall schaffe. Jost Müller-Neuhof (Tsp) sieht ein Dilemma: Das, was die einen für Hass und Lüge hielten, sei für andere Teil der Meinungsfreiheit.
Auf JuWissBlog erläutert die Doktorandin Amélie Heldt (in englischer Sprache), dass Trump außerhalb von Twitter noch geringeren Beschränkungen ausgesetzt wäre als bisher. Denn auf Grundlage der Rechtsprechung zum First Amendment der US-Verfassung seien die meisten seiner Äußerungen – mit Ausnahme jener kurz vor dem Sturm des Kapitols – nicht hinreichend konkret, um außerhalb des Schutzes der Verfassung zu fallen.
Juristische Ausbildung
Digitale Kompetenz: Im Hbl spricht sich Lina Krawietz dafür aus, die Vermittlung von digitaler Kompetenz in der juristischen Ausbildung nicht als "bloße Aneignung weiteren Wissens" in den Blick zu nehmen. Vielmehr müsse es um Fähigkeiten gehen, die den Umgang mit Unbekanntem ermöglichten, wie etwa vernetztes, systemisches Denken, interdisziplinäres Arbeiten und Kreativität.
Sonstiges
AfD und Verfassungsschutz: Die SZ (Georg Mascolo/Katja Riedel/Ronen Steinke) berichtet über die bevorstehende Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ob die gesamte AfD unter Beobachtung gestellt werden solle. Die Bundesregierung sei sehr besorgt darum, eine Entscheidung gerichtsfest zu machen und habe deshalb Sorgfalt vor Geschwindigkeit angemahnt. Mit Blick auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2010 gehe man davon aus, dass ein "Extremistenanteil von einem Drittel der Funktionäre" der Partei für eine Beobachtung ausreichend sei.
Welche beamtenrechtlichen Auswirkungen eine AfD-Mitgliedschaft hätte, sollte die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden, erklärt Rechtsprofessor Ralf Brinktrine im Interview mit der SZ (Ronen Steinke). Die bloße Mitgliedschaft reiche nicht aus, um aus dem Beamtenverhältnis entfernt zu werden. Entscheidend sei stets eine Einzelfallabwägung, bei der das jeweilige Verhalten der betroffenen Person berücksichtigt werde.
Suizidhilfe: Führende Vertreter der beiden großen Kirchen haben die Forderung namhafter evangelischer Theologen und Kirchenvertreterinnen zurückgewiesen, den assistierten Suizid auch in kirchlichen Einrichtungen zu ermöglichen. Dies berichtet die FAZ (Reinhard Bingener) und verweist auf Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz, in welchen es etwa heißt, der Suizid solle nicht als "normale Form des Sterbens" aufgefasst werden.
Das Letzte zum Schluss
Tot oder lebendig: Niemand hatte die Behauptung überprüft, dass die 58-jährige Französin Jeanne Pouchain verstorben sei, und so verlor sie ohne jeden Grund Ausweise, Bankkonto und Krankenversicherung. Wie spiegel.de berichtet, ist sie deshalb nun in Lyon vor Gericht gezogen, um sich als lebend erklären zu lassen. Bisher hätten die Behörden diesen Schritt versäumt: "Sie haben mir mitgeteilt, ich gelte inzwischen nicht mehr als tot, aber auch noch nicht als lebendig."
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lto/mps
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Die juristische Presseschau vom 12. Januar 2021: . In: Legal Tribune Online, 12.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43950 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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