BGH klärte den Referenzzins für Zinsanpassungen bei Prämiensparverträgen. OLG Koblenz sprach Neonazi von der Beihilfe zur Brandstiftung frei. VG Berlin hält die Bafög-Sätze für verfassungswidrig niedrig und legte den Fall in Karlsruhe vor.
Thema des Tages
BGH zu Prämiensparvertrag/Zinsberechnung: Die Zinsanpassung bei Prämiensparverträgen mit unwirksamen Zinsklauseln soll sich an den Umlaufrenditen börsennotierter Bundesanleihen mit 8 bis 15 Jahren Restlaufzeit orientieren. Dies entschied der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil. Vor 20 Jahren hat der Bundesgerichtshof erstmals die Unwirksamkeit der viel zu vagen Zinsanpassungsklauseln bei Prämiensparverträgen festgestellt und dies in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2021 bestätigt. Offen blieb aber die Frage, an welchem Zinssatz sich nun die Zinsanpassung orientieren soll. Die klagenden Verbraucherzentralen hatten die höheren Umlaufrenditen von Hypothekenpfandbriefen favorisiert, doch der BGH stellte wie die Vorinstanzen auf Bundesanleihen ab. Dies passe besser zu den risikoscheuen Kunden von Prämiensparverträgen. Auch bezüglich der Verjährung blieb der BGH hinter den klägerischen Forderungen zurück. Statt der geforderten zehn Jahre billigte der BGH nur die allgemeine drei-jährige Verjährung zu, beginnend mit der Kündigung des Vertrages. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Katja Gelinsky), tagesschau.de (Max Bauer), LTO sowie beck-aktuell.
Rechtspolitik
LVerfG Berlin-Richterwahl: Christian Rath (LTO) analysiert den mittelgroßen Shitstorm, den die Wahl der queer-feministischen Rechtsanwältin Lucy Chebout als Richterin am Berliner Verfassungsgerichtshof auslöste. Grundsätzlich seien Diskussionen über die Wahl von Verfassungsrichter:innen gut, allerdings sollten deren Namen rechtzeitig vor der Wahl bekannt sein, damit in der Diskussion Missverständnisse ausgeräumt werden können. So sei Lucy Chebout kein "juristisches Leichtgewicht", wie teilweise behauptet wurde, sondern habe mehr verfassungsrechtliche Erfahrung als viele andere der neugewählten Landesverfassungsrichter:innen. Wichtig sei auch zu verstehen, dass Verfassungsrichter:innen nie allein entscheiden, sondern immer in einem pluralistisch zusammengesetzten Spruchkörper.
Antisemitismus: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch spricht sich Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, gegen eine Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens aus. Die wohl als Vorbild gedachte Anti-BDS-Resolution, mittlerweile zu einem "juristischen Gespenst" verkommen, sollte als warnendes Beispiel eines "unerfüllten Versprechens" dienen. Der Sache sei mit einer Solidaritätserklärung weit mehr gedient.
Gewaltschutz: Im Verfassungsblog fordert Lena Gumnior, Doktorandin und Grünen-Politikerin, den Gesetzgeber zu einer möglichst raschen Umsetzung der EU-Gewaltschutzrichtlinie auf. Der hierzu kürzlich vorgestellte Entwurf eines Gewalthilfegesetzes mit seinem Rechtsanspruch auf einen Frauenhausplatz (ab 2030) biete einen Anreiz zum notwendigen Ausbau von Frauenhausplätzen. Gleichzeitig sei die wohl entscheidende Finanzierungsfrage noch offen.
Immissionsschutz: Rechtsanwalt Tobias Roß äußert im Recht und Steuern-Teil der FAZ Zweifel, ob die soeben in Kraft getretene Novelle des Bundesimmissionsschutzgesetzes tatsächlich der entscheidende Wurf ist, um das von der Regierung versprochene "Deutschlandtempo" auch beim Bau industrieller Anlagen durchzusetzen. Trotz sinnvoller Ansätze hänge die Umsetzung letztlich an der gegenwärtig jedenfalls angespannten Personalsituation in den Genehmigungsbehörden.
Justiz
OLG Koblenz zu Anschlag auf Asylheim Saarlouis: Das Oberlandesgericht Koblenz hat Peter St., den damaligen Anführer der Neonazi-Szene von Saarlouis, vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord am Asylbewerber Anthony Yeboah im Jahr 1991 freigesprochen. Seine Aussage "Hier müsste auch mal so was passieren" sei nach Aussage des Hauptbelastungszeugen nicht als Aufforderung zu Brandanschlägen, sondern zu allgemeiner Randale zu verstehen gewesen. Der Haupttäter, der das Asylheim angezündet hatte, wurde bereits verurteilt. Die taz (Joachim F. Tornau) berichtet.
VG Berlin zu Bafög-Höhe: Das Verwaltungsgericht Berlin hält die im Jahr 2021 geltenden Bafög-Sätze für verfassungswidrig niedrig. Die Bafög-Sätze lagen unter den damaligen Hartz-IV-Sätzen. Dies widerspreche dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten. Das VG Berlin legte das Verfahren daher mit einem nun veröffentlichten Beschluss aus dem Juni dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung vor. Dort ist bereits seit 2021 eine ähnliche Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts anhängig, über die noch nicht entschieden wurde. LTO-Karriere berichtet.
BGH zur Ablehnung eines Notarauftrags: In einem nun veröffentlichten Beschluss hat der Bundesgerichtshof Mitte Juni die Voraussetzungen der notariellen Ablehnung eines Auftrags zur Erstellung eines Nachlassverzeichnisses genauer definiert. Im entschiedenen, von beck-aktuell berichteten Fall war der beklagte Notar nicht berechtigt, den Auftrag abzulehnen, weil noch nicht alle Ermittlungsmöglichkeiten ausgeschöpft waren.
AG Berlin-Tiergarten zu Rassismus in Polizeiausbildung: Wegen Beleidigung und Volksverhetzung hat das Berliner Amtsgericht Tiergarten eine Polizeianwärterin zu 120 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt. Die Angeklagte hatte sich mehrfach abwertend gegenüber einem schwarzen Kollegen geäußert. In der Verhandlung habe sie erfolglos versucht, das Gericht davon zu überzeugen, dass eine dabei verwendete "Affen-Geste" tatsächlich ein Huhn darstellen sollte. bild.de (Anne Losensky) berichtet.
AG Berlin-Tiergarten zu Klimaprotest: Das Berliner Amtsgericht Tiergarten hat zwei zur Tatzeit heranwachsende Mitglieder der "Letzten Generation" wegen ihrer Beteiligung am Farbanschlag auf das Brandenburger Tor im September 2023 zur Ableistung von 180 bzw. 200 Sozialstunden verurteilt. spiegel.de berichtet.
Gerichtliche Sachkunde: Auf LTO beantwortet Ex-Bundesrichter Thomas Fischer die Frage, wann Gerichte zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf eigene Sachkunde zurückgreifen können. Nach Überlegungen zur Zeitbedingtheit von Allgemeinwissen oder Alltagskenntnissen gelangt Fischer zur Feststellung, dass es "keine immanenten, funktionsbezogenen oder gar abstrakten Grenzen richterlicher Sachkunde" gebe. Jeder wisse, soviel er weiß und "was man nicht weiß, muss man sich erklären lassen", etwa von sachverständigen Zeug:innen.
Recht in der Welt
Spanien – Katalonien-Konflikt: Der Oberste Strafgerichtshof Spaniens hat wegen Fristversäumnissen die Einstellung aller Ermittlungen im Zusammenhang der separatistischen Gruppe "Tsunami Democratic" angeordnet. Damit ist der Weg für eine Rückkehr der in die Schweiz geflüchteten Marta Rovira, Generalsekretärin der separatistischen Partei ERC, geebnet, schreibt die FAZ (Hans-Christian Rößler). Im Falle des vormaligen katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont hat dieser ein Rechtsmittel gegen die letztwöchige Entscheidung des Gerichts, die jüngst beschlossene Amnestie sei auf ihn nicht anwendbar, eingelegt.
Russland – Theatermacherinnen: Ein Moskauer Militärgericht hat die Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch und die Dramatikerin Swetlana Petrjitschuk wegen "Rechtfertigung von Terrorismus" zu jeweils sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Künstlerinnen hatten ein Stück produziert, das die Anwerbung russischer Frauen durch syrische Islamisten thematisierte. Die FAZ (Kerstin Holm) schreibt, dies sei das erste Mal gewesen, "dass in Russland Künstler wegen eines Kunstwerks ins Gefängnis kommen."
USA – Tesla/anwaltliche Vergütung: Anwälte aus drei Kanzleien fordern vom Autobauer Tesla wegen ihrer Arbeit im Streit über die Vergütung von Firmenchef Elon Musk ein Honorar von insgesamt sieben Milliarden Dollar. Dies sei angemessen, weil sie das Unternehmen vor schwerem Schaden bewahrt hätten. Im zugrundeliegenden Verfahren war die Klage gegen die milliardenschwere Vergütung von Musk zwar erfolgreich. Bei der letzten Hauptversammlung genehmigten dann jedoch die Aktionäre einen vergleichbaren Deal für Musk. SZ (Sebastian Strauss) und spiegel.de berichten.
Juristische Ausbildung
Referendariat NRW: 119 nordrhein-westfälische Referendarsausbilder:innen haben in einem offenen Brief an Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne) und das Landesjustizprüfungsamt die jüngsten Sparmaßnahmen kritisiert. Insbesondere wird die im laufenden Jahrgang zunächst beschlossene Vorziehung der mündlichen Prüfung bemängelt, hierdurch sei eine zusätzliche psychische Belastung der Referendar:innen geschaffen worden. Darüber hinaus wird auch gerügt, dass die mittlerweile verschobene Maßnahme intransparent kommuniziert worden sei, schreibt LTO-Karriere (Joschka Buchholz/Marcel Schneider).
Sonstiges
Anne Brorhilker im Interview: Auch dem Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) gab die frühere Staatsanwältin Anne Brorhilker ein ausführliches Interview, in dem sie über die Medienstrategie und die anwaltliche Arbeitsweise in Cum-Ex-Fällen, mangelndes Unrechtsbewusstsein der Verurteilten sowie ihr Verhältnis zu Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) spricht. Die jetzige NGO-Lobbyistin fordert angesichts der Einstellung des Olearius-Verfahrens eine Aufweichung der Anwesenheitspflicht von Angeklagten.
Wirecard-Insolvenz: Der FAZ (Marcus Jung) liegt der jüngste Sachstandsbericht des Wirecard-Insolvenzverwalters Michael Jaffe vor. Der Rechtsanwalt schildere auf 132 Seiten eine Verschiebung seines Arbeitsschwerpunkts. Dieser liege mittlerweile bei der gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen frühere Manager:innen sowie ein Konsortium von Managerhaftpflichtversicherern.
In einem separaten Kommentar erinnert Marcus Jung (FAZ), dass Sanierung und Insolvenzverwaltung kein Bereich ist, in dem "schnelle, durchschlagende Erfolge" erzielt würden. Dabei würde eine strafrechtliche Verurteilung der am Landgericht München I Angeklagten der Hoffnung, über deren Manager-Haftpflicht-Versicherungen an Geld zu gelangen, wohl ein Ende setzen.
Übergriffe auf Justizpersonal: Auf beck-aktuell berichtet Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, von steigenden Fallzahlen bei Übergriffen auf "Gerichtsvollzieherinnen und Justizwachtmeister, Richterinnen und Staatsanwälten". Die sich mehrenden Bedrohungen, Beleidigungen und in Einzelfällen tätlichen Angriffe gingen weit über die Reichsbürgerszene hinaus und dürften einem allgemeinen Trend zur gesellschaftlichen Verrohung entsprechen.
Kartellrecht und Nachhaltigkeit: Ein vor einem Monat vom wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erstelltes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass kartellrechtliche Lockerungen nur bedingt geeignet seien, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Eben dies werde in einigen europäischen Ländern versucht, während in den USA ein strengerer Ansatz verfolgt werde, so die Anwälte Marcel Nuys und Florian Huerkamp auf LTO.
Spin-off-Gründung: beck-aktuell (Denise Dahmen) stellt sogenannte Spin-off-Gründungen vor, bei denen vorzugsweise junge Anwälte und Anwältinnen einer größeren Kanzlei eine eigene Ausgründung vornehmen. Der Beitrag nennt erfolgreiche Beispiele und gibt Tipps für den Start sowie die saubere Beendigung der alten Arbeitsverhältnissse.
Das Letzte zum Schluss
Souvenir vom Arbeitsplatz: Nicht mehr alle Tassen im Schrank hat die Gigafactory von Tesla im Berliner Umland. spiegel.de berichtet, dass sich der Werksleiter in einer Betriebsversammlung darüber beschwerte, dass seit der Eröffnung vor mehr als zwei Jahren bereits 65.000 der formschönen Ikea-Tassen abhanden gekommen seien. Im Werk sind bis zu 12.000 Mitarbeiter:innen beschäftigt. Um weiterer Schnäppchenjägerei vorzubeugen, werden nun die Bestecke aus den Pausenräumen entfernt.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 10. Juli 2024: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54966 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag