Das LG Lübeck glaubte der Sexsomnia-Behauptung des Angeklagten nicht und verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe. Ex-VW-Chef Winterkorn sagte im Braunschweiger KapMuG-Verfahren aus. Soll es für Hamas-Attentäter ein Sondergericht geben?
Thema des Tages
LG Lübeck zu Missbrauch beim Schlafwandeln: Das Landgericht Lübeck hat den Ex-Staatsanwalt Philipp M., der 2019 seinen achtjährigen Sohn vergewaltigte, wegen besonders schwerem sexuellen Missbrauch gem. § 176 StGB a.F. zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Der Mann hatte behauptet, er erinnere sich nicht an die Tat, die er im Schlaf begangen haben müsse (Sexsomnia). Das Gericht glaubte aber weder dem Vater noch einer Entlastungszeugin, die von früheren Sexsomnia-Übergriffen des Mannes berichtet hatte. Das Gericht ging vielmehr davon aus, dass "die Tat als dysfunktionale Bewältigungsstrategie zu verstehen ist", so die Vorsitzende Richterin. Der Mann habe beruflich unter Druck gestanden, die Ehe sei am Ende gewesen, der "gewaltsame Missbrauch des Sohnes gab ihm für einen Moment das Machtgefühl zurück." Die Verteidigung hat angekündigt, in Revision zu gehen. FAZ (Jannis Holl), SZ (Jana Stegemann), taz (Friederike Grabitz), bild.de, beck-aktuell und LTO (Helena Schroeter) berichten.
Für Annette Ramelsberger (SZ) war das Urteil unvermeidbar. Denn, so fragt sie sich, was hätte ein mittlerweile 13-Jähriger davon halten sollen, der sein Erlebnis vor der Justiz überzeugend schilderte und ausnahmslos alle ihm glaubten, wenn er dann hätte erleben müssen, dass der Täter trotzdem freigesprochen wird?
Rechtspolitik
Vergewaltigung: Angesichts der Debatte um die geplante EU-Richtlinie zum Schutz von Frauen vor Gewalt und die deutsche Ablehnung einer europaweiten "Nur Ja heißt Ja"-Vorgabe widmet sich die SZ (Ronen Steinke) im Feuilleton dem Begriff des "Konsens". Unter ausführlicher Bezugnahme auf das Buch "Gespräch der Geschlechter - eine Philosophie der Zustimmung" der Philosophie-Professorin Manon Garcia wird thematisiert, ab wann ein Konsens vorliegt und dass auch ein vermeintlicher Konsens Ausdruck eines Machtgefälles sein kann.
Lieferketten und Menschenrechte: In einem Streitgespräch mit dem FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler und der Geschäftsführerin des Outdoorausrüsters Vaude Antje von Dewitz spricht die Zeit (Carla Neuhaus/Mark Schieritz) über die deutsche Blockade der EU-Lieferketten-Richtlinie, die Köhler mit dem Hinweis auf zu viel Bürokratie verteidigt. Dagegen betont von Dewitz, dass die geforderte Art von Risikoanalyse ohnehin eine klassische Managementaufgabe sei, die jedes Unternehmen beherrschen sollte.
Künstliche Intelligenz: Ein "Musterbeispiel für schlechte Rechtsetzung" sei die geplante EU-KI-Verordnung (AI Act), schreibt der Physiker und Rechtsanwalt David Bomhard auf beck-aktuell. Die Mitgliedstaaten hätten einem Trilog-Ergebnis zugestimmt, das viele umstrittene Anforderungen sogar noch verschlimmere. Die EU sei Weltspitze im Regulieren und der AI Act wohl leider nicht die letzte Odyssee des Gesetzgebers.
Inwieweit die geplante KI-Verordnung die Urheberrechte von Journalist:innen schützt, untersucht die taz (Christian Rath). Zwar müssen nach Artikel 52c die Anbieter von großen KI-Sprachmodellen "ausreichend detaillierte Zusammenfassungen" veröffentlichen, mit welchen Texten sie ihre KI trainiert haben. Die entscheidende Frage, ob KI-Firmen ohne zu fragen und zu bezahlen ihre Modelle mit journalistischen Texten trainieren durften, bleibe aber offen. Die "Initiative Urheberrecht" prüfe daher Klagen gegen KI-Firmen und hoffe außerdem auf eine Nachbesserung der EU-Urheber-Richtlinie, die eine entsprechende Vergütungspflicht vorsehen soll.
Resilienz des BVerfG: Die SZ (Wolfgang Janisch) schildert in einer Seite 3-Reportage die Diskussion um den Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor Ausschaltung bzw. Blockaden und fasst dabei die bisher diskutierten Vorschläge zusammen. Mit der Richterin Astrid Wallrabenstein spricht der Autor über die Risiken durch einen von einer extremistischen Partei durchgesetzten Verfassungsrichter. Wenn dieser sich als "Systemsprenger" verstehe, könne er jede Kammer-Entscheidung blockieren und so den entsprechenden Senat überlasten. Außerdem könne er die Beratungskultur des BVerfG beeinträchtigen.
Rechtsextremismus: Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de) zeigt sich enttäuscht über das am Dienstag von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorgestellte Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Manches, was die Ministerin vorschlage, gebe es schon und solle nun verstärkt, intensiviert, vertieft oder verbessert werden. Anderes, wie das Demokratiefördergesetz, stecke im koalitionären Streit. Es sei für alle offenkundig, dass es – unterhalb eines Parteiverbots – nur wenig gebe, was nicht schon getan werde oder möglich wäre und noch nützen könnte.
spiegel.de (Peter Maxwill) berichtet über ein Papier ostdeutscher Grünen-Politiker:innen, die Maßnahmen unterhalb eines AfD-Parteiverbots vorschlagen. So soll niemand bei kommunalen Wahlen kandidieren dürfen, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehne. Die Kommunalaufsicht soll gestärkt werden, um nach AfD-Wahlsiegen die jeweiligen Städte und Landkreise besser kontrollieren zu können.
Demokratieförderung: Ein Demokratiefördergesetz sei überflüssig, meint Reinhard Müller (FAZ). Es bedürfe keiner besonderen Förderung bestimmter politischer Vorfeldorganisationen, sondern eines konsequenten Vorgehens gegen Extremist:innen aller Art.
Völkerstrafrecht: Im Verfassungsblog bedauert Habilitantin Anne Dienelt, dass die anstehende Reform des Völkerstrafrechts nicht dazu genutzt wird, auch die Regelungen von Kriegsverbrechen gegen die Umwelt in § 11 Abs. 3 VStGB zu ändern. Zumindest zu redaktionellen Korrekturen hätte das aktuelle Gesetzgebungsverfahren genutzt werden sollen. Bedauerlich sei zudem, so die Autorin, dass Straftaten gegen die Umwelt in der aktuellen Version des VStGB nur für den internationalen bewaffneten Konflikt, also Kriege zwischen Staaten wie aktuell im Russland-Ukraine-Konflikt, kriminalisiert werden.
Justiz
OLG Braunschweig – KapMuG-Verfahren VW: Ex-VW-Chef Martin Winterkorn hat im Kapitalanleger-Musterverfahren zum VW-Dieselkandal als Zeuge ausgesagt. Er habe erst "sehr spät" und "zunächst nur unvollständig" von Problemen mit den US-Behörden erfahren. "Wäre mir ein vollständiges Bild von den internen Vorgängen in den verantwortlichen Fachabteilungen vermittelt worden, hätte ich nicht gezögert, die Vorgänge direkt anzugehen und aufzuklären", so Winterkorn. Das parallele Strafverfahren gegen Winterkorn könnte am Landgericht Braunschweig im Herbst beginnen, ein neues medizinisches Gutachten geht davon aus, dass Winterkorn ab September wieder verhandlungsfähig ist. FAZ (Marcus Jung/Christian Müßgens), SZ (Saskia Aleythe), Hbl (René Bender/Volker Votsmeier), Welt (Daniel Zwick) und LTO berichten.
Nach dem Auftritt im Anlegerprozess gebe es keine Ausrede mehr: Die Strafverfahren gegen den prominentesten Ex-VW-Manager müssten schnell anlaufen, fordert Christian Müßgens (FAZ) in einem separaten Kommentar. Niedersachsens Justiz müsse nun den Start der Verfahren wegen Marktmanipulation, Betrugs und Falschaussage forcieren – alles andere wäre ein Armutszeugnis.
OLG München – KapMuG-Verfahren Wirecard: Das Oberlandesgericht München hat mitgeteilt, dass der KapMuG-Prozess in Sachen Wirecard voraussichtlich erst im Herbst mit der mündlichen Verhandlung beginnen wird. Begründet wurde dies mit der großen Zahl der betroffenen Anleger:innen, die sich dem Musterkläger angeschlossen haben. Insgesamt gehe es um mehr als 3500 Beteiligte. In dem Verfahren müssen sich neben der insolventen Wirecard AG und deren Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY auch der ehemalige Konzernchef Markus Braun sowie der frühere Wirecard-Statthalter in Asien, Oliver Bellenhaus, den Ansprüchen der Anleger stellen. Es berichten FAZ (Marcus Jung) und beck-aktuell.
LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Über den Prozessfortgang im Wirecard-Strafverfahren gegen Markus Braun berichten die FAZ (Henning Peitsmeier) und SZ (Johannes Bauer). Kronzeuge Oliver Bellenhaus beantwortete einen Katalog von 273 Fragen, den er zuvor von Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm erhalten hatte, ließ aber keine Rückfragen der Verteidigung zu. Bellenhaus blieb bei seiner Darstellung, dass es die Drittpartnergeschäfte in Asien nicht gab und Braun dies wusste.
OLG Frankfurt/M zu Phishing-Betrug: Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. bleibt ein Rechtsanwalt und Steuerberater auf einem Schaden von 50.000 Euro sitzen, der ihm durch einen Phishing-Betrug entstanden ist. Er habe Kriminellen nicht nur fahrlässig den Zugang zu seinem Bankkonto gegeben, so das Gericht, sondern zudem die Erhöhung des Überweisungslimits bestätigt. spiegel.de berichtet über die Entscheidung.
LG Frankfurt/M. zu Impfschaden: Das Landgericht Frankfurt/M. hat die Schadensersatzklage einer Frau abgewiesen, die behauptete, durch eine Corona-Schutzimpfung einen Herzschaden erlitten zu haben. Die Klage scheiterte schon daran, dass bei der Zulassung des Impfstoffs kein unvertretbares Nutzen-Risiko-Verhältnis festgestellt wurde. Außerdem habe die Klägerin nicht dargelegt, dass sie die Beschwerden vor der Impfung noch nicht hatte. Die 150.000 Euro-Forderung gegen den Hersteller Biontech wurde daher abgelehnt. LTO berichtet.
LG Essen zu Suizidhilfe für psychisch Kranken: Ausführlich schreibt nun auch die Zeit (Martina Keller) über den Prozess gegen einen Arzt, der Anfang Februar vom Landgericht Essen wegen Totschlags in mittelbarere Täterschaft zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der Mediziner hat einem 42-jährigen Mann, der an Schizophrenie erkrankt war, beim Suizid geholfen.
LG Berlin I – Vergewaltigung im Görlitzer Park: Das Strafverhandlung über die angeklagte Gruppen-Vergewaltigung einer Georgierin im Görlitzer Park soll am heutigen Donnerstag ausgesetzt werden und im Herbst neu beginnen, hat spiegel.de (Julia Jüttner) erfahren. Die georgische Operzeugin soll im Herbst über die deutsche Botschaft in Tiflis befragt werden. Das Gericht will ein förmliches Ersuchen an Georgien stellen, was einige Monate dauern könne.
AG Wuppertal – Stalking: Das Amtsgericht Wuppertal verhandelt derzeit einen Stalking-Fall, in dem sich ein 52-Jähriger verantworten muss, der sich selbst als "Dozent für toxische Beziehungen" bezeichnet und eine entsprechende Selbsthilfegruppe gegründet hatte. Der Mann soll laut LTO seiner ehemaligen Lebensgefährtin massenhaft Textnachrichten und Mails geschickt und versucht haben, sie im sozialen Umfeld in Misskredit zu bringen. Er behauptet jedoch, selbst Opfer von Stalking geworden zu sein.
BSG-Präsidentin Fuchsloch: Mit einem Festakt wurde die designierte Präsidentin des Bundessozialgerichts Christine Fuchsloch in ihr Amt eingeführt, das sie zum 1. März übernimmt. Dabei kritisierte sie die geplante Kindergrundsicherung wegen der vorgesehenen komplizierten Verwaltungsstrukturen. beck-aktuell berichtet.
Recht in der Welt
Israel – Angriff der Hamas: In Israel wird über den juristischen Umgang mit Palästinensern diskutiert, die im Zusammenhang mit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober festgenommen worden waren. Kürzlich hatte der frühere Leiter der Abteilung für internationale Angelegenheiten der Obersten Staatsanwaltschaft Yuval Kaplinsky vorgeschlagen, ein Sondergericht zum 7. Oktober einzurichten. Vorbild für die Überlegungen sei dabei auch der Prozess gegen Adolf Eichmann gewesen. Das Justizministerium tendiere dagegen zu einem klassischen Strafprozess, auch um der Kritik vorzubeugen, Israel setze rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft. Es berichtet die FAZ (Alexander Haneke).
IStGH - Angriff der Hamas: Angehörige der israelischen Geiseln haben dem Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof Karim Khan Zeugenaussagen zu den am 7. Oktober im Süden Israels begangenen Massakern überreicht. Sie fordern eine Anklage der Hamas-Führung wegen Kriegsverbrechen. Die taz (Tobias Müller) berichtet.
IGH/Israel – Krieg in Gaza: Südafrika hat beim Internationalen Gerichthof einen neuen Eilantrag gestellt, mit dem weitere Schutzmaßnahmen für die Palästinenser:innen in Gaza erreicht werden sollen. Anlass ist die geplante israelische Militäroperation gegen die Grenzstadt Rafah im Süden des Gazastreifens. Es berichtet LTO (Max Kolter). Rechtsprofessor Michael A. Becker erläutert im Verfassungsblog (in englischer Sprache) den rechtlichen Rahmen des Antrags.
Österreich – Sebastian Kurz: Über den derzeit laufenden Prozess gegen den früheren österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, der sich wegen des Vorwurfs der falschen Zeugenaussage verantworten muss, berichtet die Zeit (Christina Pausackl). Kurz soll im Jahr 2020 als Auskunftsperson im parlamentarischen Ibiza-Untersuchungsausschuss gelogen haben. Unter anderem soll er seine Rolle bei Postenbesetzungen in der österreichischen Staatsholding Öbag heruntergespielt haben – und zwar vorsätzlich, um seine eigene Reputation und die seiner Partei ÖVP zu schützen.
Juristische Ausbildung
Erstes Staatsexamen: LTO schreibt über eine neue Initiative für eine Reform des Ersten juristischen Staatsexamens. Vertreter von 16 Rechtsfakultäten haben nach einem Vorstoß der Bucerius Law School ihre entsprechenden Forderungen in einem "Hamburger Protokoll" zusammengefasst. Unter anderem sprechen sie sich für eine Reduzierung des Pflichtfachstoffes aus, der im Ersten Staatsexamen geprüft wird sowie für die Einführung eines ins Jurastudium integrierten Bachelor-Abschlusses.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/pf/chr
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 15. Februar 2024: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53877 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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