Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat ein EU-rechtliches Gutachten zur Cannabis-Reform vorgelegt. EU-Innenminister:innen diskutieren über Asyl-Krisen-Verordnung. Gegen die Justizreform wurde bei Israels Oberstem Gericht geklagt.
Thema des Tages
Cannabis: Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat ein differenziertes Gutachten zur rechtlichen Machbarkeit der geplanten Cannabis-Legalisierung verfasst. Europarechtlich sei davon auszugehen, dass "der ausschließlich zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken erfolgende Umgang mit Cannabis legalisiert werden darf." Möglich sei es daher, den Privatkonsum und seine Vorbereitungshandlungen (Besitz, Kauf und Anbau) straffrei zu stellen, was faktisch eine Entkriminalisierung wäre. Damit dürfte der im Juli vorgelegte Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums, der bei Abfassung des Gutachtens noch nicht bekannt war, grundsätzlich europarechts-konform sein. Die von der Regierung geplanten Cannabis-Clubs (Anbauvereinigungen) müssten allerdings laut Gutachten streng auf ortsansässige Personen begrenzt werden und dürften keine kommerziellen Ziele verfolgen. Probleme könnte es jedoch mit der geplanten kommerziellen Abgabe in ausgewählten Modellregionen samt wissenschaftlicher Evaluation geben, die in einem zweiten Gesetzentwurf geregelt werden sollen. Es sei laut Gutachten fraglich, ob die Beschaffungsmaßnahmen "wie etwa die Einrichtung eines staatlichen/staatlich kontrollierten Anbau- und Abgabesystems zu Genusszwecken von der mitgliedstaatlichen Entkriminalisierungsfreiheit gedeckt sind." LTO (Hasso Suliak) und spiegel.de (Milena Hassenkamp) berichten.
Rechtspolitik
Asyl: Wie die taz (Christian Jakob) berichtet, beraten die EU-Innenminister:innen über einen Vorschlag der EU-Kommission zur weiteren Verschärfung des Asylrechts. Es geht um die sogenannte Krisenverordnung, nach der die Mitgliedstaaten in Ausnahmesituationen Standards für die Flüchtlingsaufnahme und für die Asylverfahren absenken und Grenzübergänge schließen können. Ausnahmesituationen sind etwa politische Krisen, höhere Gewalt und eine Instrumentalisierung von Geflüchteten durch Nachbarstaaten. Die ankommenden Geflüchteten sollen dann in das sogenannte Grenzverfahren genommen werden können, wobei sie bis zu 40 Wochen festgehalten werden dürfen.
Im Interview mit SWR-Radioreport-Recht (Max Bauer) kritisiert die Rechtsanwältin Maria Kalin an der geplanten Reform des europäischen Asylsystems, dass das Festhalten von Geflüchteten an den Außengrenzen auch den Zugang zu Anwält:innen und damit den effektiven Rechtsschutz im Asylverfahren erschwere.
Justiz
EuGH – Lufthansa/Corona-Hilfen: Im Streit um die milliardenschweren Corona-Staatshilfen für die Lufthansa hat das Unternehmen beim Europäischen Gerichtshof Berufung gegen das Urteil des EU-Gerichts aus dem Mai eingelegt, wonach die EU-Kommission die Hilfen des deutschen Staats nicht hätte genehmigen dürfen. Offen ist noch, ob die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung der Berufung beitreten. Geklagt hatten Ryanair und Condor. Es berichten FAZ (Timo Kotowski) und spiegel.de.
BGH zu beA: Wenn das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) eine in der Dauer nicht absehbare Störung hat, dürfen Rechtsanwält:innen unter Glaubhaftmachung der Störung (z.B. durch Screenshot) auf andere Übermittlungsformen zurückgreifen und müssen nicht die Behebung der Störung abwarten, entschied der Bundesgerichtshof in einem jetzt veröffentlichten Urteil aus dem Mai. Geklagt hatte ein Anwalt, der eine Revisionsbegründung aufgrund einer Störung im Wege der Ersatzeinreichung nach § 130d Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) per Post und Fax eingereicht hatte. Der BGH gab ihm Recht und stellte klar, dass die digitale Form der Revisionsbegründung eine Zulässigkeitsvoraussetzung sei und deswegen auch im Falle einer Ersatzeinreichung von Amts wegen geprüft werde. LTO (Martin W. Huff) berichtet.
BGH zu Betrug mit Corona-Tests/Verständigungs-Gespräch: Der Bundesgerichtshof hat ein Urteil des Landgerichts Bochum zu einem groß angelegten Betrug mit falsch abgerechneten Corona-Tests nach einer Verfahrensrüge des Angeklagten aufgehoben, wobei es um eine Schadenssumme für den Bund von 24,5 Millionen Euro geht. Das LG hatte nicht über ein mitteilungspflichtiges Gespräch zwischen dem Vorsitzenden Richter und den Verteidigern in einer Sitzungspause in Bezug auf eine Verständigung informiert und damit gegen die StPO verstoßen. Nun muss es neu verhandeln. Die SZ berichtet.
BAG zu Equal Pay/Verhandlungen: Im Expertenforum Arbeitsrecht schreibt die Anwältin Nora Nauta nach der Veröffentlichung der Urteilsgründe des Bundesarbeitsgerichts zu geschlechtsspezifischen Gehaltsunterschieden aus dem Februar über die Konsequenzen des Urteils. Sofern eine Arbeitnehmerin aufzeigen könne, dass ein männlicher Kollege trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit mehr verdient, sei dies nach den Feststellungen des BAG ausreichend, um eine Benachteiligung wegen des Geschlechts zu vermuten. Zur Widerlegung dieser Vermutung stellt das Verhandlungsgeschick eines Arbeitsnehmers für sich allein betrachtet kein geeignetes objektives Differenzierungskriterium dar.
LG München I zu Vorlage gefälschter Prädikatsexamina: Das Landgericht München I hat die Berufungen gegen das Urteil zu dem Studienabbrecher, der mit gefälschten Prädikatsexamina jahrelang in Großkanzleien arbeitete, im wesentlichen verworfen. Das Amtsgericht München hatte ihn Ende 2020 wegen vollendeten und zum Teil nur versuchten Betruges in sechs und wegen Urkundenfälschung in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft wollte erreichen, dass die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, woran des LG aber festhielt. Die Berufung der Verteidigung verneinte den Vermögensschaden, weil der Jurist ja Arbeitsleistungen erbracht hatte. Das LG setzte dennoch sein gesamtes Gehalt als Vermögensschaden fest - obwohl es bei der Einziehung des Gehalts dann doch im Sinne der Verteidigung argumentierte, was LTO (Leonie Ott/Markus Sehl) widersprüchlich findet.
LG Hamburg zu Till Lindemann: Der Rammstein-Sänger Till Lindemann ist vor dem Landgericht Hamburg erfolgreich gegen die YouTuberin Kayla Shyx vorgegangen, der im einstweiligen Rechtsschutz nun sechs Aussagen in einem Video verboten wurden. Darunter ist etwa die Behauptung, dass Frauen "unter Drogen gesetzt" worden seien. Als Zuschauer:in gehe man kontextual davon, dass die Vergabe von K.O.-Tropfen auf Lindemann zurückginge. Es darf auch nicht behauptet oder nahegelegt werden, dass Lindemann "Mädchen missbraucht". Auch die Meinungsäußerung, die Lindemann mit einem pädophilen Vergewaltiger gleichstellt, ist mangels Anknüpfungstatsachen unzulässig. LTO (Felix W. Zimmermann) berichtet und geht zudem auf anhaltende Auseinandersetzungen des Spiegels mit Lindemanns Anwälten ein.
LG Frankfurt/M. zu Reiserecht: Nach einem Urteil des Landgerichts Frankfurt/M. hätte sich ein Paar vor seiner Rundreise durch Ecuador eigenständig über die klimatischen Bedingungen informieren müssen, sodass ihm wegen Regen und Nebel kein Anspruch auf eine nachträgliche Preisminderung gem. §§ 651i, 651m Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zusteht. Den Reiseveranstalter traf keine Pflicht, auf die Regenzeit in Ecuador hinzuweisen. Von den 18.000 Euro, die das Paar für die einwöchige Rundreise zahlte, sprach das Gericht ihnen jedoch eine Rückzahlung von 800 Euro zu, weil es in einem Hotel kein warmes Wasser gab, ein Ausflug zu einer Fledermaushöhle entfiel und ein Zielflughafen verlegt wurde. LTO berichtet.
VG Köln zu Waffenrecht für Graue Wölfe: Das Verwaltungsgericht Köln hat die Eilanträge zweier Mitglieder des Türkisch-Demokratischen Idealistenvereins in Deutschland e.V. (ADÜTDF) gegen den Widerruf ihrer waffenrechtlichen Erlaubnis abgelehnt. Mitglieder der "Ülkücü"-Bewegung, auch "Graue Wölfe" genannt, seien voraussichtlich waffenrechtlich unzuverlässig, weil hinreichend Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt werden, so das Gericht unter Bezugnahme auf die Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz. LTO berichtet.
VG Düsseldorf zu rechtsextremen Polizei-Chats: Zwei junge Polizeianwärter hatten Nachrichten mit antisemitischen und rassistischen Inhalten verschickt und haben nun erfolglos vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf gegen ihre Entlassungen aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf geklagt. Das VG wertete die Nachrichten als stark menschenverachtend und sieht eine charakterliche Eignung als nicht gegeben an. Ein 26-Jähriger hatte mit Hitler-Bildern und Textzusätzen den Nationalsozialismus verharmlost und ein 21-Jähriger hatte unter anderem ein Ortsschild mit dem Zusatz: "Juden werden hier nicht bedient" gepostet. LTO berichtet.
VG Trier zu Entlassung von Lehrerin: Das Verwaltungsgericht Trier hat einer Klage des Landes Rheinland-Pfalz stattgegeben und eine Lehrerin wegen fremden- und staatsfeindlicher Äußerungen aus dem Dienst entfernt. Sie hatte sich seit Jahren auf Demonstrationen und auf sozialen Medien kritisch zur Migrations- und Coronapolitik geäußert und dabei laut Gericht "unaufhörlich mit drastischer Diktion gegen Politiker, den Staat, seine Organe, gegen die EU, deren Organe und auch gegen Migranten gehetzt". Unter anderem hatte sie geäußert: "Unsere Politiker prügeln unser Recht auf Meinungsfreiheit mit Nazikeulen und Hasshetze nieder." LTO berichtet.
Recht in der Welt
Israel – Justizreform: Nachdem das israelische Parlament am Montag per Gesetz dem Obersten Gericht die Befugnis entzogen hat, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister:innen als "unangemessen" einzustufen, wurden beim Obersten Gericht mindestens sechs Petitionen hiergegen eingereicht. Unter anderem die Rechtsanwaltskammer und das Movement for Quality Government (MQG) forderten das Gericht damit auf, gegen das beschlossene Gesetz vorzugehen. Ob es dazu kommen wird, ist ungewiss. Während der israelische Rechtswissenschaftler Yoav Dotan das nur für schwer vorstellbar hält, weil es sich nicht um die Verabschiedung eines einfachen Gesetzes handele, sondern um die eines Grundgesetzes, wogegen der Oberste Gericht noch nie vorgegangen sei, hält der Verfassungsrechtler Amir Fuchs eine Intervention des Gerichtshofs mit Blick auf die Schwere des Eingriffs in das Verfassungsgefüge für möglich. Unklar ist bislang, auf welcher Rechtsgrundlage das Gericht überhaupt agieren könnte. Es berichtetn SZ (Peter Münch/Sina-Maria Schweikle) mit einer Seite-Drei-Reportage, FAZ (Christian Meier), taz (Jannis Hagmann), Welt, Hbl (Mareike Enghusen), zeit.de und LTO.
Alexander Haneke (FAZ) kommentiert, dass der nächste Schritt der Reform die Ernennung von Richter:innen durch die Regierungsmehrheit sei, was jedoch noch ein langer Weg sei. Netanjahu sei zwischen seinen Koalitionspartnern und den Protestierenden festgefahren und so könne es sein, dass die Opposition am Ende womöglich über ihren Schatten springen müsse, um in einer Koalition mit Netanjahu den Staat vor den Extremisten zu retten.
Belgien – Prozess zu islamistischen Anschlägen: Im Prozess um die Anschläge am 22. März 2016 in Brüssel mit insgesamt 35 getöteten und 340 verletzten Menschen wurden in Brüssel sechs der zehn Angeklagten wegen terroristischer Morde schuldig gesprochen. Drei wurden von diesem Vorwurf freigesprochen und bei einem Angeklagten wird davon ausgegangen, dass er zwischenzeitlich in Syrien verstorben ist. Es gab mehr als 900 Nebenkläger:innen und die zwölfköpfigen Jury hat das Urteil nach einer mehr als zweiwöchigen Beratung ohne Kontakt zur Außenwelt gefällt. Es berichten spiegel.de und zeit.de.
USA – Migration aus Mexiko: Ein Bundesbezirksgericht in San Francisco hat die seit Mai geltenden Regeln zur Begrenzung der Migration aus Mexiko für rechtswidrig erklärt. Die von Joe Bidens Regierung erlassenen Vorschriften sehen unter anderem ein fünfjähriges Wiedereinreiseverbot vor, wenn Migrant:innen auf irregulärem Wege versuchen, ins Land zu kommen. Es können auch Geld- und Gefängnisstrafen verhängt werden. Außerdem müssen Asylsuchende ihren Asylantrag in ihren Heimatländern oder in Transitländern auf dem Weg in die USA stellen. Migrant:innen dürfen der Regelung nach aber auch nicht ohne reguläres Verfahren abgeschoben werden, was während der Corona-Pandemie möglich war. Die Regierung will Berufung einlegen. Es berichtet spiegel.de.
Nachdem der republikanische Gouverneur Greg Abbott in Texas veranlasst hatte, an der Grenze zu Mexiko auf dem Rio Grande zur Abwehr von Migrant:innen über mehrere Hundert Meter Bojen in der Größe von Abrissbirnen zu verlegen, hat das US-Justizministerium dagegen nun eine Zivilklage eingereicht. Es berichten FAZ (Sofia Dreisbach) und spiegel.de.
Großbritannien – Kevin Spacey: Am Londoner Southwark Crown Court wurden die Schlussplädoyers im Prozess gegen Schauspieler Kevin Spacey gehalten, dem sexuelle Übergriffe gegen vier Männer vorgeworfen werden. Spacey bestreitet die Vorwürfe. Die zwölfköpfige Jury hat sich zur Beratung zurückgezogen. Sollten sie Spacey einstimmig für schuldig befinden, wird der Richter danach über das Strafmaß entscheiden. spiegel.de berichtet.
Sonstiges
Politischer Streik; Im Interview mit LTO (Tanja Podolski) spricht die Referendarin Theresa Tschenker über ihr Dissertationsthema des politischen Streiks. Sie begründet ein Recht zum politischen Streik rechtshistorisch und auf Basis eines Rechtsvergleichs und fragt, warum politische Themen beim Streik ausgespart werden sollten, wenn sie doch ganz grundlegend die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Menschen mitbestimmen? Rechtlich würde eine Änderung der Rechtsprechung zur Ermöglichung des politischen Streits ausreichen.
Das Letzte zum Schluss
Betrunken zur Polizei: Im Rhein-Neckar-Kreis fuhr eine Frau mit 2,3 Promille Auto und musste ihren Führerschein abgeben. Erwischt wurde sie auf der Polizeistation, wo sie vorgefahren war, um in einer anderen Sache Anzeige zu erstatten. Dabei lallte sie allerdings recht stark. Die SZ berichtet.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/tr/chr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 26. Juli 2023: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52342 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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