Karlsruhe befasst sich am Dienstag erneut mit der europäischen Finanzpolitik. Die StA Hildesheim klagt eine ungeimpfte Pflegerin wegen Corona-Toten an. Eine neue Kölner Law Clinic berät Influencer:innen.
Thema des Tages
BVerfG – Corona-Aufbaufonds: Erneut muss sich das Bundesverfassungsgericht mit dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds befassen, der den EU-Staaten helfen soll, die Folgen der Corona-Pandemie zu überwinden. An diesem Dienstag (und vielleicht auch am Mittwoch) wird in Karlsruhe über zwei Verfassungsbeschwerden gegen das deutsche Ratifizierungsgesetz verhandelt, mit dem der deutsche Gesetzgeber dem Programm „Next Generation EU“ zugestimmt hatte. Die Beschwerdeführer rügen, dass der Hilfsfonds als Transferinstrument wirke, von dem vor allem hoch verschuldete Staaten wie Italien profitierten und dass durch die Haftungsrisiken die Budgethoheit des Bundestages verletzt sei. Kläger sind AfD-Gründer Bernd Lucke und Ex-BDI-Chef Heinrich Weiß. Im April 2021 hatte das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung gegen die deutsche Ratifizierung abgelehnt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits im Mai 2020 der Europäischen Zentralbank vorgeworfen hatte, mit ihrem PSPP-Anleiheankaufprogramm ihre Kompetenz überschritten zu haben, ballten sich nun um die EU-Finanzpolitik "abermals Gewitterwolken zusammen", schreibt die Mo-FAZ (Katja Gelinsky).
Rechtspolitik
Strafzumessung: Die Doktorandin Dilken Çelebi plädiert im Verfassungsblog für die von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) angekündigte Erweiterung der ausdrücklich in § 46 StGB benannten Strafzumessungsgründe. Der Vorstoß, geschlechtsspezifische Gewalt als solche zu benennen, ihre Bagatellisierung zu verhindern und damit ein Signal an die Gesellschaft zu senden, sei in höchstem Maße zu begrüßen, meint die Autorin.
Elektronische Beweismittel: Laut netzpolitik.org (Matthias Monroy) befinden sich die EU-Verhandlungen zur geplanten E-Evidence-Verordnung "auf der Zielgeraden" und könnten noch in diesem Jahr abgeschlossen werden. Der Vorschlag für eine Verordnung zur Sicherung und Herausgabe von elektronischen Beweisen sieht u.a. vor, dass die Strafverfolgungsbehörden Internetdienstleister aus einem anderen Mitgliedstaat zur Übermittlung von Nutzerdaten verpflichten können. Laut einer ebenfalls vorgesehenen Richtlinie werden entsprechende Unternehmen außerdem zur Benennung von Ansprechstellen verpflichtet.
Elternschaft: Es habe nichts mit Gerechtigkeit zu tun, schreibt Ex-Bundesrichter Thomas Fischer auf spiegel.de, ob auch eine Ehefrau und nicht nur wie bisher der Ehemann einer leiblichen Mutter automatisch mit der Geburt des Kindes als zweites Elternteil anerkannt werden sollte. Ex-Bundesreichter Fischer widerspricht hierbei Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne). Gerechtigkeit sei kein vernünftiges Argument dafür, Ungleiches gleich zu behandeln, so Fischer. Biologie sei das eine, soziale Wirklichkeiten das andere, Sprachkontrolle ein Drittes.
§ 175 StGB: Wie LTO berichtet, wurde die Frist für Entschädigungsanträge von Personen, die einst nach § 175 StGB strafverfolgt wurden, bis zum 21. Juli 2027 verlängert. Ein 2017 verabschiedetes Gesetz hob Verurteilungen wegen homosexuellen Verhaltens pauschal auf und gestand den Betroffenen einen Schadensersatzanspruch zu, der allerdings innerhalb von 5 Jahren geltend zu machen war. Diese Frist wurde jetzt um weitere 5 Jahre verlängert.
Gesetzessprache: LTO (Anja Hall) stellt das Projekt des Siegener Sprachwissenschaftlers Friedemann Vogel vor, der mit einem Team die Arbeit der im Bundesjustizministerium angesiedelten "Gesetzesredaktion" untersucht. Vogel fordert eine stärkere Zusammenarbeit zwischen juristischen und linguistischen Fachleuten im Laufe von Gesetzgebungsverfahren, denn wenn eine Qualitätsprüfung erst am Ende der Gesetzgebung erfolge, sei das in aller Regel zu spät.
Neue Verfassungsrichter:innen: Über den Richterwechsel beim Bundesverfassungsgericht berichtet jetzt auch die Sa-FAZ (Marlene Grunert). Präsident Stephan Harbarth verabschiedete in einer Feierstunde am Freitag Andreas Paulus und begrüßte als neuen Richter den Bayreuther Staatsrechtler Heinrich Amadeus Wolff. Paulus war der erste von insgesamt sieben Richter:innen, die Karlsruhe in diesem und nächstem Jahr verlassen und deshalb ersetzt werden müssen.
Justiz
LG Hildesheim – fahrlässige Tötung durch Corona: Die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat eine Pflegerin in einem Altenheim angeklagt, weil sie ihrem Arbeitgeber einen gefälschten Impfpass vorgelegt und später einen Arbeitskollegen infiziert haben soll, der das Virus mutmaßlich weitergetragen habe. 14 weitere Menschen, 3 Beschäftigte und 11 Bewohnerinnen und Bewohner hätten sich in der Folge angesteckt, drei Frauen starben. Bislang gab es offenbar keinen Prozess, in dem Angeklagten vorgeworfen wurde, das Coronavirus in ein Pflegeheim eingeschleppt und auf diese Weise den Tod von Menschen verursacht zu haben, heißt es im Spiegel (Christoph Heinemann/Ansgar Siemens u.a.).
GBA – Lauterbach-Entführung u.a.: Ein Mitglied der Gruppe, die geplant hatte, Bundesgesundheitsminister Lauterbach zu entführen, hat ein umfangreiches Geständnis abgelegt, berichtet der Spiegel (Matthias Bartsch/Sven Röbel u.a.). Danach sollte der Kidnapping-Plan mit dem Codenamen "Aktion Klabautermann" der Auftakt eines politischen Umsturzes in Deutschland sein, an dessen Ende die Absetzung der Bundesregierung und die Renaissance des Deutschen Reichs stehen sollte.
LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Vom Prozess um den Einbruch in das Dresdener Grüne Gewölbe berichtet spiegel.de (Wiebke Ramm). Bei der Verhandlung in der vergangenen Woche sollte eigentlich ein Mithäftling eines der sechs Angeklagten aussagen. Er soll bei der Polizei detailliert über Gespräche mit Abdul Majed Remmo berichtet haben, wollte sich aber jetzt im Prozess nicht erinnern.
LG München I – Dieter Wedel: Reinhard Müller (FAS) kritisiert, dass das Landgericht München I wegen des zwischenzeitlichen Todes von Dieter Wedel nicht verkünden konnte, ob es die Vergewaltigungs-Anklage gegen den Regisseur überhaupt zugelassen hätte. Die Dauer des Verfahrens sei ein Skandal, der alle Beteiligte belastet habe. Ganze drei Jahre lang habe die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt, und deutlich länger als ein Jahr habe dann noch das Gericht für die Entscheidung über die Zulassung der Anklage gebraucht.
AG München zu "Lost place": Keinen Erfolg hatte ein US-Unternehmen, dem eine Burg gehört und das gegen einen Webseitenbetreiber geklagt hatte, der Fotos dieser Burg unter der Bezeichnung "lost place" verbreitet hatte. Das Amtsgericht München hat eine Schadensersatzklage abgewiesen; dem Unternehmen stünden keine Urheberrechte zu und auch die Kategorisierung als "lost place" verletzte das Unternehmen nicht in seinen Rechten, weil es sich "um eine offenkundig wahre Tatsachenbehauptung" handele. LTO berichtet.
Cannabis-Ermittlungen: Wie 0,63 Gramm Marihuana eine ganze Ermittlungsmaschinerie zwölf Monate lang beschäftigte, erzählt Ronen Steinke (Sa-SZ) in seiner Kolumne "Vor Gericht" anhand eines Falles aus Baden-Württemberg. In einem Paketzentrum hatte ein Mitarbeiter einen Umschlag entdeckt und der Polizei gemeldet. In der Folge waren neben der Polizei mehrere Staatsanwälte und Forensiker mit der Aufklärung befasst. Manchmal erlebe man einen Rechtsstaat, der ans Äußerste gehe, als ginge es um Gewaltverbrechen, wundert sich Steinke.
Zivilprozess – Strukturierter Parteivortrag: Bayern und Niedersachsen haben ein "Reallabor" angekündigt, in dem der Prototyp einer Strukturierungssoftware in Gerichtsverfahren erprobt werden soll. Dem Projekt liege, wie jetzt auch ZPO-Blog (Peter Bert) erläutert, ein Vorschlag des früheren Richters und späteren Rechtsprofessors Reinhard Greger zugrunde, der darauf abzielt, "dass die Parteivertreter ihre Tatsachenbehauptungen nicht nur in einzelnen Dateien dem Gericht unterbreiten, sondern diese in ein einheitliches Dokument eingeben. Aus diesem würde sogleich ersichtlich, wo Übereinstimmungen bestehen und wo die Streitpunkte liegen." Der Vorschlag ist nicht unumstritten, die Präsidentin des Deutschen Anwaltverein hatte eine digital vorgegebene Vortragsstruktur vor einiger Zeit abgelehnt.
Recht in der Welt
USA – Abtreibungsrecht: Ein Gericht in Kentucky hat das (nach der Supreme-Court-Entscheidung Dobbs v. Jackson) im US-Bundesstaat Kentucky in Kraft getretene restriktive Abtreibungsrecht gestoppt. Es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die fraglichen Gesetze das Recht der Frauen auf Privatsphäre und Selbstbestimmung gemäß der Verfassung des Bundesstaates sowie das Recht auf gleichen Schutz und Religionsfreiheit verletze, so der Richter laut spiegel.de.
Die FAS (Johannes Pennekamp) fasst mehrere Untersuchungen zu den ökonomischen Folgen eines restriktiven Abtreibungsrechts zusammen. So habe die Turnaway-Studie festgestellt, dass bei 40 Prozent der befragten Frauen, finanzielle Gründe als Motivation für eine Abtreibung nannten. Außerdem habe die Erhebung gezeigt, dass Frauen, denen eine Abtreibung verweigert wurde, "eine schlechtere Gesundheit und höhere Armutsquoten hatten und in den nächsten fünf Jahren mehr öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten". Eine andere Studie habe ergeben, dass liberale Abtreibungsgesetze auf der anderen Seite zu weniger Kriminalität führen.
USA – Waffenrecht: zeit.de berichtet über ein neues kalifornisches Gesetz, nach dem künftig Zivilklagen gegen Personen möglich sind, die Sturmgewehre oder andere illegale Waffen herstellen oder verkaufen. Die Neuregelung orientiert sich – mit anderer Zielrichtung – an einer Regelung des Abtreibungsrechts in Texas, das ebenfalls eine Rechtsdurchsetzung durch Private ermöglicht.
USA – Migrationsrecht: Der US-Supreme Court hat laut LTO eine Regelung des neuen Gesetzespakets zum Migrationsrecht gestoppt, die Einwanderungsbeamt:innen in den USA mehr Ermessensspielraum bei Abschiebungen ließ. Die Entscheidung des Supreme Court fiel mit fünf zu vier Stimmen knapp aus, die konservative Richterin Amy Coney Barrett hatte mit den drei liberalen Richterinnen gegen die Mehrheit gestimmt.
USA – Twitter vs. Musk: Rechtsanwalt Jürgen R. Ostertag fasst auf LTO noch einmal zusammen, worum es in dem Rechtsstreit zwischen dem Kurznachrichtendienst Twitter und dem Investor Elon Musk geht, der ab Oktober im US-Bundesstaat Delaware verhandelt wird. Twitter will durchsetzen, dass Musk seine ursprüngliche Absicht, das Unternehmen zu erwerben, umsetzt. Der Autor stellt die Erfolgsaussichten sowie die Argumente und Gegenargumente der Klage dar.
EU – Großbritannien/Brexit: Wie LTO berichtet, hat die EU-Kommission vier Verfahren gegen Großbritannien eingeleitet. Es gehe um den Streit um die Brexit-Regeln für die britische Provinz Nordirland. Die EU-Kommission werfe dem Vereinigten Königreich vor, gegen wesentliche Teile des sogenannten Nordirland-Protokolls zu verstoßen. Grund für die neuen Verfahren sei unter anderem, dass das britische Unterhaus kürzlich einen umstrittenen Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll angenommen habe, mit dem die Brexit-Vereinbarungen zur britischen Provinz einseitig von London außer Kraft gesetzt werden können.
Juristenausbildung
Influencer-Law Clinic: LTO-Karriere (Katharina Uharek) berichtet über eine an der TH Köln neu eingerichtete Law Clinic zur Beratung von Influencer:innen. Studierende des Masterstudiengangs Medienrecht und Medienwirtschaft beantworten dabei Fragen von Youtubern u.ä., beispielsweise zur Werbekennzeichnung oder zu Verlinkungen.
Jura-Bachelor: Der Rechtsreferendar Daniel Heymann, der wissenschaftliche Mitarbeiter Constantin Luft und die Doktorandin Hannah Reith plädieren im FAZ-Einspruch in ihrer Anmerkung zur Debatte um eine Einführung eines Jura-Bachelor-Abschlusses für "dringend mehr Denkverkehr und weniger Austausch von Polemiken". "Statt sich wortgewaltig um Abschlüsse zu streiten, wäre eine Diskussion dazu wünschenswert, was eine juristische Ausbildung enthalten sollte, um die Fähigkeiten auszubilden und zu fördern, die eine rechtsstaatliche Gesellschaft von ihren juristischen Mitgliedern erwarten kann", schreiben die Autor:innen.
Sonstiges
Polizeistudie: Die Hauptpersonalräte der Polizei in Baden-Württemberg und Hamburg können die Durchführung der Polizeistudie zur Untersuchung von "Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten" mit ihren Bedenken nicht blockieren. Zu diesem Schluss kommt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah Praunsmändel im Verfassungsblog.
Anwältin und Legal-Tech-Unternehmerin: LTO-Karriere (Franziska Kring) stellt im Interview Rechtsanwältin Katharina Bisset vor, die u.a. das Legal-Tech-Unternehmen NetzBeweis mitgegründet hat und die sich selbst als "Nerd" bezeichnet.
Rechtsgeschichte – Ermordung von Kriegsgefangenen: Martin Rath schreibt auf LTO über ein Urteil des BGH, der am 24. Juli 1962 den Freispruch zweier früherer SS-Angehöriger vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord an mindestens 30 Kriegsgefangenen bestätigte. Das LG Trier hatte als Vorinstanz zwar die tatsächliche Mitwirkung der beiden Angeklagten festgestellt, sei aber nicht überzeugt gewesen, dass sie auch erkannt haben, dass der ihnen erteilte Befehl offensichtlich rechtswidrig war.
Das Letzte zum Schluss
Sockenleben: Die Sa-SZ (Titus Arnu) widmet sich im Panorama-Teil der Lebensdauer von Socken und berichtet in ihrem Text auch von einem Rechtsstreit in den USA, in dem ein Kunde das Werbeversprechen eines Sockenherstellers "Die letzten Socken, die Sie jemals kaufen" wörtlich nimmt und als lebenslange Garantie verstanden wissen will. Immer wenn ein Paar Löcher bekommen hatte, brachte er die Socken in den Laden zurück und verlangte Ersatz. Nachdem das lange Zeit erfolgreich funktionierte, weigerte sich das Geschäft nun und findet sich deshalb als Beklagter einer Sammelklage wieder.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/pf
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
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Die juristische Presseschau vom 23. bis 25. Juli 2022: . In: Legal Tribune Online, 25.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49141 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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