Das Kabinett hat sich auf die Einführung einer neuartigen Verbraucher-Sammelklage, die sog. Abhilfeklage, verständigt. Gerechnet wird jährlich mit 15 dieser Klagen gegen Unternehmen. Geschätzt 22.500 Individualklagen könnten so entfallen.
Das Bundeskabinett hat am Mittwoch den von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegten Regierungsentwurf zur Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie beschlossen und mit der auf Leistung gerichteten, sog. Abhilfeklage ein neues Klageinstrument eingeführt. Damit sollen Verbraucherinnen und Verbraucher künftig nach den Worten Buschmanns "schneller zu ihrem Recht kommen". Außerdem soll die Justiz von zahlreichen Individualklagen in Massenverfahren entlastet werden.
Vorausgegangen war dem Beschluss ein Prozess langwieriger Verhandlungen zwischen der Fachebene des BMJ und der des BMUV. Letztere hatte immer wieder auf eine stärkere Berücksichtigung verbraucherrechtlicher Belange in dem Entwurf gedrängt. Wie ein Damoklesschwert schwebte bis zuletzt ein EU-Vertragsverletzungsverfahren über dem Vorhaben, denn Deutschland hätte das Vorhaben eigentlich bis zum 25. Dezember 2022 umsetzen sollen, wobei die entsprechenden Vorschriften spätestens am 25. Juni 2023 in Kraft treten müssen. Ein zügiges parlamentarisches Verfahren vorausgesetzt, dürfte dieser Termin nun zu halten sein.
Kernstück des Gesetzentwurfs ist ein neues Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG). In dieses wird auch die bislang in der Zivilprozessordnung (ZPO) geregelte Musterfeststellungsklage integriert. Vor allem geregelt wird aber im neuen VDuG fortan die sog. Abhilfeklage. Das neuartige Instrument soll qualifizierten Verbraucherverbänden und Verbraucherzentralen ermöglichen, gleichartige Leistungsansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern, wie z.B. Schadensersatz, gegen ein Unternehmen unmittelbar gerichtlich einzuklagen.
Mindestens 50 Verbraucher müssen betroffen sein
Möglich wäre eine Abhilfeklage etwa, um Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern z.B. wegen Produktmängeln oder unzulässigen Preisklauseln geltend zu machen. "Dieses neue Instrument kann beispielsweise bei Entschädigungsansprüchen wegen der Annullierung desselben Fluges oder bei Zinsnachzahlungsansprüchen wegen einer massenhaft verwendeten unwirksamen Vertragsklausel eines Geldinstituts zur Anwendung kommen", erläuterte Buschmann.
Damit Verbraucherverbände klagen können, müssen die Ansprüche von mindestens 50 Verbraucherinnen und Verbrauchern betroffen sein. Ihnen geleichgestellt werden auch kleine Unternehmen, das heißt auch diese können sich beim Verbandsklageregister mit ihren Ansprüchen zu einer anhängigen Verbandsklage anmelden. Als kleine Unternehmen gelten dem Gesetzentwurf zufolge solche, die weniger als 50 Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz zehn Millionen Euro nicht übersteigt.
Dreiphasiges gerichtliches Verfahren
Das gerichtliche Abhilfeverfahren gliedert sich dann in drei Phasen:
In der ersten Phase kann der klageberechtigte Verband ein Abhilfegrundurteil erwirken, das die Haftung der verklagten Unternehmerin oder des verklagten Unternehmers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, Berechtigungsnachweise - und für den Fall von Zahlungsansprüchen - zugleich Parameter für die konkrete Berechnung der Verbraucheransprüche festlegen kann.
Danach folgt eine Vergleichsphase, in der laut Gesetzentwurf die Parteien eine gütliche Einigung über die Abwicklung des Rechtsstreits anstreben sollen. Schließen die Parteien keinen Vergleich, schließt sich eine dritte Phase an, die mit einem Abhilfeendurteil des Gerichts endet.
Wird der Abhilfeklage schließlich stattgegeben, erhalten die von der Klage betroffenen Verbraucher später beispielsweise den ihnen zustehenden Geldbetrag direkt von einem Sachwalter ausgezahlt, der das Urteil umsetzt. Der Erhebung einer zusätzlichen Individualklage bedarf es dann nicht mehr.
Anmeldung zur Klage bis zu zwei Monate nach erstem Gerichtstermin
Heftigen Streit hatte es zwischen BMJ und BMUV darüber gegeben, zu welchem Zeitpunkt sich Verbraucherinnen und Verbraucher für die neue Verbandsklage anmelden müssen. Buschmanns ursprünglicher Entwurf sah noch vor, dass sie im Rahmen eines Opt-Ins ihre Ansprüche spätestens am Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung zum Verbandsklageregister hätten anmelden müssen.
Im grün geführten BMUV plädierte man dagegen für einen späteren Zeitpunkt. “Eine frühe verbindliche Anmeldung für ein Verfahren mit ungewissen Ausgang werde die Zahl der Individualklagen in die Höhe treiben", hatte etwa der grüne Parlamentarier und ehemalige Hamburger Justizsenator Till Steffen befürchtet. Herausgekommen ist ein Kompromiss: Die Frist zur Anmeldung endet nun zwei Monate nach dem ersten Termin des gerichtlichen Verfahrens.
Aus Teilen der Anwaltschaft gab es an dieser Lösung Kritik: "Sollte der Kabinettsentwurf Gesetz werden, entscheidet künftig der öffentliche Eindruck der ersten mündlichen Verhandlungen darüber, ob Verbraucher sich der Verbandsklage anschließen. Glauben Verbraucher, auf eigene Faust bessere Chancen zu haben, werden sie auch künftig allein oder mit Hilfe von prozessfinanzierten Legal Tech Unternehmen klagen", so Dr. Henner Schläfke, Partner bei der Kanzlei Noerr in Berlin.
Bundesregierung rechnet mit 15 Abhilfeklagen jährlich
Abhilfeklageberechtigt sind solche Verbände, die als qualifizierte Verbraucherverbände beim Bundesamt für Justiz registriert sind und bestimmte Anforderungen zum Beispiel hinsichtlich ihrer Finanzierung erfüllen. Auch qualifizierte Einrichtungen aus anderen EU-Mitgliedstaaten dürfen bei deutschen Gerichten grenzüberschreitende Abhilfeklagen erheben. *Verbände müssen allerdings nicht, wie in Buschmanns Entwurf ursprünglich noch vorgesehen, vier Jahre in das sogenannte UKlaG-Register, also das im Unterlassungsklagengesetz geregelte Liste der qualifizierten Verbände, eingetragen sein, um sich für Verbandsklagen zu qualifizieren. Im beschlossenen Entwurf wurden auf den letzten Metern außerdem die Hürden hinsichtlich der Mitgliederzahl gesenkt: Es genügt nun, dass ein Verband 75 Personen oder drei Verbände als Mitglieder hat (statt vorher: 350 Personen oder 10 Verbände).
Einigermaßen konkrete Vorstellungen hat die Bundesregierung schon, wie die neue Klage in der Praxis ankommt: So geht sie davon aus, dass das unmittelbar auf Leistung gerichtete Instrument für Verbraucherinnen und Verbraucher sowie kleine Unternehmen attraktiv sein wird und diese daher von der Erhebung von Individualklagen absehen.
Die Bundesregierung rechnet damit, dass die künftige Zahl jährlicher Abhilfeklagen leicht über jener von heute durchschnittlich zwölf Musterfeststellungsklagen pro Jahr liegen wird. Konkret erwartet sie zukünftig durchschnittlich 15 Abhilfeklagen und zehn Musterfeststellungsklagen pro Jahr.
Entlastung für Wirtschaft und Rechtsuchende
Überzeugt ist die Bundesregierung, dass die neue Klage nicht nur die Justiz, sondern auch Wirtschaft und die rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger entlasten wird.
Für beklagte Unternehmen rechnet die Bundesregierung vor allem wegen des Wegfalls der sonst für Individualverfahren anfallenden Gerichts- und Rechtsanwaltskosten mit einer Entlastung in Höhe von mehr als rund sieben Millionen Euro. Durch die prognostizierten 15 Abhilfeklagen würden somit rechnerisch 22.500 Individualklagen ersetzt. Bei den Bürgerinnen und Bürgern werde dies letztlich zu einer Entlastung von rund acht Millionen Euro führen, so die Bundesregierung.
Neben der Einführung der Abhilfeklage sieht der Entwurf u.a. auch eine Regelung zur Entlastung von mit Massenverfahren befassten Gerichten vor. Die in § 148 ZPO vorgesehenen Aussetzungsmöglichkeiten werden danach erweitert, um zeitraubende parallele Sachverständigenbegutachtungen zu identischen Fragestellungen zu vermeiden und die Verfahren dadurch effizienter führen zu können.
Grüne Ministerin zufrieden, Union erwartet Klagewellen
Zufrieden mit dem nach zähem Ringen mit dem BMJ gefundenen Kompromiss zeigte sich am Mittwoch auch Bundesverbraucherschutzministerin Steffi Lemke: "Die Verabschiedung der EU-Verbandsklagerichtlinie war ein Meilenstein für die Stärkung der Verbraucherrechte. Es ist gut, dass wir uns nun in konstruktiven Gesprächen auf einen guten Gesetzentwurf verständigen konnten", so Lemke. Vor allem freue es sie, dass der Zeitrahmen, wann sich Verbraucherinnen und Verbraucher einer Klage anschließen können, verlängert wurde. Gut sei auch, dass die Anforderungen an klagebefugte Verbände abgesenkt wurden, sodass mehr Verbände die Möglichkeit bekämen, Verbraucherrechte einzuklagen.
*Unterdessen zeigten sich Teile der Opposition im Bundestag weniger erfreut über den Gesetzentwurf: Nach langem Streit zwischen dem gelben Justiz- und dem grünen Umweltministerium stehe ein halbgarer Kompromiss, sagte der zuständige Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, MdB Martin Plum. "Die Zugeständnisse Marco Buschmanns an seinen grünen Koalitionspartner könnten neue Klagewellen entfachen. Das Versprechen des Justizministers, die ohnehin überlasteten Gerichte durch die Verbandsklage substanziell zu entlasten, bleibt angesichts der gelockerten Voraussetzungen nicht nur ein bloßes Lippenbekenntnis. Es könnte sich sogar in sein Gegenteil verkehren", so Plum gegenüber LTO.
*ergänzt am Tag des Erscheinens um 17.20 Uhr
Neues Klageinstrument für Verbraucher: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51440 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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