Das LG Dortmund hat ein überraschendes Urteil zum Kartellschadensersatz gefällt: Um die Schadensersatzhöhe zu schätzen, brauche es keine Sachverständigen. Ein Novum? Durchaus, wie Marcel Nuys und Florian Huerkamp erläutern.
Bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht sind die Behörden nicht zimperlich. Bundeskartellamt und EU-Kommission schrauben die Bußgelder seit Jahren immer weiter in die Höhe. Für die betroffenen Unternehmen ist die Sache damit oft nicht ausgestanden. Immer häufiger sind sie teils spektakulären Schadensersatzklagen von Kunden ausgesetzt, die sich übervorteilt sehen. Aber wie bemisst sich so ein Schaden? Und wer legt die Schadenshöhe fest? Diese Fragen haben – in unterschiedlichen Facetten – den Bundesgerichtshof (BGH) und kürzlich zum wiederholten Mal das Landgericht (LG) Dortmund beschäftigt.
Wer glaubt, Geschädigter eines Kartells zu sein, und klagt, der kann sich vor Gericht auf die Bußgeldentscheidung der Kartellwächter berufen. Der Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht steht qua Gesetz auch für das Gericht fest. Diese Bindungswirkung gilt aber nicht für die Frage, ob dem Kläger durch den Verstoß auch ein Schaden entstanden ist. Die Bußgeldbescheide schweigen nämlich meist zu möglichen Schäden.
Angeblicher Schaden wird in Follow-on-Prozessen geprüft
Deshalb müssen die Gerichte beurteilen: Hat der Kunde tatsächlich wegen des Wettbewerbsverstoßes einen überhöhten Preis zahlen müssen? Und wie hoch genau ist der Schaden? Naturgemäß stellen sich dabei ökonomisch komplexe Fragen. Kann etwa der Preisanstieg bei einem Produkt wirklich auf eine wettbewerbswidrige Verständigung der Produzenten zurückgeführt werden? Oder lässt er sich nicht – zumindest teilweise – mit anderen Faktoren erklären, zum Beispiel mit gestiegenen Rohstoffpreisen?
Solche "Follow-on-Prozesse" werden deshalb mehr und mehr zu Gutachterprozessen, bei denen hochspezialisierte Wettbewerbsökonomen einem möglichen Schadensereignis genau auf den Grund gehen. Und da Richter keine Ökonomen sind, beauftragen die Gerichte aus gutem Grund meist zusätzlich eigene Sachverständige.
Das LG Dortmund beweist "Mut zur Schätzung"
Das Landgericht (LG) Dortmund ist in einem Fall, der das sogenannte Schienenkartell betraf, grundlegend anders vorgegangen (Urt. v. 30.09.2020; Az. 8 O 115/14 (Kart)). Geklagt hat ein Träger des ÖPNV gegen mehrere Unternehmen, die als Beteiligte des Schienenkartells ein Bußgeld erhalten hatten. Der Kläger machte geltend, er habe wegen des Schienenkartells überhöhte Preise für Schienen zahlen müssen. Sowohl der Kläger als auch die Beklagten brachten Gutachten von Sachverständigen in den Prozess ein.
Anders als bisher üblich verzichtet das LG Dortmund auf die Bestellung eines gerichtlichen Sachverständigen. Stattdessen attestiert sich das Gericht selbst "Mut zur Schätzung" und beziffert die Höhe des Schadens mit 15 Prozent des gezahlten Preises.
Unter Kartellrechtlern gilt das Urteil als "Paukenschlag". Denn das Landgericht stützt sich bei seiner Schätzung im Wesentlichen auf eine Gesamtschau verschiedener Sachverhaltsaspekte – namentlich die Dauer des Kartells, seine Marktabdeckung und die Disziplin innerhalb des Kartells. Es verzichtet ausdrücklich auf ökonometrische Berechnungen. Als wichtigen Ankerpunkt bezieht sich das Gericht auch auf die vereinbarten AGB: Hier war nämlich ein pauschalisierter Schadensersatz von 15 Prozent für den Fall von Wettbewerbsverstößen vorgesehen.
Schätzung könnte ein Verfahren vereinfachen
Die Begeisterungsstürme, die das Urteil bei Klägern in Kartellschadensersatzverfahren auslöst, sind leicht erklärbar: Wenn es für die Geltendmachung eines Schadens genügt, auf die wesentlichen Aspekte des Sachverhalts hinzuweisen, wie sie im Bußgeldbescheid festgehalten sind, mag dies Verfahren erheblich vereinfachen. Die Beauftragung von Sachverständigen und die Unwägbarkeiten, die mit einem Gutachterprozess immer verbunden sind, fielen weg.
Genügt also bald ein kurzes Schreiben mit dem Bußgeldbescheid in der Anlage, um eine Schadensforderung in Millionenhöhe geltend zu machen? Und noch einen Schritt weitergedacht: Ist denkbar, dass es bald – wie im Unterhaltsrecht mit der "Düsseldorfer Tabelle" – eine Aufstellung gibt, in der die Kläger bequem ablesen können, wie hoch der ihnen zustehende Anspruch ist? Beispiel: Quotenkartell, Dauer: 4 Jahre, Disziplin: hoch = 10-12% Schaden.
Kann auch bei anderen Verstößen geschätzt werden?
Solche Spekulationen sind mehr als voreilig. Denn es gilt zum einen abzuwarten, ob das LG Dortmund auch in anderen Fallkonstellationen bei seinem neuen Ansatz bleibt. Im Schienenkartell ging es um Kundenschutzabsprachen. Das Gericht nennt auch Preiskartelle als möglichen Anwendungsbereich seiner Schätzmethode.
Ob aber eine direkte Schätzung auch bei anderen Verstößen, etwa einem Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern in Betracht käme, ist keineswegs ausgemacht. Unklar ist auch, wie das Gericht einen konkreten Schätzwert ermitteln wird, wenn es – anders als im entschiedenen Fall – keine AGB zum pauschalisierten Schadensersatz gibt, die schon eine konkrete Prozentzahl nennen.
Richter des OLG Düsseldorf lieferte die Blaupause
Abzuwarten bleibt nicht zuletzt, ob der Ansatz den Instanzenzug übersteht. Wenig Opposition dürfte vom Berufungsgericht zu erwarten sein. Der Vorsitzende Richter des zuständigen Senats des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf hat bereits Ende 2019 in einem Fachaufsatz für eine Schätzmethode plädiert und dem LG Dortmund damit quasi eine Blaupause geliefert. Auf diesen Beitrag nehmen die Dortmunder Richter entsprechend maßgeblich Bezug.
Der BGH wiederum hat in anderer Sache zwar ebenfalls entschieden, dass die Gerichte einen Schaden grundsätzlich schätzen können. Nicht klar ist aber bislang, ob und wann ein Gericht dabei auf die Bestellung eines gerichtlichen Sachverständigen verzichten und direkt zur Schätzung übergehen kann, wenn Kläger oder Beklagte eigene Gutachten vorlegen. Entschieden hat der BGH nur, das Gericht sei "nicht in jedem Fall zur Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens" verpflichtet.
Fest steht: Die ökonomischen Zusammenhänge in Kartellfällen sind und bleiben so komplex, dass sich ein pauschalisierender Ansatz á la "Düsseldorfer Tabelle" verbieten dürfte. Wie weit den Gerichten zukünftig Spielräume bei etwaigen Schätzungen einzuräumen sind, muss noch näher ausgelotet werden. Das Urteil des LG Dortmund hat die Diskussion jedenfalls neu befeuert.
Die Autoren: Dr. Marcel Nuys ist Partner und Dr. Florian Huerkamp ist Counsel im Düsseldorfer Büro von Herbert Smith Freehills. Die beiden beraten regelmäßig Unternehmen im Kartell- und Wettbewerbsrecht.
LG Dortmund zum Schienenkartell: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43220 (abgerufen am: 18.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag