Der EuGH muss entscheiden, ob Marine Harvest wegen Verstoßes gegen fusionskontrollrechtliche Vorschriften zweimal bestraft werden durfte. Nein, findet der Generalanwalt. Marcel Nuys, Juliana Penz-Evren und Aylin Saraf stimmen ihm zu.
Im Mittelpunkt eines unter Kartellrechtlern derzeit vielbeachteten Verfahrens steht der norwegische Lachszüchter und -verarbeiter Marine Harvest. Die EU-Kommission hatte gegen das Unternehmen zwei Bußgelder über je zehn Millionen Euro verhängt. Das Unternehmen habe gegen das kartellrechtliche Vollzugsverbot verstoßen, also eine Übernahme vor Erteilung der Freigabe vollzogen, und außerdem habe es versäumt, die Übernahme bei der Kartellbehörde anzumelden. Gesamtbuße: 20 Millionen Euro.
Marine Harvest klagte gegen diese Entscheidung, jedoch ohne Erfolg. Nun soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter anderem entscheiden, ob die Kommission sowohl eine Geldbuße wegen eines Verstoßes gegen das Vollzugsverbot und – zusätzlich – ein Bußgeld wegen der Nichtanmeldung der Transaktion verhängen durfte.
Keine Anmeldung und Verstoß gegen Vollzugsverbot
Was war geschehen? Marine Harvest erwarb im Dezember 2012 zunächst 48,5 Prozent der Anteile des Wettbewerbers Morpol. In weiterer Folge machte Marine Harvest im Januar 2013 ein öffentliches Übernahmeangebot für die restlichen Morpol-Anteile. Bei der EU-Kommission wurde die Transaktion erst im August 2013 formell angemeldet und Ende September 2013 unter Auflagen freigegeben.
Nach Ansicht der Kommission erlangte Marine Harvest bereits mit Erwerb der Beteiligung von 48,5 Prozent de facto die Kontrolle über Morpol. Da zudem die Umsatzschwellen für eine Anmeldepflicht überschritten waren, sah die Kommission einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot als gegeben und verhängte eine Geldbuße über zehn Millionen Euro. Zusätzlich wurde eine Geldbuße von weiteren zehn Millionen auferlegt, weil Marine Harvest die Transaktion bei der Kommission nicht formell angemeldet hatte.
Nach Art. 4 Abs. 1 Fusionskontrollverordnung (FKVO) müssen Transaktionen von EU-weiter Bedeutung bei der Kommission angemeldet werden. Sinn und Zweck dieser Anmeldepflicht ist primär, dass eine effektive Überwachung von Veränderungen in der Marktstruktur gewährleistet wird. Flankiert wird die Vorschrift von Art. 7 Abs. 1 FKVO, der einen rechtlichen oder tatsächlichen Vollzug einer Transaktion vor Freigabe durch die Kommission verbietet, das sogenannte Vollzugsverbot.
In seinen Schlussanträgen vom 26. September 2019 hat sich Generalanwalt Evgeni Tanchev gegen die Verhängung von zwei Geldbußen ausgesprochen. Der Generalanwalt hält das Vollzugsverbot für die speziellere Vorschrift. Insoweit beleuchtet er die Entscheidung der Kommission – und des Gerichts – vor allem unter dem Aspekt des ne bis in idem-Grundsatzes, dem Anrechnungsprinzip und dem konkurrenzrechtlichen Verhältnis der infrage stehenden Regelungen.
Ne bis in idem gilt hier nicht
Der Grundsatz ne bis in idem ist nach Ansicht des Generalanwalts nicht anwendbar. Zwar erfüllt der Sachverhalt die "idem"-Komponente, die die Identität der tatbestandserfüllenden Handlung voraussetzt. Allerdings ist die "bis"-Komponente, die eine frühere endgültige Entscheidung voraussetzt, nicht erfüllt.
Auch der Blick auf das Anrechnungsprinzip rechtfertige, so Tanchev, keine andere Bewertung. Dieses besagt, dass die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen Sanktionen berücksichtigen muss, die bereits auf Mitgliedsstaatsebene gegen dasselbe Unternehmen für das identische Verhalten verhängt wurden.
Die Heranziehung dieses Grundsatzes setzt allerdings voraus, dass ein Verfahren vor der Kommission und der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates anhängig ist. Auf diese Weise sollen die Folgen des Systems der parallelen Zuständigkeit für die Durchsetzung der Art. 101 und 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgeglichen werden. Im Fall von Marine Harvest wurde aber allein die Kommission tätig, so dass der Anwendungsbereich des Anrechnungsprinzips ausscheidet.
Anlehnung an nationale Konkurrenzlehren
Entscheidend, so Generalanwalt Tanchev, sei ein Blick auf das konkurrenzrechtliche Verhältnis zwischen Art. 4 Abs. 1 FKVO und Art. 7 Abs. 1 FKVO. Da konkurrenzregelnde Bestimmungen auf europäischer Ebene nicht zu finden seien, zieht Tanchev die nationalen Konkurrenzlehren des deutschen und des französischen Rechtssystems heran, insbesondere § 52 StGB. Das deutsche Rechtssystem erlaubt bei Erfüllung mehrerer gesetzlicher Tatbestände, die Bestrafung nur nach einer Vorschrift, etwa wegen Spezialität, Subsidiarität oder Konsumtion. Das französische Recht sieht ähnliches vor.
Übertrage man diese Konkurrenzlehren auf das Verhältnis der Anmeldepflicht aus Art. 4 Abs. 1 FKVO zum Vollzugsverbot (Art. 7 Abs. 1 FKVO), so werde deutlich, dass ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 FKVO stets die Anmeldepflicht nach Art. 4 Abs. 1 FKVO verletze, so der Generalanwalt. Denn das Vollzugsverbot untersagt, eine Transaktion vor Anmeldung zu vollziehen, und gilt bis zur Freigabe durch die Kommission fort. Daher beziehen sich Art. 4 Abs. 1 FKVO und der erste Teil von Art. 7 Abs. 1 FKVO auf die gleiche Handlung und ein isolierter Verstoß allein gegen Art. 4 Abs. 1 FKVO ist laut Tanchev denklogisch nicht möglich.
Regelung zum Vollzugsverbot hat Vorrang
Unter Geltung der Verordnung Nr. 4064/89 sei dies noch anders gewesen, so der Generalanwalt weiter. Der ursprüngliche Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 sah vor, dass eine Transaktion innerhalb einer Woche nach Kaufvertragsabschuss angemeldet werden musste. Wurde ein Zusammenschluss ein Monat nach Abschluss der Vereinbarung, aber vor ihrem Vollzug angemeldet, verstieß die anmeldende Partei daher gegen Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4064/89, nicht aber gegen Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung.
Dies ist nicht mehr möglich, weil die einwöchige Anmeldefrist mit der Verordnung (EG) Nr. 1310/97 des Rates aufgehoben wurde. Dahingegen kann man weiterhin gegen Art. 7 Abs. 1 FKVO verstoßen, ohne Art. 4 Abs. 1 FKVO zu verletzen. Art. 7 Abs. 1 FKVO ist nach Ansicht von Tanchev daher die speziellere Vorschrift, hinter die Art. 4 Abs. 1 FKVO zurücktreten muss. Bei Vollzug eines Zusammenschlusses, bevor dieser angemeldet und freigegeben wurde, liegt daher nach Auffassung des Generalanwalts nur ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 FKVO vor.
Keine Geldbuße für Nichtanmeldung
Dieser Ansicht stehe auch Art. 14 Abs. 2 FKVO nicht entgegen. Zwar verbiete diese Vorschrift der Kommission die doppelte Verhängung von Geldbußen nicht; sie erlaube es ihr aber auch nicht ausdrücklich. Im Ergebnis, so Tanchev, sei die Geldbuße wegen Nichtanmeldung der Transaktion daher aufzuheben.
Den Ausführungen des Generalanwalts ist im Ergebnis zuzustimmen. Es bleibt zu hoffen, dass sich der EuGH dieser Auffassung anschließt. Anmeldepflicht und Vollzugsverbot liegt die identische Ratio zu Grunde. Beide Vorschriften sollen nachteilige Veränderungen der Marktstruktur verhindern, die entstehen können, wenn Transaktionen ungeprüft stattfinden. Aus rechtsstaatlichen Gründen ist nur schwer verständlich und noch schwerer vermittelbar, warum ein "identischer" Verstoß mit einer doppelten Geldbuße belegt werden darf.
Die Autoren: Marcel Nuys ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro von Herbert Smith Freehills und berät regelmäßig Unternehmen im Kartell- und Wettbewerbsrecht. Juliana Penz-Evren ist Associate im Brüsseler Büro der Kanzlei, und Aylin Saraf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Düsseldorfer Standort.
Kartellrechtliches Vollzugsverbot: . In: Legal Tribune Online, 10.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38105 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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