Der Appelationshof Brüssel und der österreichische OGH haben den EuGH um Vorabentscheidungen zum Verbot der Doppelbestrafung im Wettbewerbsrecht ersucht. In zwei Urteilen hat der EuGH nun dessen Anwendungsumfang ausgelegt.
"Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden", heißt es in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) äußerte sich nun in zwei Urteilen zum Umfang dieses Schutzes im Wettbewerbsrecht. Den Entscheidungen liegt ein Verfahren um den belgischen Postdienstleister bpost sowie ein beim Obersten Gerichtshof Österreichs (OGH) anhängiges Verfahren zum sogenannten Zuckerkartell zugrunde. In seinen Schlussanträgen vom 02.09.2021 hatte Generalanwalt Bobek eine einheitliche Prüfung vorgeschlagen.
Die Rechtssache bpost
bpost war zunächst im Juli 2011 von der belgischen Regulierungsbehörde für den Postsektor mit einer Geldbuße von 2,3 Millionen Euro belegt worden. Die Behörde hatte eine Rabattregelung des Unternehmens als diskriminierend eingestuft. Der Cour d’appel de Bruxelles hat die Entscheidung später aufgehoben. Im Dezember 2012 verhängte die Wettbewerbsbehörde des Landes wegen des Missbrauchs einer markbeherrschenden Stellung eine Geldbuße in Höhe von 37,4 Millionen Euro gegen bpost. Das Unternehmen wehrte sich gegen dieses zweite Verfahren mit dem Verweis auf den Grundsatz "ne bis in idem".
Dementsprechend war gegen das Unternehmen im Hinblick auf denselben Sachverhalt wegen Missachtung einer sektorspezifischen Regelung bereits eine endgültige Entscheidung ergangen. Der EuGH entschied nun, dass die Sanktionierung des Unternehmens wegen eines Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht nicht aufgrund des Grundsatzes "ne bis in idem" ausgeschlossen ist.
Diese Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen setze jedoch das Bestehen klarer und präziser Regeln voraus, anhand derer sich vorhersehen lasse, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage komme, und die die Koordinierung zwischen den beiden zuständigen Behörden ermöglicht werde, so das Gericht.
Außerdem müssten die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in engem zeitlichen Zusammenhang geführt worden sein und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen müsse der Schwere der begangenen Straftaten entsprechen. Andernfalls verstoße die zweite Behörde, die tätig wird, durch die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen gegen das Verbot der doppelten Strafverfolgung (Urt. v. 22.03.2022, Az. C-117/20).
Das Zuckerkartell
Der OGH ist mit einem Rekurs der österreichischen Wettbewerbsbehörde in einem Verfahren befasst, in dem festgestellt werden soll, dass Nordzucker, ein deutscher Zuckerhersteller, gegen das Kartellrecht der Union sowie das österreichische Wettbewerbsrecht verstoßen habe, und in dem gegen Südzucker, einen weiteren deutschen Zuckerhersteller, aufgrund des gleichen Verstoßes eine Geldbuße verhängt werden soll. In diesem Zusammenhang stellten sich Fragen zum Grundsatz ’ne bis in idem’, die der OGH dem EuGH in Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zur Klärung vorgelegt hat.
In seinem Urteil (Urt. v. 22.03.2022, Az. C‑151/20) legt der EuGH Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend aus, dass ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden könne, dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.
sts/LTO-Redaktion
Urteile zur doppelten Strafverfolgung im Wettbewerbsrecht: . In: Legal Tribune Online, 22.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47902 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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