Der EuGH soll klären, ob eine Transaktion, die keiner fusionskontrollrechtlichen Freigabe bedurfte, am Maßstab des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots zu messen ist. Marcel Nuys und Shayan Mokrami ordnen die Schlussanträge ein.
Auf Vorlage des Cour d'Appel de Paris wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache Towercast (Az. C-449/21) darüber entscheiden, ob die kartellrechtliche Missbrauchskontrolle auch dann noch als Maßstab herangezogen werden kann, wenn eine Unternehmenstransaktion ohne vorhergehende fusionskontrollrechtliche Freigabe vollzogen werden durfte. Die Generalanwältin Prof. Dr. Juliane Kokott hat dies bejaht.
Kokott befasst sich in ihren Schlussanträgen vor allem mit dem Verhältnis zwischen der Fusionskontrolle – als ex-ante-Tool der Marktstrukturkontrolle – und der Missbrauchskontrolle, die ex-post das Ausnutzen von Marktmacht sanktioniert. Eine Sperrwirkung der fusionskontrollrechtlichen Vorschriften verneint sie. Die Missbrauchskontrolle sei auch im Zusammenhang mit Unternehmenstransaktionen grundsätzlich anwendbar.
Diese Auffassung überrascht. Sie zeigt aber, dass – sollte der EuGH das genauso sehen – sich Unternehmen auf weiter steigende Regulierung einstellen müssen. Für die M&A-Praxis wäre es ein weiterer herber Rückschlag für die Transaktionssicherheit, insbesondere im Digitalbereich.
Die Ausgangslage
Die Gesellschaft Towercast legte im November 2017 bei der französischen Wettbewerbsbehörde Beschwerde gegen die Übernahme von Itas durch TDF ein. Alle drei Unternehmen sind auf dem französischen Markt für terrestrische Fernsehübertragungen tätig. TDF soll die größte Kundenbasis in Frankreich haben.
Die Umsätze der Parteien erreichten nicht die Schwellen, die eine Zuständigkeit der Europäischen Kommission oder der französischen Wettbewerbsbehörde begründet hätten. Die Transaktion bedurfte daher keiner fusionskontrollrechtlichen Freigabe. Zudem stellte keine nationale Wettbewerbsbehörde einen Verweisungsantrag, der gegebenenfalls die Zuständigkeit der Europäischen Kommission begründet hätte.
Mit Blick auf die Marktstellung von TDF hielt Wettbewerber Towercast eine wettbewerbsrechtliche Überprüfung der Transaktion für notwendig. Das Unternehmen beschwerte sich bei der französischen Wettbewerbsbehörde. Towercast argumentierte, TDF missbrauche beim Kauf von Itas seine marktbeherrschende Stellung. Der Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Märkten für digitale Übertragung von terrestrischen Fernsehdiensten werde durch TDF behindert, indem das Unternehmen durch den Zusammenschluss seine marktbeherrschende Stellung erheblich verstärkt hätte.
Die französische Wettbewerbsbehörde wies die Beschwerde im Januar 2020 ab. Daraufhin wandte sich Towercast an das Cour d'Appel de Paris. Dieses legte dem EuGH im Juli 2021 die Frage vor, ob eine nachträgliche Überprüfung eines Zusammenschlusses, welcher von einem Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung betrieben wurde, am Maßstab des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) durch die nationale Wettbewerbsbehörde möglich ist, wenn die relevanten umsatzbezogenen Aufgreifschwellenwerte der FKVO und des nationalen Fusionskontrollrechts nicht erreicht werden und daher keine Fusionskontrollprüfung erfolgt ist.
Die rechtliche Würdigung in den Schlussanträgen
Die Generalanwältin bejaht diese Frage und begründet dies mit dem effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt. Die missbrauchsrechtliche Kontrolle könne Anwendung finden, wenn bei wettbewerbsrechtlich problematischen Zusammenschlüssen die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreicht werden. Mit anderen Worten: Sofern keine fusionskontrollrechtliche Überprüfung möglich ist, soll stattdessen eine missbrauchsrechtliche Prüfung ein Eingreifen der Wettbewerbshüter erlauben. Eine Sperrwirkung sei nicht anzunehmen, so Kokott, wenn die Vorschriften der Fusionskontrolle im konkreten Einzelfall nicht anwendbar waren.
Kernargument für die Anwendbarkeit der Missbrauchskontrolle sei die Schutzlücke im Wettbewerbsrecht bei sogenannten "Killer Acquisitions", also Transaktionen, in denen aufstrebende, noch nicht umsatzstarke Unternehmen von etablierten Unternehmen aufgekauft werden, die auf demselben, benachbarten, vor- oder nachgelagerten Markt tätig sind. Der von Wettbewerbsbehörden häufig geäußerte – in der Sache aber in der Regel unbegründete – Vorwurf lautet: Dadurch könnten diese Unternehmen in ihrem frühen Entwicklungsstadium als Wettbewerber ausgeschaltet werden, während das etablierte Unternehmen die eigene Marktstellung festigen kann.
Wettbewerbsbehörden solle in einer solchen Situation zumindest ein repressives Handlungsinstrument zur Verfügung stehen. Kokott verweist dabei auch auf die Continental Can-Entscheidung. Dort hat der EuGH festgestellt, dass der Erwerb eines Unternehmens den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen kann (Urt. v. 21.02.1973, Az. 6/72). Damals bestanden jedoch noch keine speziellen fusionskontrollrechtlichen Anmeldepflichten.
Nach Kokott kommt der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung aber dann nicht in Betracht, wenn für den Zusammenschluss eine Genehmigung nach den spezielleren Regeln der Fusionskontrolle vorliegt. In so einem Fall wurden die Auswirkungen auf die Marktstruktur und die Wettbewerbsbedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt. Einzig zusätzliche Verhaltensweisen des betroffenen Unternehmens, welche als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung qualifiziert werden könnten, würden dann den Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschriften eröffnen.
Auswirkungen auf die M&A-Praxis
Sollte sich der EuGH dieser Auffassung anschließen, würde dies zusätzliche Rechtsunsicherheit für die M&A-Praxis bedeuten und die Transaktionssicherheit weiter gefährden.
Bereits die neue Anwendungspraxis zu Art. 22 FKVO beeinträchtigt die Transaktionssicherheit erheblich. Im Fall Illumina/GRAIL (Az. T-227/21) hat das Europäische Gericht entschieden, dass die EU-Kommission Transaktionen auch dann fusionskontrollrechtlich prüfen kann, wenn sie weder selbst, noch ein Mitgliedstaat zuständig ist. Die Zuständigkeit der EU-Kommission könne allein damit begründet werden, dass ein Mitgliedsstaat die Transaktion an die EU-Kommission verweist. Nicht erforderlich ist, dass der Mitgliedsstaat selbst zur Untersuchung der Transaktion berechtigt ist. Auch hier hat die EU-Kommission "Killer Acquisitions" mit dem Ziel ins Auge gefasst, diese zu unterbinden.
Die Auffassung von Kokott hebt die Rechtsunsicherheit auf ein neues Level: Zukünftig können sich Unternehmen nicht mehr allein darauf verlassen, dass Fusionskontrollpflichten bei Unterschreiten der einschlägigen Schwellen ausscheiden. Neben Art. 22 FKVO – dessen neue Anwendungspraxis für sich alleine schon genügend Unsicherheiten mit sich gebracht hat – müssen Unternehmen gegebenenfalls ein Verfahren wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung fürchten. Die Kommission kann auf diesem Wege nachträglich die Prüfung von Transaktionen an sich ziehen, welche durch das Raster der Fusionskontrolle gefallen sind.
Für die Transaktionssicherheit ist das ein kaum haltbarer Zustand, der – insbesondere mit Blick auf die Risikoverteilung – sehr schwer in den Transaktionsdokumenten abzubilden ist. Wünschenswert wäre daher, dass in diesem Fall der EuGH nicht die gleiche Auffassung wie die Generalanwältin vertritt.
Dr. Marcel Nuys ist Partner im Bereich Kartellrecht bei Herbert Smith Freehills.
Shayan Mokrami ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kanzlei.
EuGH-Entscheidung zum Fall Towercast: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49992 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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