Überraschung aus Luxemburg: Der EuGH hat entschieden, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die deutsche "Sanierungsklausel" mit dem EU-Beihilferecht unvereinbar ist. Ein Rückschlag für die Kommission, meint Ulrich Soltész.
Bis 2011 enthielt das deutsche Körperschaftsteuergesetz die sogenannte Sanierungsklausel - § 8c Abs. 1a KStG. Sie ermöglichte es, den Verlustvortrag auf künftige Steuerjahre steuerlich zu nutzen. Im Jahr 2011 allerdings untersagte die Europäische Kommission diese Regelung als unzulässige Beihilfe.
Die Kommission – und ihr folgte das Gericht erster Instanz der EU – hatte den Untergang von Verlustvorträgen als steuerrechtlichen Normalzustand zugrunde gelegt. Denn es sei für alle Kapitalgesellschaften ein unbegrenzter Verlustvortrag vorgesehen, wobei dieser allerdings ausnahmsweise bei bestimmten Anteilsübertragungen entfalle. Diese Ausnahme erfahre wiederum durch § 8c Abs. 1a KStG eine Rückausnahme.
Was ist Regel und was ist Ausnahme?
Kommission und Gericht erster Instanz sahen also den ausnahmsweisen Verlustuntergang bei Anteilseignerwechsel als Regelfall und somit als Referenzrahmen an. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass die (Rück-)Ausnahme von der Ausnahme eine spezifische Sonderbehandlung und damit eine Beihilfe sei. Dieses komplexe Gedankenspiel zeigt in gewisser Weise die Beliebigkeit dieses "Regel-Ausnahme"-Testes, den die Kommission anwendet, wenn sie die Beihilfequalität einer Regelung prüft.
Aufgrund dieser Argumentation hatte die Kommission in ihrem Beschluss im Januar 2011 die Sanierungsklausel als mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe eingestuft. Das war ein herber Eingriff in das deutsche Steuerrecht. Nach Ansicht der Kommission schaffte diese Klausel eine Ausnahme von der (in § 8c Abs. 1 KStG aufgestellten) Regel des (anteiligen oder vollständigen) Verfalls von ungenutzten Verlusten bei Körperschaften, bei denen es zu einem "schädlichen" Beteiligungserwerb, d. h. von 25 Prozent oder mehr, gekommen sei. Die Klausel könne daher Unternehmen, die ihre Voraussetzungen erfüllten, einen "selektiven Vorteil verschaffen".
Deutschland wurde angewiesen, alle Vorteile, die aufgrund der Sanierungsklausel gewährt wurden, von den Begünstigten zurückzufordern. Gegen diesen Beschluss hatten zahlreiche Unternehmen geklagt.
EuGH zeigt der Kommission Grenzen auf
In der ersten Instanz waren diese Klagen ohne Erfolg. Auf das Rechtsmittel der Unternehmen hin hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch die erstinstanzlichen Urteile aufgehoben und zugleich den Beschluss der Kommission aus dem Jahre 2011 für nichtig erklärt (Urteil v. 28.06.2018, Rs.: C-203/16 P, C-208/16 P, C-209/16 P, C-219/16 P).
Der EuGH stellte fest, dass die Kommission und das Gericht den selektiven Charakter der Sanierungsklausel anhand eines fehlerhaft bestimmten Referenzsystems beurteilt haben. Sie hätten fälschlich allein die Regel des Verfalls von Verlusten als maßgebliches Referenzsystem eingestuft und die allgemeine Regel des Verlustvortrags von diesem Referenzsystem ausgenommen. Der von der Kommission bemühte "Regel-Ausnahme"-Test beruht laut EuGH auf der Annahme eines "Referenzsystems […], das aus einigen Bestimmungen bestehe, die aus einem breiteren rechtlichen Rahmen künstlich herausgelöst worden seien".
Das Urteil zeigt sehr deutlich, wie beliebig der "Regel-Ausnahme"-Test ist, der von der Kommission praktiziert wird. Wenn man nur den Referenzrahmen (Regel) richtig definiert, dann gelangt man auch zum Vorliegen einer Ausnahme. Mit einem solchen Kunstgriff kommt dann auch eine Beihilfe dabei heraus, wenn die Kommission dies so will.
Mit einer solchen apodiktischen Begründung war der Gerichtshof jedoch nicht einverstanden. Er schloss sich insoweit dem Generalanwalt an, der zuvor gesagt hatte, das Urteil erster Instanz sei "kein Musterbeispiel an Klarheit".
Thema "Steuern und Beihilferecht" bleibt Black Box
Egal auf welcher Seite man in diesem Verfahren steht: Es zeigt die Unschärfe des "Regel-Ausnahme"-Tests. Er ähnelt dem vielbeschriebenen Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Andererseits gilt aber natürlich auch: Diese Situation ist wohl nicht allein Schuld der Kommission, sondern dürfte auch damit zusammenhängen, dass Steuerregelungen immer verschachtelter werden. Es lässt sich kaum bestreiten, dass einige Mitgliedstaaten bestimmte Unternehmensgruppen durch besonders originelle Steuerkonstrukte beglücken wollen. Nur weil Steuerregeln oft äußerst komplex sind, kann es für sie aber keine Bereichsausnahme vom Beihilferecht geben. Andernfalls würden Mitgliedstaaten mit ausgeklügelten Gesetzgebungstechniken das Beihilfeverbot umgehen. Es bleibt also schwierig.
Auswirkungen auf Beihilfepolitik der Kommission
Auf den derzeitigen Kreuzzug der Kommission zur Bekämpfung von "Aggressive tax planning" dürften die heutigen Urteile allerdings keinen wesentlichen Einfluss haben. In diesen neueren Fällen, die u.a. Amazon, Apple, Starbucks und Fiat betreffen, geht es vor allem um steuerliche Einzelfallenscheidungen der mitgliedstaatlichen Finanzbehörden, sogenannte "tax rulings". Hiermit wurden nach den Feststellungen der Kommission – oft nach langen individuellen Verhandlungen mit den betroffenen Unternehmen – durch Einzelfallbescheide die Einzelheiten der steuerlichen Behandlung festgelegt.
In diesen "tax rulings"-Konstellationen, in denen man teilweise zugunsten der Unternehmen von den nationalen Regeln abgewichen ist, besteht also weniger Zweifel an dem spezifischen Charakter der Begünstigung. Es ist deshalb nicht damit zu rechnen, dass die Kommission das heutige Urteil insoweit als Rückschlag empfindet. Es ist jedoch ein deutliches Signal an die Kommission, dass sie bei der beihilferechtlichen Prüfung allergrößte Sorgfalt an den Tag legen sollte. Und somit zu begrüßen.
Der Autor Dr. Ulrich Soltész ist Rechtsanwalt und Partner bei Gleiss Lutz in Brüssel. Er arbeitet seit über 20 Jahren im EU-Recht, insbesondere im Europäischen Kartell- und Beihilferecht.
EuGH kassiert Kommissionsuntersagung: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29441 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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