Wer anmeldepflichtige Zusammenschlüsse vor kartellbehördlicher Genehmigung vollzieht, riskiert empfindliche Strafen – auch wenn der Deal in der Sache unkritisch ist, erklären Marcel Nuys und David Rasche.
Im Zuge der Übernahme der Toshiba Medical Systems Corporation (TMSC) hat die EU-Kommission eine Geldbuße in Höhe von 28 Millionen Euro gegen Canon verhängt. Das Unternehmen hat gegen das kartellrechtliche Vollzugsverbot (Gun Jumping/Frühstart) verstoßen. Hintergrund war eine sogenannte "Warehousing"-Struktur. Dabei wird das Zielunternehmen bis zum Abschluss des Übernahmeverfahrens bei einem neutralen Zwischenkäufer (z. B. einer Bank) geparkt. Nach der Presseerklärung der EU-Kommission soll Canon eine solche Transaktionsstruktur gewählt haben:
In einem ersten Schritt wurden an einen Zwischenkäufer 95 Prozent der Aktien von TMSC für einen Preis von rund 800 Euro verkauft. Gleichzeitig erwarb Canon für 5,28 Milliarden Euro die restlichen fünf Prozent an dem Unternehmen samt einer Option, die Anteile des Zwischenkäufers erwerben zu können. Nach der Genehmigung des Zusammenschlusses durch die EU-Kommission bereits im September 2016 übte Canon in einem zweiten Schritt seine Kaufoption aus. Die EU-Kommission sah darin ein unzulässiges Gun Jumping. Canon habe bereits vor Anmeldung und Genehmigung den Zusammenschluss (teilweise) vollzogen.
Kein Vollzug ohne Genehmigung
Damit hat sich Canon eine Geldbuße eingehandelt, obwohl der Zusammenschluss von der EU-Kommission freigegeben wurde. Denn bei der Prüfung, ob gegen das Vollzugsverbot verstoßen wird, kommt es nicht auf die Genehmigungsfähigkeit eines Zusammenschlusses an. Vielmehr liegt der Fokus darauf, ob der Zusammenschluss vor Genehmigung (teilweise) vollzogen wurde.
Der rechtliche Hintergrund ist folgender: Die EU-Kommission beziehungsweise das Bundeskartellamt wachen unter anderem darüber, dass Unternehmenszusammenschlüsse keine negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb haben. Da die Rückabwicklung eines vollzogenen Zusammenschlusses mit rechtlichen und insbesondere praktischen Schwierigkeiten verbunden ist, gilt – nach deutschem und europäischem Recht – für alle anmeldepflichtigen Zusammenschlüsse ein Vollzugsverbot. Danach ist es untersagt, einen Kaufvertrag unmittelbar nach der Unterzeichnung (Signing) dinglich zu vollziehen (Closing). Erst mit der Genehmigung der Behörden dürfen die Unternehmen tätig werden.
Die Strafen im Falle eines Verstoßes gegen das Vollzugsverbot sind empfindlich. Neben einer Geldbuße, die bis zu zehn Prozent des konzernweiten Jahresumsatzes betragen kann, sind sämtliche Vollzugshandlungen bis zur Genehmigung schwebend unwirksam.
Kein Eingriff in Alltagsgeschäfte
Für die Unternehmen und speziell für den Erwerber bedeutet das Vollzugsverbot eine besondere unternehmerische Herausforderung. Auf der einen Seite hat der Käufer ein Interesse, möglichst früh Einfluss auf das neu erworbene Unternehmen ausüben zu können. Nur so kann er sicherstellen, den vollen Wert des Zielunternehmens zu erhalten und frühzeitig mit einer Integration zu beginnen, zum Beispiel um Synergieeffekte zu nutzen oder eine reibungslose Integrationsphase sicherzustellen. Auf der anderen Seite ist angesichts der weitreichenden Folgen eines Verstoßes besondere Vorsicht bis zur Genehmigung geboten.
Erschwerend kommt hinzu, dass in der Praxis häufig nur schwierig zu beurteilen ist, ob eine konkrete Maßnahme unter das Vollzugsverbot fällt. In jedem Fall sind Maßnahmen untersagt, die den Zusammenschluss rechtlich oder tatsächlich vollziehen wie etwa die Ausübung von Kontrolle über erworbene Geschäftsanteile.
Ein eindeutiges Beispiel für ein unzulässiges Verhalten ist es, wenn der Erwerber noch vor der Genehmigung durch die zuständigen Behörden in den alltäglichen Geschäftsbetrieb des Veräußerers eingreift. Erst bei Maßnahmen außerhalb dessen ist ein Mitspracherecht des Erwerbers kartellrechtlich unter Umständen zulässig. Daher wird in Unternehmenskaufverträgen üblicherweise vereinbart, dass der Veräußerer in der Zeit zwischen Signing und Closing das Unternehmen im Rahmen des sogenannten Ordinary Course of Business (Tagesgeschäft) weiterführen muss und der Erwerber Maßnahmen widersprechen darf, die diesen Bereich verlassen.
Gefährdung des Unternehmenswertes
Maßnahmen außerhalb des Ordinary Course of Business sind vor allem Handlungen, die den Wert des Unternehmens gefährden und die eben nicht alltäglich sind. Hierunter fallen beispielsweise die Umstrukturierung eines Betriebs oder außergewöhnlich hohe oder riskante Investitionen. Sobald der Veräußerer diesen Bereich verlässt beziehungsweise verlassen will, ist die Zustimmung des Erwerbers erforderlich.
Allerdings sind die Grenzen des Ordinary Course of Business fließend: Für eine Bank gehören hohe Kreditgeschäfte zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb. Das gleiche gilt bei Grundstücksgeschäften für Immobilienunternehmen. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Kredit- und Grundstücksgeschäfte in jedem Unternehmen zum Alltagsgeschäft gehören. Auch innerhalb der einzelnen Geschäftsfelder zum Beispiel im Bankensektor oder in der Immobilienbranche gibt es ganz erhebliche Unterschiede hinsichtlich dessen, welche Geschäfte mit welchen Werten noch als alltäglich anzusehen sind.
Weiter Vollzugsbegriff des BGH
Weitere Komplexität im Bereich Vollzugsverbot entsteht dadurch, dass Auslegung und Reichweite (auch) maßgeblich davon abhängen, ob sich der Sachverhalt im deutschen oder im europäischen Raum bewegt. Während das Bundeskartellamt - bestätigt durch den Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 14.11.17, Az. KVR 57/16) - den Unternehmen beim Vollzugsverbot nur geringen Spielraum zugesteht, sieht jedenfalls der Europäische Gerichtshof (Urt. v. 31.05.18, Az. C-633/16) die Grenzen (teilweise) gelassener. Dies zeigte sich vor allem in den Entscheidungen des BGH in Sachen Edeka/Tengelmann sowie in der Rechtssache Ernst & Young, die der EuGH zu entscheiden hatte.
Der BGH vertrat in der Edeka/Tengelmann I Entscheidung einen weiten Vollzugsbegriff. Er stellte fest, dass bereits Handlungen unter das Vollzugsverbot fallen können, die im Zusammenhang mit dem Zusammenschluss erfolgen und zumindest teilweise die Wirkungen der Fusion vorwegnehmen. Der EuGH – im Ergebnis deutlich enger – entschied hingegen in Sachen Ernst & Young, dass ein Vollzug nur dann vorliegt, wenn es durch eine Handlung tatsächlich oder rechtlich zu einer Änderung der Kontrolle über das Zielunternehmen kommt.
Nur kurz durften Unternehmen nach der engeren Auslegung der Verbotsnorm durch den EuGH auf mehr Spielraum im Kontext Vollzugsverbot auch in Deutschland hoffen. Denn der BGH erteilte dieser Auslegung – für deutsche Sachverhalte – in seiner Edeka/Tengelmann II Entscheidung (Urt. v. 17.07.18, Az. KVR 64/17) wiederum eine klare Absage. Er vertrat die Auffassung, dass die deutsche Auslegung im Bereich der Zusammenschlusskontrolle von der europäischen abweichen dürfe. Das Gericht habe die Entscheidung im Fall Ernst & Young zwar zur Kenntnis genommen, werde aber weiterhin an seiner Linie aus Edeka/Tengelmann I festhalten.
Kommission auf Linie des EuGH
Auch wenn die Entscheidungsgründe in Sachen Canon noch nicht veröffentlicht sind, scheint die EU-Kommission im Wesentlichen der Linie des EuGH zu folgen.
Vor Genehmigung des Zusammenschlusses hatte Canon nur einen ersten Schritt getätigt, indem es den Warehouse Deal einleitete. Allerdings sieht die EU-Kommission das nicht als isolierte Handlung, die die Wirkung des Zusammenschlusses möglicherweise teilweise vorweg nimmt , was dem Verständnis des BGH entsprechen würde. Vielmehr sieht die EU-Kommission die Einleitung des Warehouse Deals und die Ausübung der Kaufoption nach Genehmigung als eine nicht trennbare Handlung an, die insgesamt zur Änderung der Kontrolle über das Zielunternehmen geführt hat. Damit ließe sich argumentieren, dass die Anforderungen an den engen Vollzugsbegriff des EuGH erfüllt sind. Ob der EuGH diese Ansicht teilt, bleibt abzuwarten. Canon hat bereits angekündigt, Beschwerde beim EuGH einzureichen.
Der Autor Marcel Nuys ist Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro von Herbert Smith Freehills und berät regelmäßig Unternehmen im Kartell- und Wettbewerbsrecht. Der Autor David Rasche ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei.
Geldbuße gegen Canon wegen kartellrechtlichen Frühstarts: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36667 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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