Wenn Politiker Verfassungsrichter werden, bringen sie Erfahrung mit, ggf. aber auch Interessenkonflikte. In Österreich etwa müssen sie vorher pausieren. Die AfD greift das Thema auf, Staatsrechtler teilen Kritik, Rechtspolitiker winken ab.
Rechtspolitik gehört eher zum Nebengeschäft der AfD, im Bundestag sitzen aber einige Juristen für die rechtspopulistische Partei. Dort hat die Fraktion bislang weitgehend unbemerkt Ende April einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich in eine größere Strategie der AfD einfügt.
Der konkrete Entwurf sieht vor: Politikerinnen und Politiker sollen nicht mehr ohne Zäsur Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) werden können. Laut dem Antrag soll es eine sechsjährige Karenzzeit geben, dafür soll das Bundesverfassungsgerichtsgesetz in § 3 geändert werden. Aufgenommen werden soll der Passus: "Sie [die Richter, Anm. d. LTO-Red.] dürfen vor ihrer Wahl sechs Jahre lang weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch den entsprechenden Organen des Landes angehört haben."
Die Erfolgsaussichten von Gesetzesinitiativen der AfD in der Opposition sind naturgemäß gering, doch darum geht es der Partei womöglich auch gar nicht. Vielmehr hat die Fraktion wieder einmal ein rechtspolitisches Reizthema ausfindig gemacht, das sich gut in ihre politische Strategie einfügt. Denn immer wieder gelingt es der AfD mit Gesetzentwürfen, aber auch mit – strategisch angelegten – Klagen Wirkung zu erzielen.
Die Idee ist immer die gleiche: Unsicherheiten oder Fehler im politischen Betriebsablauf finden und in Erfolge vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ummünzen - so bereits geschehen, wenn das Gericht zuletzt politischen Äußerungen des damaligen Innenministers Horst Seehofer oder Kanzlerin Angela Merkel Grenzen aufzeigt.
Auch das rechtspolitische Vorgehen im Bundestag ist nicht plump populistisch, sondern folgt einem durchaus planvollen Schema: Im Kern der Gesetzesvorschläge tauchen Forderungen auf, die so durchaus auch von Rechtswissenschaftlern und Praktikern vorgebracht werden, die nichts mit der Partei und ihren Zielen zu tun haben.
Kritik sogar aus Union: "Ein solcher Wechsel macht das höchste deutsche Gericht angreifbar"
Als der Unionsbundestagsabgeordnete und Rechtsanwalt Stephan Harbarth 2018 zum Präsidenten des BVerfG ernannt wurde, kritisierten Rechtswissenschaftler, Justizjournalistinnen und Linken-Rechtspolitiker den abrupten Wechsel. Niema Movassat, damals verfassungspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion im Bundestag, sagte dem Deutschlandfunk: "Aktive Politiker gehören nicht an das Bundesverfassungsgericht". "Bei der Richterwahl ist unbedingt darauf zu achten, dass zwischen Job in der Politik und auf der Richterbank eine Karenzzeit liegt", kommentierte Gigi Deppe für den SWR. Der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler schrieb bei Zeit Online: "Es ist falsch, aktive Spitzenpolitiker zu Verfassungsrichtern zu machen."
Auf der Richterbank in Karlsruhe ist neben Harbarth derzeit noch ein weiterer ehemaliger Politiker vertreten. Verfassungsrichter Peter Müller war zwölf Jahre lang CDU-Ministerpräsident im Saarland. Er wechselte Ende 2011 bruchlos vom Ministerposten ans BVerfG. "Ein solcher Wechsel macht das höchste deutsche Gericht angreifbar", hatte damals sogar CDU-Vorstandsmitglied Hendrik Wüst – heute NRW-Ministerpräsident – kritisiert. "Wenn wir den Wechsel von Vorständen in den Aufsichtsrat kritisieren, kann man nicht aus der ersten Reihe der Politik direkt nach Karlsruhe wechseln", so Wüst.
Staatsrechtler: Politische Erfahrung am BVerfG Gewinn – aber auch Risiko
Rechtsprofessor Boehme-Neßler, der betont, dass er keinerlei Sympathien für die AfD hegt, steht auch heute weiter zu seiner kritischen Einschätzung aus 2018. "Egal ob berechtigt oder nicht, bei einem schnellen Wechsel von Politikern an das Bundesverfassungsgericht entsteht der Eindruck, dass die Parteipolitik das unparteiische Gericht infiltriert", sagt der Öffentlich-Rechtler zu LTO. Das sei besonders verheerend, weil das BVerfG unbedingt auf Vertrauen angewiesen ist. Es habe keine Durchsetzungsbefugnisse zur Hand, seine Entscheidungen lebten von der Akzeptanz – in der Politik wie bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Andererseits findet er, dass Politiker in den roten Roben des BVerfG ein Gewinn für das Gericht darstellen, sie könnten die Perspektive und Expertise des Gerichts entscheidend verbreitern. "Aber wenn wir Menschen mit Erfahrung aus der politischen oder der wirtschaftlichen Arbeitswelt an das Bundesverfassungsgericht holen, dann müssen wir uns fragen, welche Altlasten werden mitgebracht, welche Loyalitäten bestehen noch zu Parteien oder Unternehmen." Boehme-Neßler könnte sich einen Überganszeitraum von drei Jahren gut vorstellen.
Auch der Staatsrechtler Alexander Thiele, Rechtsprofessor an der privaten Business & Law School in Berlin, ist skeptisch gegenüber schnellen Wechseln. "Anders als beim Wechsel von der Politik in die Wirtschaft reden wir beim Wechsel aus der Politik ans Bundesverfassungsgericht über einen Gewaltensprung. Außerdem wechselt dann jemand von der Gestaltungs- in die Kontrollgewalt." Aus seiner Sicht lassen sich durch die existierenden Befangenheitsregeln im Einzelfall Konflikte abfangen, so kann bei begründeter Besorgnis der Befangenheit eine Richterin oder ein Richter abgelehnt werden (§ 18, 19 BVerfGG). "Sie sind aber kein Mittel, wenn durch eine Personalie der Gesamteindruck einer Befangenheit entsteht."
Mehr Anklage als Gesetzentwurf?
Warum hat die AfD ausgerechnet jetzt das Thema entdeckt, wo es doch schon 2018 diskutiert wurde und die Fraktion damals schon mit einem Gesetzentwurf gegen die "Politisierung" reagierte? Einen konkreten Anlass gebe es nicht, sagt AfD-Rechtspolitiker Stephan Brandner auf LTO-Nachfrage. "Gewaltenteilung soll Gewaltenteilung bleiben." Das System der Befangenheitsregeln könne grundsätzlich eine Lösung bieten, findet Brandner, es werde aber in Karlsruhe nicht konsequent genug angewendet.
Mit Angriffen auf den Gerichtspräsidenten Harbarth haben AfD-Politiker eine regelrechte Obsession entwickelt. Auf der Homepage der AfD-Fraktion spielt das Gesetz nur in der Überschrift für einen Beitrag eine Rolle, danach wird es mit keinem Wort mehr erwähnt, der Beitrag liest sich wie eine Anklageschrift gegen Harbarth persönlich.
Fünf-Jahre-Abkühlphase gilt am österreichischen Verfassungsgerichtshof
Nach einer Abkühlregelung für ein Verfassungsgericht muss man in den Rechtssystemen der Nachbarstaaten suchen. In Österreich gibt es eine Karenzregel, die den direkten Wechsel aus der Politik auf den Posten des Präsidenten und Vize-Präsidenten am Verfassungsgerichtshof für fünf Jahre untersagt (Art. 147 Bundes-Verfassungsgesetz). "Die Bestimmung hat vor allem den Sinn und Zweck, den VfGH nach außen hin als unabhängiges Gericht erscheinen zu lassen, weshalb auch 'nur' der Präsident oder Vizepräsident davon betroffen sind", sagt Rechtsprofessor Harald Eberhard von der Wirtschaftsuniversität Wien. "Denn der Präsident vertritt den VfGH nach außen beziehungsweise leitet diesen." Eingeführt wurde die Schranke im Jahr 1929. Die Regelung sei vor dem Hintergrund instabiler Verhältnisse damals zu sehen, man habe wohl den Eindruck der Unabhängigkeit stärken wollen, so Eberhard.
Zunächst sei damals vorgeschlagen worden, die Regelung auf alle Gerichtsmitglieder zu erstrecken, am Ende wurde sie nur für das Präsidium beschlossen. Eberhard merkt an, dass es in den vergangenen Jahren aus Anlass des Wechsels eines Mitglieds der Bundesregierung an den Verfassungsgerichtshof in Österreich eine Diskussion gab, ob man die Regelung auf alle Mitlieder ausweiten soll. Passiert ist das aber letztlich nicht.
"Gefährlich, weil AfD-Antrag unterstellt, das Gericht sei bereits politisiert"
Fragt man bei den Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern der Bundestagsfraktionen nach, dann zeichnet sich ab, dass der Gesetzentwurf, der als nächstes den Rechtsausschuss beschäftigt, keine Zustimmung finden wird.
Die Vorsitzende des Ausschusses, Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU), lehnt ihn ab. „Das Bundesverfassungsgericht befasst sich regelmäßig mit Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Dabei kommt es auch immer wieder darauf an, zu verstehen, wie die Verfahren im Parlament ablaufen. Deshalb ist es hilfreich, wenn auch solche Erfahrungen in der Richterschaft vertreten sind.“ Außerdem verweist sie auf das eingebaute Sicherungsnetz des BVerfG. "Niemand kann dort als Einzelner allein etwas bewegen, die 16 Richterinnen und Richter müssen in ihren Senaten und Kammern Mehrheiten und Kompromisse suchen."
Außerdem habe die Erfahrung gezeigt, dass etwaige politische Erwartungen, die eine Partei mit ihrem Personalvorschlag für das BVerfG verbinden könnte, regelmäßig scheitere: "Schon das Selbstverständnis der Richter und Richterinnen schließt jede Beeinflussung aus. Außerdem gibt es schon wegen der begrenzten zwölfjährigen Amtszeit und der ausgeschlossenen Wiederwahl wenig Anreiz für irgendwelche Rücksichtnahmen." Sie hält den Gesetzentwurf der AfD für ein gefährliches Narrativ, weil die Fraktion damit unterstelle, das BVerfG sei bereits politisch unterwandert.
Das bekümmert auch Thorsten Lieb (FDP), stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses. "Man muss sich schon fragen, wie sehr geht es der AfD eigentlich um die Sachfrage und wie sehr darum, dass der Eindruck erzeugt wird, das Bundesverfassungsgericht sei bereits politisiert." Wo Interessenkollisionen am Gericht drohten, müsse die Öffentlichkeit das erfahren. "Das scharfe Schwert einer verordneten Abklingphase lehne ich ab", sagt Lieb. Der Befangenheitsmechanismus reiche zur Konfliktbewältigung aus. Dass unterschiedliche Perspektiven am Gericht versammelt sind, hält Lieb für eine kluge Errungenschaft.
Februar 2020: Ernstfall für einen Berufspolitiker auf der Richterbank
Was das ganz konkret für die Arbeit des BVerfG bedeutet, konnte man etwa bei einer mündlichen Verhandlung im Februar 2020 im Karlsruher Gerichtssaal beobachten. Dort nutzte der Prozessvertreter der AfD das Verfahren für einen lautstarken und bisweilen drohenden Auftritt. Der Richterbank war die Unsicherheit anzumerken, geht es doch gegenüber am Rednerpult sonst respektvoll und geradezu demütig in den Räumlichkeiten des BVerfG zu. Einer, der in dieser hitzigen Diskussion ab und zu einschreiten konnte, war Peter Müller, der Profipolitiker und Ex-Ministerpräsident, der mit solchen Situationen vertraut ist.
Auch SPD-Rechtspolitikerin Sonja Eichwede sieht die Politperspektive durch ehemalige Abgeordnete am Gericht als Bereicherung. "Das heißt auch, wichtige Erfahrung aus anderen Lebensbereichen mitzubringen, und damit einer anderen alltäglichen Welt abseits von Lehrstühlen." Aus ihrer Sicht wäre auch in der Sache eine Karenzzeit von sechs Jahren wenig sinnvoll, da damit ein Konflikt zwischen Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren und spätere Entscheidung über das Gesetz in Karlsruhe zeitlich gerade nicht ausgeschlossen werden könne. Was das Gesetzgebungsverfahren durchlaufen habe, erreiche erst mit einiger zeitlicher Verzögerung das BVerfG. Ihr erscheint der AfD-Antrag widersprüchlich. "Der Entwurf fordert eine Karenzzeit für Politiker. Das eigentliche Problem hat die AfD aber mit Harbaths vorheriger Tätigkeit als Wirtschaftsrechtsanwalt. Hätte hier aber ein konkreter Mandatskonflikt vorgelegen, so wäre Harbath bereits nach derzeitiger Gesetzeslage vom Verfahren ausgeschlossen gewesen. Einer rechtlichen Anpassung bedarf es hier nicht."
Kommt 2023 schon der nächste Politiker oder Politikerin ans BVerfG?
Auch wenn der Vorstoß der AfD im Bundestag wohl nicht aufgegriffen wird und auch nach Informationen von LTO dazu auch derzeit kein eigener Vorschlag erarbeitet wird, wird das Thema die Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker bald wieder beschäftigen: Die Amtszeit von Bundesverfassungsrichter Peter Müller endet im September 2023. Wer seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger wird, ist offen.
Das steckt hinter einem AfD-Gesetzentwurf: . In: Legal Tribune Online, 26.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52081 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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