Was Erfurt sagt, ist noch lange nicht Gesetz: Die Instanzgerichte müssen sich nicht an die Urteile des Bundesarbeitsgerichts halten. Das tun sie bei dem ewigen Streitfall Verzugskostenpauschale auch nicht, erklärt Alexander Willemsen.
Im Rahmen der Umsetzung der europäischen Schuldnerverzugsrichtlinie hat der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2014 in § 288 Abs. 5 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) eine Regelung eingeführt, nach der der Gläubiger bei Verzug des Schuldners eine Pauschale in Höhe von 40 Euro geltend machen kann. Dies gilt allerdings nur, wenn der Schuldner kein "Verbraucher" im Rechtssinne ist.
Seit der Einführung dieser Regelung war umstritten, ob sie auch im Arbeitsrecht gilt, also ob auch der Arbeitgeber verpflichtet sein kann, die Verzugskostenpauschale zu zahlen. Viele Landesarbeitsgerichte und einige Stimmen der Literatur haben in der Vergangenheit die Anwendbarkeit der Regelung bejaht. Im vergangenen Jahr hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) jedoch Klarheit geschaffen und entschieden, dass die Regelung zur Verzugskostenpauschale im Arbeitsrecht keine Anwendung findet (Urt. v. 25.09.2018, Az. 8 AZR 26/18).
Anders als üblich war der Meinungsstreit damit allerdings nicht beigelegt. Einige Gerichte haben sich ausdrücklich gegen das Urteil des BAG ausgesprochen. Es lohnt sich ein genauerer Blick darauf, worin genau der Meinungsstreit besteht und welche Folgen der Widerstand der Instanzgerichte haben kann.
Urteil des BAG: Keine Verzugskostenpauschale im Arbeitsverhältnis
In dem Fall, den das BAG zu entscheiden hatte, stritten die Parteien um einen Anspruch auf Besitzstandszulage aus betrieblicher Übung. Der klagende Maschinenführer machte neben dieser Zulage und entsprechenden Zinsen auch die Zahlung einer Verzugspauschale gem. § 288 Abs. 5 BGB gegen seine Arbeitgeberin geltend. Mit der Revision zum BAG wandte sich die Beklagte gegen den Zuspruch der Pauschale. Das BAG gab der Revision statt und lehnte einen Anspruch des Arbeitnehmers auf eine Verzugskostenpauschale ab. Vor den Arbeitsgerichten gelte die Regelung des § 12 a Abs. 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), nach der sowohl im Prozess anfallende als auch sonstige Beibringungskosten der obsiegenden Partei nicht vom Unterliegenden ersetzt werden müssten.
Von diesem Ausschluss sei auch die Verzugspauschale aus § 288 Abs. 5 BGB erfasst. Mit § 12 a Abs. 1 ArbGG habe der Gesetzgeber sicherstellen wollen, dass jede Partei in erster Instanz grundsätzlich und unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits nur die eigenen (Beitreibungs-)Kosten zu tragen habe. So solle das Kostenrisiko gering und für die Parteien überschaubar gehalten werden. Ausnahmen von der Ausschlusswirkung seien nur da geboten, wo dieser Zweck nicht gefährdet werde.
In der Entscheidung setzt sich das BAG auch mit den Gegenargumenten auseinander: Dem Einwand, es sei inkonsequent, im Arbeitsrecht zwar Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 BGB, aber keine Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB zu zahlen, hält das BAG entgegen, dass ein Systembruch schon deshalb nicht erkennbar sei, weil beide Ansprüche nicht untrennbar miteinander verbunden seien. Die mit dem Ausschluss des § 288 Abs. 5 BGB zwangsläufig einhergehende Benachteiligung eines Gläubigers einer Arbeitsentgeltforderung im Vergleich zu einem Gläubiger vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit sei ebenfalls gerechtfertigt. Schließlich benötige der Kläger im effizienteren und kostengünstigeren arbeitsgerichtlichen Verfahren weniger Schutz vor einem langsamen und nicht wirksamen Verfahren.
Instanzgerichte bleiben frei
Erfurt locuta, causa finita? (Erfurt hat entschieden, die Sache ist erledigt?) Nicht ganz: Einige Instanzgerichte haben sich gegen die Entscheidung des BAG gerichtet und eine Pauschale nach § 288 Abs. 5 BGB zugesprochen, zuletzt das LAG Sachsen (Urt. v. 17.07.2019, Az. 2 Sa 364/18).
Was auf den ersten Blick wie Ungehorsam gegenüber dem höchsten deutschen Arbeitsgericht anmutet, ist rechtlich jedoch durchaus zulässig und mitunter auch beabsichtigt: Höchstrichterliche Entscheidungen wie die des BAG haben zwar eine Leitfunktion für künftige Fälle, eine direkte Bindungswirkung kommt ihnen aber nicht zu. In ihrer Entscheidungsfindung bleiben die Gerichte, anders als in Common Law Rechtssystemen wie beispielsweise den USA, letztlich frei.
Die Argumente der Instanzgerichte gegen die Entscheidung des BAG lassen sich durchaus hören: Wörtlich beziehe sich § 12 a Abs. 1 ArbGG nur auf Kosten für Zeitversäumnis und die Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes. § 288 Abs. 5 BGB beträfe einen völlig unterschiedlichen Regelungsinhalt, weshalb § 12 a Abs. 1 ArbGG nicht als speziellere Vorschrift vorgehen könne. Eine stillschweigende Anordnung des Gesetzgebers, die Kostenpauschale unanwendbar zu belassen, sei aus der Ausschlussnorm ebenfalls nicht erkennbar. Das Verständnis des BAG gehe zu weit und überschreite die Grenzen der zulässigen richterlichen Rechtsfortbildung.
Normzweck spricht gegen das BAG
Für die Auffassung der abweichenden Instanzgerichte spricht auch der Zweck beider Vorschriften. Der Schutzzweck des § 12 a Abs. 1 ArbGG geht dahin, die Beitreibungskosten in der ersten Instanz des arbeitsgerichtlichen Verfahrens gering und überschaubar zu halten. Dies dient dazu, niemanden aus Angst vor einer übermäßigen Kostentragungspflicht von der gerichtlichen Erhebung arbeitsrechtlicher Ansprüche abzuhalten.
Dieser Zweck wird aber durch den Zuspruch einer Kostenpauschale nicht unterlaufen. So führt insbesondere das Arbeitsgericht (ArbG) Bremen-Bremerhaven (Urt. v. 05.03.2019, Az: 6 Ca 6294/18) aus, der Arbeitnehmer werde schon deshalb nicht von einem Prozess abgehalten, weil die Kostenpauschale nur zu seinen Gunsten wirken könne (ähnlich ArbG Bremen-Bremerhaven, Urt. v. 20.11.2018, Az: 6 Ca 6390/17). Der Arbeitgeber wird ebenso wenig von einem Prozess abgehalten, da er mangels Anwendbarkeit des § 288 Abs. 5 BGB ohnehin keinen Anspruch gegen den Arbeitnehmer habe.
In ihrer Kritik greifen die Gerichte auch die bisherige Rechtsprechung des BAG auf, wonach einige Beibringungskosten, wie beispielweise Reise- oder Unterbringungskosten, auch bei arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten ersatzfähig sind. Letztlich widerspreche sich das BAG durch den Ausschluss der Verzugspauschale selbst. Im Gegensatz zu diesen anerkannten Ausnahmefällen sei die Kostenpauschale in der Höhe gering und kalkulierbar. So würden beispielweise Reisekosten unter Umständen zu einer sehr viel höheren finanziellen Belastung führen als die Kostenpauschale in Höhe von 40 Euro.
Nicht alle sind gegen das BAG
Die Verzugskostenpauschale bleibt ein Zankapfel. Das LAG Sachen hat mit seiner Entscheidung deutlich gemacht, dass es dem BAG nicht gelungen ist, durch eine schlüssige und überzeugende Begründung Klarheit über die Anwendbarkeit der Verzugskostenpauschale zu schaffen. Die praktische Relevanz dieser Auseinandersetzung darf aber nicht überbewertet werden. Der Großteil der Landesarbeitsgerichte hat sich den Ausführungen des BAG angeschlossen und lehnt eine Pauschale ab. Inzwischen hat auch der 5. Senat des BAG die Erstentscheidung des 8. Senates in einem weiteren Urteil bestätigt (BAG, Urt. v. 12.12.2018, Az. 5 AZR 588/17).
Das Urteil des LAG Sachsen ist bereits in die Revision gegangen. Wie bereits in der Ausgangsentscheidung des BAG wird sich auch hier der 8. Senat mit dem Fall befassen. Das Ergebnis des Verfahrens ist damit vorgezeichnet: Es ist nahezu ausgeschlossen, dass der 8. Senat des BAG die Kritik der Landesarbeitsgerichte zum Anlass für eine kurzfristige Kehrtwende nehmen würde. Arbeitgeber müssen sich aber derzeit damit abfinden, dass die Frage der Verzugskostenpauschale uneinheitlich beantwortet wird.
Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
Nach BAG-Urteil zur Verzugskostenpauschale: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38445 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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