Der Sächsische VerfGH hat mit seiner Eilentscheidung über die AfD-Liste bereits eine wichtige Frage der Wahlzulassung entschieden. Einige grundlegende Verfahrensschwächen kann das Urteil aber nicht beheben, erklärt Sebastian Roßner.
Unfreiwillig hatte die sächsische AfD mit der umstrittenen Aufstellung ihrer Liste für die kommende Landtagswahl den Finger in eine offene Wunde gelegt: Der Rechtsschutz in Fragen der Wahlvorbereitung war bislang chronisch unwirksam. Der Sächsische Verfassungsgerichtshof (VerfGH) hat nun am 25. Juli 2019 entgegen den Prognosen der meisten Beobachter – auch des Verfassers – über einen Antrag der AfD auf einstweiligen Rechtsschutz entschieden. Der Antrag wurde im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gestellt, die sich gegen die Entscheidung des sächsischen Wahlausschusses richtete, einen großen Teil der von der AfD eingereichten Liste nicht zur Landtagswahl zuzulassen.
Das Urteil hat zwei wesentliche Aspekte: Es klärt wichtige Fragen des sächsischen Landtagswahlrechts und weist daraufhin, dass Rechtsschutz in Fragen der Wahlzulassung notwendig ist.
Getrennte Veranstaltungen unschädlich
Den Umstand, dass die Liste der AfD in zwei getrennten Veranstaltungen aufgestellt wurde, sahen die Richter in Leipzig als nicht gravierend an. Sie ließen daher, entgegen der Entscheidung des Wahlausschusses, auch die Plätze 19 bis 30 auf der Liste zur Landtagswahl zu, die erst auf der zweiten Veranstaltung besetzt worden waren.
Anders beurteilten die Verfassungsrichter hingegen, dass erst auf der zweiten Veranstaltung das Wahlverfahren für die Listenplätze 31 bis 61 geändert wurde und hielten damit die Entscheidung des Wahlausschusses aufrecht, die Liste insoweit nicht zuzulassen. Dahinter steht die Überlegung, dass durch den Wechsel des Wahlverfahrens während der Listenaufstellung die Chancengleichheit der Kandidaten beeinträchtigt wurde.
Die Leipziger Richter haben so den Maßstab ausbuchstabiert, welchen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1993 formuliert hat: Die Karlsruher Verfassungsrichter hatten entschieden, dass die politischen Parteien einen Kernbestand an demokratischen Verfahrensgrundsätzen zu beachten haben (Beschl. v. 20.10.1993, Az. 2 BvC 2/91). Vermutlich wird der VerfGH Sachsen bei dieser Linie bleiben, wenn er, wie angekündigt, am 16. August 2019 seine Entscheidung in der Hauptsache verkündet. Der Konflikt um die AfD und ihre Chancen bei der Landtagswahl im Herbst 2019 dürfte damit beigelegt sein.
Bisher: Wahlprüfungsverfahren erst nach der Wahl
Bedeutsam ist das Urteil des VerfGH jedoch auch über die kommende sächsische Landtagswahl hinaus, weil das Gericht nicht nur in praktisch wichtigen Fragen des Wahlrechts gesprochen hat, sondern vor allem, weil es bereits vor der Wahl in der Sache entschieden hat. Zwar liegt es auf der Hand, dass Fragen der Wahlzulassung, die für das Wahlergebnis bedeutsam sein können, sinnvollerweise vor der Wahl geklärt werden. Das geschah bisher jedoch nicht.
Dies liegt an der Gestaltung, die das Wahlprüfungsverfahren in Sachsen, im Bund und in den meisten deutschen Ländern erfahren hat. Die Wahlprüfung ist nach Art. 45 Abs. 1 S. 1 Verfassung des Freistaates Sachsen wie nach Art. 41 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) und nach den nahezu gleichlautenden Vorschriften der meisten Landesverfassungen Sache des jeweiligen Parlaments.
Gegen die Entscheidung des Parlaments kann dann das jeweils zuständige Verfassungsgericht angerufen werden. Das gesamte Wahlverfahren, einschließlich der Zulassung von Wahlvorschlägen, soll nach bisheriger Rechtsprechung ausschließlich im Wahlprüfungsverfahren rechtlich zu überprüfen sein, das nach der Wahl stattfindet (für die Bundestagswahlen etwa BVerfG, Beschl. v. 24.08.2009, Az. 2 BvQ 50/09).
Schlechte Erfahrung bei Causa Samtleben
Dies war bislang auch der rechtliche Standpunkt des Sächsischen VerfGH, der damit aber schlechte Erfahrungen machen musste. Im Jahr 2014, als vor der damaligen Landtagswahl über die Verfassungsbeschwerde des von der Landesliste der AfD gestrichenen Kandidaten Arvid Samtleben zu entscheiden war, wies das Gericht den Antrag unter Verweis auf den Vorrang des Wahlprüfungsverfahrens zurück (Sächsischer VerfGH, Beschl. v. 28.08.2014, Az. Vf. 56-IV-14].
Samtleben ließ die Sache nicht auf sich beruhen, sondern erhob nach der Wahl Einspruch beim Landtag, der erwartungsgemäß erfolglos blieb, und legte anschließend Wahlprüfungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof ein. Dieser sah sich genötigt, festzustellen, dass ein mandatserheblicher Wahlfehler vorlag, denn Arvid Samtleben wäre bei rechtmäßigem Gang der Dinge Abgeordneter geworden. Zum Zeitpunkt der Entscheidung im April 2018, also im letzten Drittel der fünfjährigen Wahlperiode, wollte das Gericht den Landtag jedoch nicht mehr auflösen und begründete dieses Ergebnis damit, es sei nicht "unerträglich", dass der fehlerhaft zusammengesetzte Landtag fortbestehe (Urt. v. 11.04.2018, Az. Vf. 108-V-17).
Die Causa Samtleben zeigt exemplarisch, weshalb das Wahlprüfungsverfahren dringend reformiert werden muss: Die Wahlprüfung durch das Parlament ist ein Relikt des Konstitutionalismus und nur damit erklärbar, dass im 19. Jahrhundert die deutschen Parlamente aus einem gesunden Misstrauen gegen die Monarchen und deren Beamte und Richter heraus es in die eigene Hand nahmen, ihre korrekte Zusammensetzung zu prüfen.
Rechtsschutz vor der Wahl zwingend notwendig
Die Einschaltung des Parlaments in die Wahlprüfung ist unter heutigen Bedingungen jedoch nur noch eine Verschwendung wertvoller Zeit, die bewirkt, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts im Beschwerdeverfahren zu spät kommt. Durch den Ablauf der Zeit gewinnt der Gesichtspunkt des Bestandsschutzes des gewählten Parlaments immer mehr an Gewicht, so dass dessen fehlerhafte Zusammensatzung vom Gericht eher hingenommen wird. Dieser Webfehler im Wahlprüfungsverfahren betrifft die Wahlen zu den meisten Landtagen, zum Bundestag und zum Europäischen Parlament, für die kraft § 26 Europawahlgesetz weitgehend das gleiche Wahlprüfungsverfahren wie für die Bundestagswahlen gilt, so dass inkonsequenter Weise der Bundestag darüber entscheidet, ob die deutschen Abgeordneten im Europaparlament korrekt gewählt wurden.
Vor allem aber muss es in Fragen der Wahlzulassung bereits vor der Wahl gerichtlichen Rechtsschutz geben. Im Verfahren der Wahlzulassung entscheiden die Wahlausschüsse über die Korrektheit der Aufstellung von Direktkandidaten und Listen. Sie haben dabei zu überwachen, ob eine Vielzahl wahlrechtlicher Bestimmungen eingehalten wurde; sie müssen bei den Listen auch prüfen, ob die einreichende Organisation eine politische Partei ist. Fehler, die in diesen Fragen gemacht werden, beeinflussen typischerweise die Zusammensetzung des Parlaments und sind nach der Wahl nur noch schwer zu korrigieren. Daher sollte die Rechtskontrolle in den Zeitraum vor der Wahl verlegt werden.
Dabei handelt es sich nicht nur um eine rechtspolitisch sinnvolle Vorstellung, sondern um eine Forderung, die sich aus den Grundsätzen von Volkssouveränität und Rechtsstaat ableiten lässt. Denn die Parlamentswahlen sind der zentrale Ausdruck des politischen Willens des Volkes und müssen wirksam durch Gerichte geschützt werden. Die Verfassungsvorschriften über das überkommene Wahlprüfungsverfahren stehen dem nicht entgegen; man muss sich nur von der tradierten, aber längst veralteten Vorstellung lösen, das Wahlprüfungsverfahren sperre von Verfassung wegen die Möglichkeit, in anderen, ergänzenden Verfahren bereits vor der Wahl Rechtsschutz zu gewähren.
Urteil aus Sachsen nur ein Notbehelf
Insoweit weist die jüngste Entscheidung des sächsischen VerfGH in die richtige Richtung. Sie kann aber aus verschiedenen Gründen nur ein Notbehelf bleiben. Erstens will der VerfGH wohl nur ausnahmsweise im Falle außerordentlich schwerer drohender Wahlfehler bereits vor der Wahl eingreifen. Diese Einschränkung ist unklar und unnötig. Zweitens erging das Urteil im Verfahren der Verfassungsbeschwerde. Dieser Weg ist aber in den Ländern, die keine Landesverfassungsbeschwerde kennen, nicht gangbar. Drittens ist die Zeit zwischen der Entscheidung der Wahlausschüsse über die Wahlzulassung und der Wahl selbst knapp, weshalb es besonderer Fristenregelungen bedarf. Und viertens sollte der zulässige Prüfungsgegenstand einer Wahlzulassungsbeschwerde genauer bestimmt werden.
Sinnvoll ist es daher, ein spezialisiertes Verfahren zu schaffen, am besten zum jeweiligen Verfassungsgericht. Ein Beispiel dafür gibt es bereits: § 18 Abs. 4a Bundeswahlgesetz bietet in einem Teilbereich der Wahlzulassung Rechtsschutz. Die Norm regelt nämlich die Beschwerde, die eine Vereinigung zum BVerfG erheben kann, falls sie vom Bundeswahlausschuss nicht als politische Partei anerkannt wurde und deshalb keine Wahlvorschläge einreichen kann. Die Rechtsmittelfrist von nur vier Tagen ab Bekanntgabe der Entscheidung des Wahlausschusses trägt dabei der besonderen Knappheit der Zeit Rechnung. Der zukünftige Rechtsschutz in Fragen der Wahlzulassung könnte sich an diesem Beispiel orientieren.
Jedenfalls ist es sinnvoll und geboten, alte Zöpfe abzuschneiden und einen der Wahl vorgelagerten, effektiven Rechtsschutz in Fragen der Wahlzulassung zu gewähren.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt für die Kanzlei LLR in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Urteil des VerfGH Sachsen zur AfD-Kandidatenliste: . In: Legal Tribune Online, 31.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36785 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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