Deutschland hat einen neuen Bundespräsidenten und auch ohne Ballack ist die WM ganz gut gelaufen. Duisburgs Oberbürgermeister Sauerland und Kassiererin Emmely konnten ihre Jobs behalten und der Winter nebst Reifenpflicht nervte Deutschland. 2010 war aber auch ein Jahr der großen moralischen Fragen an die Gerichte. Pia Lorenz erinnert sich.
Schaut man zurück auf das vergangene Jahr, fallen einem meist zuerst die Katastrophen ein. Allerdings ist das auch wenig überraschend, da sich in 2010 eine für deutsche Verhältnisse sehr ungewöhnliche Katastrophe ereignete: Im Land der extrem hohen Sicherheitsstandards gerade auch bei Großevents endete die Spaßveranstaltung Loveparade im Desaster. Bei der Party, die in Duisburg stattfand und Teil der "Kulturhauptstadt 2010" im Ruhrgebiet war, kam es zu einer Massenpanik. Insgesamt 21 Menschen kamen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt.
Der Veranstalter wollte aber ebenso wenig Fehler gemacht haben wie die Sicherheitsbehörden, obgleich schmalere Rettungswege zugelassen und viel mehr Teilnehmer auf das Gelände des alten Güterbahnhofs gelassen worden waren als zulässig. Jedenfalls trauerte das ganze Land mit den Verletzten und Hinterbliebenen, Neu-Bundespräsident Christian Wulff schlug die Einrichtung eines Spendenfonds vor, und Loveparade-Erfinder Dr. Motte gründete einen Fonds für die Opfer. Was bleibt, ist dennoch ein fader Nachgeschmack, insbesondere, wenn man das Verhalten der behördlichen Entscheidungsträger im Vorfeld der Veranstaltung, aber auch im Nachgang zu der Katastrophe betrachtet.
Der politische Druck auf Duisburgs Oberbürgermeister Sauerland hat nicht zu dessen Abwahl geführt, er hatte aber auch nicht freiwillig auf ein solches Verfahren verzichtet. Wohl nicht nur böse Zungen führten dies auch auf die möglichen Auswirkungen eines solchen faktischen freiwilligen Rücktritts auf die Bezüge des Beamten Sauerland zurück.
Die WM 2010: Michael Ballack, Vuvuzelas und südländisches Flair
Eine wesentlich erfreulichere Massenveranstaltung war dagegen die Fußball-Weltmeisterschaft. Mario Gomez wurde 2010 nicht zum deutschen Staatsfeind Nr. 1, sondern überließ die Schlagzeilen in diesem Jahr seinem Namensvetter, der mit 32 Kollegen nach einem schweren Minenunglück in Chile im Rahmen einer spektakulären Aktion unter den Augen der Weltöffentlichkeit gerettet wurde.
Und auch Kevin-Prince Boateng, im Vorfeld der WM wegen des schweren Fouls an Michael Ballack heißer Anwärter auf den diesjährigen deutschen Staatsfeind Nr. 1, geriet aus der Schusslinie, als das junge deutsche Team auch ohne den Kapitän den dritten Platz erreichte.
Vielleicht nicht Staatsfeind Nr. 1, aber ziemlich sicher und nicht nur in Deutschland ganz oben in den Top Ten der most hated things dürfte allerdings die Vuvuzela sein, die nicht nur in den Stadien, sondern auch beim Public Viewing und daheim die Fans in den Wahnsinn trieb.
Aber wer weiß, vielleicht werden wir uns an die Teufelströte ebenso gewöhnen wie an die Autokorsos, die mittlerweile jedenfalls nach Spielen mit deutscher Beteiligung zur Normalität geworden sind. Und auch, wenn die Korsos rechtlich in mancherlei Hinsicht bedenklich sein mögen, drückt selbst der deutsche Schutzmann angesichts so viel südländischen Flairs gern ein Auge zu – es ist doch WM.
Und noch mehr Sport, allerdings weit weniger erfreulich
Der Fußball brachte aber auch in 2010 nicht nur Spaß: So sorgte die Vergabe der WM für die Jahre 2018 und 2022 an Russland und Katar nicht nur für Unmut, sondern hat möglicherweise auch noch rechtliche Konsequenzen. Denn die Wahl fand nur mit 22 anstelle der vorgeschriebenen 24 Mitglieder statt, da zwei von ihnen wegen Bestechlichkeit suspendiert worden waren.
Um die Korruption im Fußball ging es bereits im Oktober, als vor dem Bochumer Landgericht der erste Prozess wegen des wohl bisher größten deutschen Fußball-Wettskandals begann. Sollten sich die den vier Angeklagten zur Last gelegten Manipulationsvorwürfe bewahrheiten, dürften nicht nur die Fans völlig im Recht sein, wenn sie empört ausrufen "Das ist doch Betrug!". Geschädigt und betrogen werden aber nicht nicht nur sie, sondern auch die Wettanbieter. Im Fußball geht es eben nicht immer um den Sport, sondern oft um eine ganze Menge Geld.
Das große Geld sahen wohl vor allem die privaten Sportwettenanbieter schon vor sich, als der Europäische Gerichtshof im September den deutschen Glücksspielstaatsvertrag für in der aktuellen Form nicht europarechtskonform erklärte. Wer nun aber vorschnell das Ende des staatlichen Glücksspielmonopols in Deutschland feierte, dürfte sich getäuscht haben. Spätestens seit einer darauf folgenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die weniger im Ergebnis als in der Begründung spannend war, dürfte nur eines feststehen: So einfach ist die Sache nicht. Das staatliche Glücksspielmonopol wird die Deutschen daher wohl noch weiter beschäftigen.
Winterreifen, der neue deutsche Winter und die Verkehrsmoral
Bekanntlich ist unmittelbar nach dem Fußball des Deutschen liebstes Kind sein Auto. Und auch in dieser Hinsicht brachte das vergangene Jahr Neuigkeiten. Ja, tatsächlich: Auch die Einführung der Winterreifenpflicht war neu. Das wusste nur keiner, da alle glaubten, die gebe es längst.
Nun allerdings fragen sich alle, woran man "Reifglätte" erkennt und was genau denn eigentlich Winterreifen sind. Nur was der Winter ist, das fragt sich niemand. Der kommt nämlich in der neuen Vorschrift der Straßenverkehrsordnung gar nicht vor. Und außerdem kennen die Deutschen den Winter mittlerweile sowieso ziemlich gut. Immerhin ist er gefühlt von Oktober bis Mai ihr ständiger Begleiter.
Und noch eine weitere Neuerung dürfte die deutschen Autofahrer zukünftig beschäftigen: Ende Oktober trat das Europäische Geldsanktionsgesetz in Kraft mit der Folge, dass Geldstrafen und Geldbußen nun in der Europäischen Union (EU) gegenseitig anerkannt werden. Bei verhängten Sanktionen über 70 Euro für einen Verkehrsverstoß im EU-Ausland kann es also nun richtig teuer werden. Da ist es nur ein kleiner Trost, dass das auch für den ersuchenden Staat gilt, der eine Menge formaler Anforderungen erfüllen muss, wenn er tatsächlich vollstrecken will. Der Zweck des Gesetzes soll hier unkommentiert bleiben: Die Regelung strebt ausweislich ihrer Begründung an, die Verkehrsmoral zu verbessern.
Das Recht auf den eigenen Tod vor deutschen und europäischen Gerichten
Moralische Fragen ganz anderer Art beschäftigten im vergangenen Jahr nicht nur die juristischen Gemüter, als sowohl die Sterbehilfe als auch die Präimplantationsdiagnostik in den Fokus der Gerichte gerieten.
Im Juni sprach der Bundesgerichtshof (BGH) – ausgerechnet – einen prominenten Fachanwalt für Medizinrecht vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei, der seiner Mandantin dazu geraten hatte, den Schlauch durchzuschneiden, über den ihre im irreversiblen Wachkoma liegende Mutter ernährt wurde. Sie hatte zuvor eindeutig mündlich geäußert, dass sie nicht künstlich am Leben erhalten werden und in Würde sterben wolle.
Das Selbstbestimmungsrecht der Patientin rechtfertige, so der Senat in seiner Entscheidung - die man mit Fug und Recht als strafrechtlichen Meilenstein bezeichnen darf - damit sogar ein aktives Tun zwecks Beendigung oder Verhinderung einer von der Patientin nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung. Die häufig von Zufälligkeiten abhängenden Äußerlichkeiten, anhand derer bis zu diesem Zeitpunkt eine Tat als aktives Tun oder gegebenenfalls strafloses Unterlassen qualifiziert wurde, sind nun nicht mehr entscheidend für die Frage der Strafbarkeit, im Extremfall für die nach Schuld oder Unschuld, Haftstrafe oder Freispruch.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte sich im Jahr 2010 jedenfalls mittelbar mit der Sterbehilfe zu befassen. Eine Entscheidung im Fall einer Deutschen, deren Familie noch nach ihrem Tod in der Schweiz für ihr Recht auf den in Deutschland abgelehnten begleiteten "sanften Suizid" kämpft, wird im nächsten Jahr erwartet. Dabei wird der EGMR zu klären haben, ob die deutsche Ablehnung des Antrags der schwer Kranken auf Abgabe eines tödlich wirkenden Medikaments zur Beendigung ihres Leidens rechtmäßig war. Ihr Witwer beruft sich auf das Recht auf Achtung des Privatlebens; es bleibt abzuwarten, ob die Straßburger Richter tatsächlich entscheiden werden, dass das Recht auf Achtung des Lebens das Recht auf Achtung des selbst bestimmten Todes impliziert. Ebenso, welche Auswirkungen das auf die strikte deutsche Rechtslage beim Thema Sterbehilfe haben könnte.
Von Designerbabies bis Vertrauen: Noch mehr Moral
Einen ähnlich ethischen Hintergrund kann man wohl der Frage nach der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) zuschreiben, die ebenfalls noch nicht entschieden ist. Der BGH sprach einen angeklagten Frauenarzt vom Vorwurf einer dreifachen strafbaren Verletzung des Embryonenschutzgesetzes frei. Der Mediziner hatte bei durch künstliche Befruchtung gezeugten Embryonen präimplantationsdiagnostische Untersuchungen durchgeführt, um genetisch bedingte Anomalien auszuschließen. Obwohl der Senat seine Entscheidung explizit auf schwerwiegende genetische Schäden beschränkte, ist seitdem die parteiübergreifende Diskussion über eine begrenzte Freigabe der PID in vollem Gange. Wie auch immer diese ausgehen mag: Designerbabies und die künstliche Schaffung des "makellosen Menschen" dürften nicht zu erwarten sein.
Und dann war da noch die Kassiererin Emmely. Deren fristlose Kündigung wegen der Einlösung zweier ihr nicht gehörender Leergutbons im Wert von 1,30 Euro entrüstete - stellvertretend für viele andere Fälle so genannter Bagatellkündigungen - in diesem Jahr das deutsche Volk nicht nur vom Stammtisch bis zum Lehrstuhl. Auch die Richter des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschieden schließlich, dass eine einmalige geringfügige Straftat eines Arbeitnehmers das über lange Jahre hinweg aufgebaute Vertrauen im Arbeitsverhältnis nicht zwingend irreversibel schädigt, und deshalb eine Abmahnung der Kassiererin ausreichend gewesen wäre.
Auch wenn die Frage nach der Wirksamkeit einer Kündigung langjährig Beschäftigter wegen Bagatellen sicherlich nicht mit grundlegenden Fragen wie der nach der Sterbehilfe oder der PID zu vergleichen ist, vermittelte das Urteil der Bundesrichter doch ein durchaus beruhigendes Gefühl.
Diese letztinstanzliche Entscheidung entspricht dem durch rechtliche Erwägungen unbeeinflussten schlichten Gerechtigkeitsempfinden, also einem moralischen Verständnis von Richtig und Falsch, vielleicht sogar von Gut und Böse. Jedenfalls für Volkes Seele nicht selbstverständlich in Zeiten der Wirtschaftskrise, angesichts fast schon als zynisch hoch empfundener Zahlungen auch an Fehl-Entscheider im Management und der abnehmenden Wertigkeit von "Human Ressources". Und vielleicht hat Volkes Seele da mal gar nicht so unrecht.
Lesen Sie in Teil 3 unseres Jahresrückblicks unter anderem, was Jörg Kachelmann und Rechtsjournalist Karl-Dieter Möller gemeinsam haben, wie das Internet auch in 2010 unsere (Rechts-) Welt veränderte und was das Jahr nicht nur unverheirateten Vätern, sondern auch allen Anwälten außer den Syndikusanwälten gebracht hat.
Jahresrückblick – Teil 2: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2220 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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