Italienische Behörden werfen den Seenotrettern Beihilfe zur illegalen Einwanderung vor. In Trapani findet jetzt die erste Anhörung statt. Am Ende entscheidet sich, ob die Anklage fallen gelassen wird – oder ein Strafprozess beginnt.
Die Iuventa, das Schiff der deutschen Seerettungs-NGO "Jugend rettet", liegt seit knapp fünf Jahren im Hafen von Trapani, am Westzipfel Siziliens. Dort hatte die Staatsanwaltschaft es in der Nacht zum 2. August 2017 beschlagnahmt. Nun entscheidet sich, ob die italienische Justiz Strafverfahren gegen vier Crewmitglieder sowie weitere Personen eröffnet. Am Samstag beginnt die Vorverhandlung in dem Fall.
Zunächst geht es um prozessuale Fragen, Zeugen werden noch nicht gehört. "Dies ist die erste Anhörung. Wir erwarten viele mehr, die Phase kann Monate dauern", sagte Anwalt Nicola Canestrini, der die Mitglieder der Iuventa-Crew in dem Prozess vertritt, bei einem virtuellen Pressegespräch am Dienstag, organisiert von Amnesty International, European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights, borderline-europe, Giuristi Democratici und Swiss Democratic Lawyers. Neben Canestrini sprach unter anderen auch Kathrin Schmidt, Iuventa-Crewmitglied und Angeklagte in dem Verfahren. Als "Head of Mission" bei einigen Missionen koordinierte sie gemeinsam mit dem Kapitän den Ablauf der Rettungseinsätze der Iuventa.
Nach jahrelangen Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft Trapani am 10. März 2021 Anklage gegen 21 Seenotretterinnen und -retter der Organisationen Jugend rettet, Save the Children und Ärzte ohne Grenzen erhoben, darunter die vier Deutschen Kathrin Schmidt, Dariush Beigui, Sascha Girke und Uli Tröder – alle waren in verschiedenen leitenden Funktionen auf der Iuventa aktiv, etwa als Kapitän, Fahrer der Rettungsboote oder Head of Mission. Ursprünglich richteten sich die Ermittlungen noch gegen sechs weitere Crewmitglieder, diese Verfahren wurden jedoch eingestellt.
Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zur illegalen Einwanderung – bei einer Verurteilung drohen bis zu 20 Jahre Haft und eine empfindliche Geldstrafe in Höhe von 15.000 Euro je Migrantin oder Migrant.
Mehr als 14.000 Menschen aus Seenot gerettet
Die Organisation Jugend rettet mit Sitz in Berlin wurde 2015 von jungen Erwachsenen gegründet – Gründer Jakob Schoen war zu diesem Zeitpunkt erst 19 Jahre alt. Nach eigenen Angaben hat die Iuventa-Crew zwischen Juli 2016 und August 2017 mehr als 14.000 Menschen aus Seenot gerettet, die auf der sogenannten Mittelmeerroute in die Europäische Union (EU) gelangen wollten. Auf der Iuventa arbeiteten mehr als 200 Menschen ehrenamtlich.
Anfang August 2017 war das Schiff auf Lampedusa durchsucht und beschlagnahmt worden. Die italienische Polizei hatte nach der Beschlagnahme Fotos veröffentlicht, die ein verdeckter Ermittler an Bord eines anderen Rettungsschiffes als Beweise gesammelt hatte. Darauf ist zum Beispiel ein Holzkahn zu sehen, der – so der Vorwurf – von den Seenotretterinnen und -rettern zurück in libysche Gewässer gezogen wurde, um damit später wieder Migrantinnen und Migranten in Richtung Europa zu bringen.
Nach den Vorverhandlungen soll das Gericht in Trapani entscheiden, ob es die Anklage fallenlässt oder einen möglicherweise mehrere Jahre dauernden Strafprozess einleitet. Die Staatsanwaltschaft wirft den vier Angeklagten unter anderem vor, sie hätten zusammen mit libyschen Schleppern Menschen nach Italien geschmuggelt.
Anwalt Canestrini erklärt, die Strafverfolger hätten zu seinen Mandantinnen und Mandanten umfangreiches Material gesammelt – die Akte habe 30.000 Seiten, dazu Hunderte CDs. Die Angeklagten seien abgehört und verdeckte Ermittler eingesetzt worden, auch Computer seien beschlagnahmt worden. Zudem sei – illegalerweise – auch die Kommunikation von Journalistinnen und Journalisten sowie Anwältinnen und Anwälten mit den Angeklagten abgehört worden. Allerdings hätten die Ermittler keinen einzigen Kontakt mit libyschen Schmugglern bewiesen, so der Anwalt.
Vorwurf: Letztes Element in der Transportkette zwischen Afrika und Europa
Konkret geht es um drei Seenotrettungsmissionen, eine im September 2016 und zwei im Juni 2017. Laut Anklage sollen die Helferinnen und Helfer insgesamt 262 Menschen auf der Iuventa aufgenommen und auf einem anderen Boot nach Italien gebracht haben.
Das Boot sollen sie in Richtung der libyschen Küste zurückgeschickt haben, um es den Schmugglern für weitere Transporte zur Verfügung zu stellen. Laut Staatsanwaltschaft seien sie das letzte Element in der Transportkette zwischen Afrika und Europa gewesen, erklärt Canestrini.
Das bestreiten die Helferinnen und Helfer vehement und beklagen ein politisch motiviertes Verfahren. "Hier geht es nicht um juristische Gerechtigkeit, sondern um politischen Einfluss", sagte Kathrin Schmidt am Dienstag.
"Die Bewertung des geretteten Schiffs ist entscheidend"
Die Beihilfe zur illegalen Migration ist in Artikel 12 des Dekrets 286/1998 vom 25. Juli 1998 (sogenanntes Einwanderungsgesetz) geregelt und wird in Italien drastisch bestraft. "Beihilfe zur illegalen Einwanderung begeht derjenige, der unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes in das Hoheitsgebiet des Staates Ausländer transportiert oder deren Transport fördert, leitet oder organisiert", erklärt Prof. Attilio Nisco, Assoziierter Professor an der Universität Bologna.
Das Gesetz sieht für denjenigen, der rechtswidrig Ausländer in das Staatsgebiet bringt oder andere Handlungen zur Begünstigung der illegalen Einreise vornimmt, eine Haftstrafe zwischen fünf und 15 Jahren sowie eine Geldstrafe von 15.000 Euro vor – je Migrantin bzw. Migrant. Dies gilt allerdings nur, wenn sich die Tat auf die illegale Einreise bzw. den illegalen Aufenthalt von fünf oder mehr Personen bezieht – ansonsten beträgt die Höchststrafe fünf Jahre Freiheitsstrafe. Da zusätzlich in Rede steht, dass die Tat von drei oder mehr gemeinsam handelnden Personen begangen worden ist, könnte die Strafe nach Art. 3-bis des Dekrets i.V.m. Art. 64 des italienischen Strafgesetzbuchs (StGB) auf 20 Jahre erhöht werden, so Nisco.
"Der wesentliche Punkt zur Abgrenzung der Seenotrettung von der Beihilfe zur illegalen Einwanderung ist die Bewertung des geretteten Schiffs", erklärt Dr. Jürgen Reiß, Rechtsanwalt & Avvocato bei seiner auf deutsches und italienisches Recht spezialisierten Kanzlei.
Ähnlich wie in Deutschland gibt es auch im italienischen StGB Rechtfertigungsgründe – humanitäre Gründe allein reichen allerdings nicht aus, so Nisco. Artikel 51 StGB normiert die sogenannte Pflichterfüllung, das heißt, dass eine Strafbarkeit ausgeschlossen ist, wenn die Tat durch eine Rechtsnorm oder eine rechtmäßige behördliche Anordnung vorgeschrieben ist. "Handelt es sich um einen Schiffbruch und befinden sich die darauf befindlichen Menschen in Lebensgefahr und existenzieller Not, sind der Kapitän und die Besatzung eines anderen Schiffes berechtigt und sogar verpflichtet, Hilfe zu leisten", sagt Reiß. Dann werde die Strafbarkeit nach Art. 51 StGB ausgeschlossen, da Normen des internationalen Rechts die Rettung Schiffbrüchiger vorsehen. So habe auch schon das Landgericht von Agrigent (Italien) entschieden (Urt. v. 07.10.2009, Nr. 254).
"Wenn das keine Notstandslage ist – was soll dann eine sein?"
Die Regelung des Artikel 54 ähnelt den deutschen Notstandsregeln. Demnach wird nicht bestraft, wer eine Straftat begangen hat, um sich selbst oder andere vor der konkreten Gefahr eines schweren Personenschadens zu bewahren. Das gilt allerdings nur, wenn die Gefahr nicht freiwillig herbeigeführt wurde oder auf andere Weise vermieden werden konnte – und die Tat in einem angemessenen Verhältnis zur Gefahr steht.
"Ein Notstand ist dann als gegeben anzusehen, wenn Menschen in internationalen Gewässern ausgesetzt werden und die Schiffe oder Boote hierfür vollkommen ungeeignet sind", so Reiß, und verweist auf eine Entscheidung des Kassationsgerichts in Rom (Abteilung für Strafrecht, 1. Sektion, Urt. v. 28.02.2014).
Die Staatsanwaltschaft sieht diese Kriterien allerdings nicht als erfüllt an, erklärt Schmidt. Die Migrantinnen und Migranten hätten sich nicht in Not befunden, so das Argument der Ermittler. In den vergangenen acht Jahren sind 22.527 Menschen im Mittelmeer gestorben – und die Dunkelziffer könnte ungleich höher sein, so Schmidt. "Wenn das keine Notstandslage ist – was soll dann eine sein?"
Thema Seenotrettung spaltet EU
Die Seenotrettung im Mittelmeer hat zu tiefen Spaltungen innerhalb der EU geführt. Nach mehreren Unglücken mit Hunderten Toten vor Lampedusa hatte die italienische Regierung im Oktober 2013 die Operation "Mare Nostrum" eingeführt, die in nur zehn Monaten nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund 150.000 Menschen aus Seenot gerettet hat.
Im November 2014 startete die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Operation Triton, die Mare Nostrum ablöste und im Februar 2018 durch die Operation Themis ersetzt wurde. Während der Fokus von Mare Nostrum auf der Seenotrettung lag, dienen die Frontex-Operationen primär der Grenzkontrolle und unterstützen daneben die Seenotrettung. Bei den Operationen Triton und Themis wurden mit Stand vom April 2022 in knapp acht Jahren 292.520 Menschen gerettet.
Um die Lücke seit dem Wegfall der Mare Nostrum zu schließen, engagieren sich auch verschiedene NGOs in der zivilen Seenotrettung, darunter Sea-Watch. Ein einheitlicher Mechanismus zur Verteilung der Geretteten innerhalb der gesamten EU existiert noch nicht – deshalb fuhr Italien lange einen rigorosen Abschottungskurs. Unter anderem nahm es Carola Rackete, die Kapitänin der Sea-Watch 3, fest, nachdem sie mit ihrem Schiff mit 40 Migrantinnen und Migranten unerlaubt im Hafen von Lampedusa angelegt hatte. Auch gegen Rackete wurde wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt – mittlerweile wurde das Strafverfahren aber eingestellt.
Ab Samstag wird sich entscheiden, ob das Verfahren gegen die Iuventa-Crew und die anderen Angeklagten einen ähnlichen Ausgang nimmt. Kathrin Schmidt fand bei der Pressekonferenz am Dienstag deutliche Worte: "Seenotrettung kann nie ein Verbrechen sein", so Schmidt.
Die Iuventa selbst kann seit der Beschlagnahme nicht mehr operieren – aber die Crewmitglieder sind weiterhin für andere Organisationen aktiv. "Seenotrettung ist eine gesetzliche und moralische Pflicht", sagt Schmidt.
Mit Materialien der dpa
Strafverfahren gegen Iuventa-Crew: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48525 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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