Nicht nur die Grünen hadern mit dem EU-Asylkompromiss. Auch in der SPD haben viele Bauchschmerzen und hoffen auf humanitäre Verbesserungen im anstehenden Trilog. EP-Vize Katarina Barley (SPD) äußert sich zu den Chancen.
LTO: Frau Dr. Barley, Sie bekennen sich immer wieder zu hohen rechtsstaatlichen Standards – gerade auch im Asylverfahren. Wie stehen Sie zur Zustimmung der Bundesregierung zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS)? Anwaltsverbände finden das Votum Deutschlands "beschämend".
Dr. Katarina Barley: Mir ist wichtig klarzustellen: Wir sprechen hier von der Position des Rates für die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament. Dabei ist der Rat zunehmend von konservativen bis hin zu rechts-außen Regierungen dominiert. Da hat Deutschland keine einfache Verhandlungsposition. Wir alle haben gesehen, wie schwer es für Nancy Faeser war, selbst die Dinge durchzusetzen, die uns selbstverständlich erscheinen – wie den Schutz von Familien mit Kindern. Zum zweiten stehen die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament dazu ja noch aus. Und das Parlament wird hier Verbesserungen durchsetzen – allerdings müssen wir wenn auch im Parlament sehen: Es gibt eine sehr große Gruppe an konservativen und rechts-außen Abgeordneten.
Aber klar: Dass Menschen bis zu zwölf Wochen an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU) festgehalten werden können, um ein Asylverfahren durchzuführen, ist ein schwieriger Kompromiss im Rat. In anderen Aspekten ist das Ergebnis eine Verbesserung im Vergleich zum Status quo.
"Aktuelle Situation katastrophal"
Inwiefern?
Die aktuelle Situation ist nicht akzeptabel, sie ist sogar katastrophal. Küstenwachen zerstören Schlauchboote, drängen Menschen wieder zurück aufs Meer, wo sie ertrinken. Und wir haben Elendslager, in denen die Menschen unter unwürdigen Bedingungen nicht zwölf Wochen, sondern manchmal für Jahre leben müssen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat mit Zustimmung der grünen Kabinettsmitglieder dafür gestimmt, dass auch Familien mit Kindern, wenn ihre Aussicht auf ein Bleiberecht in Europa nicht besonders groß ist, künftig unter haftähnlichen Bedingungen bis zu zwölf Wochen festgehalten werden dürfen.
Diese im Rat gefundene Lösung entsprach nicht der Position der Bundesregierung. Aber sie stand eben recht allein da. In den Verhandlungen stand auch das sog. Ruanda-Modell zur Debatte, das Großbritannien plant. 17 von 27 Staaten wollten Schutzsuchende in ein Flugzeug setzen und nach Ruanda oder ein anderes afrikanisches Land fliegen. Dort sollte dann ihr Anspruch auf Asyl geprüft werden. Vor diesem Hintergrund kann man nur ermessen, wie lang der Weg war, um sich auf die getroffene Regelung zu einigen.
"Respekt davor, was Nancy Faeser erreicht hat"
Als Mitglied der Bunderegierung hätten Sie also auch dem Kompromiss zugestimmt?
Als ehemalige Bundesjustizministerin kenne ich solche Verhandlungen und habe Respekt davor, was Nancy Faeser erreicht hat. Die Alternative wäre nicht eine humanitärere Lösung gewesen. Europa erlebt in vielen Mitgliedstaaten einen Rechtsruck. Rechtsextremisten sind in immer mehr Staaten an den Regierungen beteiligt. Und es kann noch schlimmer werden. Vor diesem Hintergrund muss man sich eine Verständigung auf eine ideale Lösung leider abschminken.
Im Übrigen ist es wie gesagt noch nicht vorbei. Die Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament werden hoffentlich bald beginnen.
EP-Position mit "deutlich humanitäreren Zügen"
Viele in Deutschland hoffen, dass das EP im Trilog die humanitären Aspekte durchsetzt, mit denen man auf Regierungsebene gescheitert war. In erster Stelle geht es um Familien mit Minderjährigen, denen man haftähnliche Zustände in den Außenlagern ersparen will. Wie realistisch ist ein Verhandlungserfolg?
Im EP haben wir zum GEAS Ende April eine Position eingenommen, die an einigen Stellen deutlich humanitärere Züge trägt als der Ratsbeschluss. Zum Beispiel, dass Familien mit Kindern bis zwölf Jahren nicht in die Aufnahmelager kommen sollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hatten uns sogar für die Altersgrenze 18 ausgesprochen. Für mich jedenfalls hat dieses Thema höchste Priorität und ich hoffe, dass wir uns durchsetzen werden.
Außerdem sieht der Ratskompromiss eine Festlegung auf menschenwürdige Standards in den Aufnahmezentren vor. In diesen wird es auf eine gute rechtliche Beratung ankommen. Wenn wir menschenwürdige Standards und rechtsstaatliche Verfahren sicherstellen, würden wir eine wichtige Verbesserung der Situation für die betroffenen Menschen schaffen. Zustände wie im Lager Moria soll es nicht mehr geben.
"Sichere Drittstaaten müssen GFK-Kriterien garantieren"
Wenn Schutzsuchende über einen "sicheren Drittstaat" in die EU gereist sind, kann diese Person dorthin unter bestimmten Bedingungen zurückgebracht werden. Laut Ratsbeschluss muss dieser Staat nicht zwingend die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ratifiziert haben. Es genüge, wenn er "auf andere Weise rechtlich und in der Praxis einen wirksamen Schutz im Einklang mit grundlegenden Menschenrechtsnormen" gewährleistet. Reicht das?
Aus meiner Perspektive ist ein Drittstaat nur dann "sicher", wenn er die Kriterien der GFK garantiert. Sich also zum Beispiel an das Verbot hält, einen Flüchtling in ein Land zurückzuweisen, in dem er Verfolgung fürchten muss.
Ein Punkt, den das EP in den Verhandlungen mit dem Rat und Kommission ebenfalls einbringen sollte?
Sicherlich. Die Wahrung der Menschenrechte gerade von Menschen, die bei uns Schutz suchen, gehört für mich zu den wichtigsten Aufgaben, die wir überhaupt haben. Dass Deutschland im Rat das Ruanda-Modell verhindern konnte, ist sehr wichtig.
Zugleich ist es schwierig, im Vorfeld rote Linien abzustecken – gerade für das Europäische Parlament im Ganzen. Das kann ich auch selbst gar nicht, die Mehrheiten sind hier sehr schwer vorauszusagen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden kämpfen. Aber wir sind eben nicht allein, die Konservativen und Rechts-außen-Kräfte sind stark, in Rat und EP. Die Verhandlungen mit dem Rat werden so oder so hart. Zwar sind wir formal ein gleichberechtigter Gesetzgeber, aber Fakt ist auch, dass die Mitgliedstaaten das Ergebnis am Ende umsetzen müssen. Deswegen wird der Spielraum in den Verhandlungen nicht gewaltig sein.
Die Zeit drängt. 2024 wird das EP neu gewählt.
Wir haben nach Jahren der Blockade endlich die Chance, das Asylsystem neu zu regeln. Für die kommende spanische Ratspräsidentschaft werden die Verhandlungen wahrscheinlich der Schwerpunkt ihrer Arbeit sein.
Dr. Katarina Barley (54) ist Volljuristin und war von 2013 bis 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit dem 2. Juli 2019 ist sie Abgeordnete des neunten Europäischen Parlaments und eine von dessen 14 Vizepräsidenten.
Zuvor war die gebürtige Kölnerin mit britischen Wurzeln von Dezember 2015 bis Juni 2017 Generalsekretärin der SPD, von Juni 2017 bis März 2018 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von September 2017 bis März 2018 zusätzlich nach dem Rücktritt von Andrea Nahles geschäftsführende Bundesministerin für Arbeit und Soziales sowie von März 2018 bis Juni 2019 Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz.
EP-Vize Katarina Barley zur EU-Asylreform GEAS: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52044 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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