Vor wenigen Tagen haben sich die EU-Organe über die europäische Verbandsklage geeinigt. Was auf uns zukommt und wie sie zur deutschen Musterfeststellungsklage steht, zeigen Christoph A. Baus, Stefan Patzer und Christian Steger.
Mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit die EU-Kommission im Frühjahr 2018 nach mehrjährigen Vorarbeiten den Entwurf einer EU-Verbandsklagerichtlinie vorgestellt hat. Damals lautete das Ziel noch, die Richtlinie bis zur Parlamentswahl im Mai 2019 zu verabschieden.
Dieses Unterfangen stellte sich schnell als zu ambitioniert heraus. Parlament und Rat haben daraufhin im März beziehungsweise November 2019 jeweils eigene Vorschläge unterbreitet, die sich nicht nur in Details, sondern auch konzeptionell in Teilen deutlich voneinander unterscheiden.
Um einen Kompromiss zu finden, startete Anfang 2020 das Trilogverfahren. Wegen der Corona-Pandemie musste dieses unterbrochen werden, noch bevor die erste gemeinsame Sitzung stattfinden konnte. Im Frühsommer 2020 sprach deshalb wenig dafür, dass die Verbandsklage in absehbarer Zeit Gesetz würde. Anfang Juni 2020 kamen allerdings erste Gerüchte auf, dass die kroatische Ratspräsidentschaft einen erneuten Anlauf unternehmen würde. Diese Gerüchte haben sich wenige Wochen später bewahrheitet.
Die EU-Verbandsklage im Überblick
Nach dem mittlerweile im Entwurf vorliegenden Richtlinientext müssen künftig alle Mitgliedstaaten gewährleisten, dass bestimmte "Qualifizierte Einrichtungen" im Namen von Verbrauchern auf Unterlassung, Beseitigung oder Schadensersatz klagen können, sofern ein Unternehmen gegen bestimmte Verbraucherschutzvorschriften verstoßen hat. Davon erfasst sind unter anderem Vorschriften aus den Bereichen Finanzdienstleistung, Reise- und Fluggastrechte, Energie, Gesundheit, Telekommunikation und Datenschutz.
Formal muss die Richtlinie nur noch vom Rat der Europäischen Union angenommen werden, 20 Tage nach ihrer Veröffentlichung tritt sie dann in Kraft. Die Mitgliedstaaten haben anschließend 24 Monate Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Hinzu kommen weitere sechs Monate, bis die nationalen Regeln Anwendung finden müssen.
EU-Verbandsklage vs. Musterfeststellungsklage
Der Ansatz der EU-Verbandsklage, wonach Qualifizierte Einrichtungen die Rechte von Verbrauchern geltend machen können, erinnert stark an die Musterfeststellungklage, die der Gesetzgeber in Deutschland im Sommer 2018 als Reaktion auf den Dieselskandal eingeführt hatte.
Zugleich liegt aber auch der zentrale Unterschied auf der Hand: Die Qualifizierten Einrichtungen können nach der EU-Richtlinie nicht nur auf Feststellung, sondern direkt auf Beseitigung oder Schadensersatz klagen. Für die betroffenen Verbraucher entfällt damit die Notwendigkeit, ihre Rechte in einem Anschlussprozess geltend machen zu müssen, was viele für den größten Mangel der Musterfeststellungklage halten. Strafschadensersatz soll es aber nicht geben.
Auf den zweiten Blick fallen weitere, aber ebenso wichtige Unterschiede ins Auge.
Da sind zunächst die Anforderungen an die Qualifizierten Einrichtungen. Diese sind bei der EU-Verbandsklage deutlich geringer als im Rahmen der Musterfeststellungsklage, insbesondere gibt es keine Mindestmitgliederzahl, ab der eine solche Einrichtung klagebefugt ist, so wie es Deutschland geregelt hat. Bei innerstaatlichen Klagen liegt die Entscheidung über die Voraussetzungen sogar ganz beim jeweiligen Mitgliedstaat.
Anders als bei der Musterfeststellungsklage gibt es bei der EU-Verbandsklage auch kein Klageregister, in das sich interessierte Verbraucher eintragen müssen. Vielmehr sollen die Mitgliedstaaten selbst entscheiden können, ob sie einen opt-in- oder opt-out-Mechanismus bevorzugen und in ihr nationales Recht implementieren.
Hinzu kommt, dass die EU-Verbandsklagerichtlinie ausdrücklich eine kommerzielle Drittfinanzierung erlaubt und damit auch professionellen Prozessfinanzierern die Tür öffnet, solange diese keinen Einfluss auf die Verfahrensstrategie nehmen und die Unabhängigkeit der Qualifizierten Einrichtung gewahrt bleibt. Das zwischenzeitlich diskutierte Verbot von Erfolgshonoraren der beteiligten Anwälte hat sich auch nicht durchsetzen können, womit die Verbandsklage kommerzialisiert werden könnte.
Schließlich sieht der Entwurf vor, dass die Parteien - oder auch Dritte - unter gewissen Umständen bei ihnen befindliche Beweismittel herausgeben müssen. Das erinnert ein wenig an die amerikanische "discovery", wonach die Parteien verpflichtet sind, die anzuführenden Beweismittel offenzulegen, nur eben in einer Art "light"-Version. Am härtesten Treffen wird das im Rahmen der EU-Verbandsklage zumeist das beklagte Unternehmen. Abhängig von der konkreten Umsetzung der Richtlinie durch den Mitgliedstaat könnte das eine deutliche Verschärfung gegenüber den nationalen Vorschriften darstellen.
Innerstaatliche und grenzüberschreitende Verbandsklagen
Darüber hinaus unterscheidet die Richtlinie zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verbandsklagen. Maßgeblich ist jeweils der Mitgliedstaat, in dem die Qualifizierte Einrichtung registriert ist, und der Ort des Gerichts, an dem sie klagt.
Die wichtigste Auswirkung dieser Unterscheidung ist weiter oben schon angeklungen: Während die Qualifizierten Einrichtungen bei grenzüberschreitenden Klagen die in der Richtlinie benannten Voraussetzungen erfüllen müssen, können die Mitgliedstaaten bei innerstaatlichen Klagen frei über die Anforderungen an eine Qualifizierte Einrichtung bestimmen, solange dies mit den Zielen der Richtlinie vereinbar bleibt.
Der Unterscheidung liegt vermutlich die Absicht zugrunde, dass jeder Mitgliedstaat selbst entscheiden können soll, wie sehr er die heimische Industrie und die nationalen Champions vor den Auswirkungen der Verbandsklage schützt.
Der Schuss könnte allerdings nach hinten losgehen: Da die Verbandsklagerichtlinie für die gerichtliche Zuständigkeit auf die Bestimmungen der Brüssel Ia-VO verweist, kommen neben dem Beklagtengerichtsstand auch diverse weitere Gerichtsstände in Betracht (Erfüllung, Delikt, Niederlassung, Verbraucher). So könnte es kommen, dass sich manche Mitgliedstaaten bei den Anforderungen an Qualifizierte Einrichtungen immer weiter unterbieten (race to the bottom), um so eine Klageindustrie anzulocken. Dagegen sind die wenigen Schutzmechanismen zugunsten der Unternehmen, die die Verbandsklagerichtlinie vorsieht, nicht der Rede wert.
Musterfeststellungsklage könnte damit ausgedient haben
Die EU-Verbandsklagerichtlinie wird die Rechte der Verbraucher in vielen zentralen Rechtsbereichen weiter stärken und die kollektive Rechtsdurchsetzung in Europa nachhaltig verändern. Die von der Richtlinie erfassten Bereiche wie etwa Fluggastrechte oder Datenschutz stehen bereits jetzt im Fokus der Entwicklung, etwa bei Prozessfinanzierern, Verbraucherschützern und Legal-Tech-Unternehmen.
Ob die in Deutschland eingeführte Musterfeststellungsklage daneben noch eine Rolle spielen wird, ist zweifelhaft. Der neue Rechtsrahmen eröffnet den Verbrauchern wesentlich weitere und umfassendere Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen. Viel wird allerdings von der konkreten Umsetzung durch die Mitgliedstaaten abhängen. Genaueres lässt sich erst dann sagen.
Die Rechtsanwälte Dr. Christoph A. Baus, Stefan Patzer und Dr. Christian Steger sind am Hamburger Standort von Latham & Watkins tätig. Sie beraten deutsche und ausländische Mandanten in komplexen wirtschaftsrechtlichen Gerichts- und Schiedsverfahren und haben langjährige Erfahrung mit Massenverfahren. Dr. Christoph A. Baus ist überdies aktueller Chair des deutschen Litigation & Trial Departments.
Die neue EU-Verbandsklage: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42146 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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