Schon wieder eine Reform des Infektionsschutzgesetzes. Thorsten Kingreen erinnert sie an einen Fortsetzungsroman. Statt zu streichen, werden immer weiter Regeln aus unterschiedlichen Pandemiephasen angehäuft – mit neuen Schwachstellen.
Bereits bei Ausbruch der Pandemie war zu erahnen, dass der Umgang mit dem Virus ein spannendes kultur- und politikwissenschaftliches Forschungsfeld werden würde. Man könnte ergründen, welche Faktoren dazu beitragen, dass auf der einen Seite China meint, seine Bürger beim ersten kleinen Ausbruch einsperren zu müssen (und damit nebenbei auch noch die Weltwirtschaft beeinträchtigt), während auf der anderen Seite viele europäische Staaten alle Beschränkungen beendet haben, obwohl das Virus ja nicht weg ist. Auch Deutschland leistet sich gerade eine kulturell erklärungsbedürftige Sonderrolle. Kürzlich fuhr meine Tochter mit dem Zug von Bern nach Maastricht. Kulturell für uns vielleicht etwas ungewohnt: In der Schweiz steigt man ohne Maske in pünktliche Züge. Es hätte ihre erste Reise ohne Maske seit über zwei Jahren werden können, wenn meine Tochter in Basel umgestiegen und über Paris und Lüttich nach Maastricht gereist wäre. Ist sie aber nicht. So wurde die Maske hinter Basel angelegt und, nach den in Deutschland üblichen "Störungen im Betriebsablauf", hinter Aachen wieder abgelegt. Das Virus kennt schließlich Grenzen.
In allen unseren neun Nachbarländern kann man in der Bahn wieder tief durchatmen. Natürlich: Die anderen sind eben einfach zu leichtsinnig, und nur wir nehmen das Virus wirklich ernst. Vielleicht würde es aber auch helfen, mal tief durchzuatmen. Dann müssten wir uns, anders als unsere Nachbarn, nicht erneut eine verspannte Diskussion über die gefühlt tausendste Reform des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) leisten. Aber es hilft nichts, es gibt mal wieder einen Reformentwurf. Bemerkenswert ist nicht nur, was geändert werden, sondern auch, was bleiben soll:
Gesetzgebung wie ein Fortsetzungsroman
Die derzeitige Unterscheidung zwischen Maßnahmen, die die Länder anordnen können (§ 28a IfSG), und bundesweit geltenden Maßnahmen (§ 28b IfSG) soll entfallen. Stattdessen will man unterscheiden zwischen Maßnahmen, die ergriffen werden dürfen, wenn der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat (§ 28a IfSG-E) und "besonderen Schutzmaßnahmen außerhalb einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bei saisonal hoher Dynamik" (§ 28b IfSG-E).
Die fragwürdige Konstruktion der "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" soll also nicht aufgegeben werden, obwohl die Evaluationskommission nach § 5 Abs. 9 IfSG das aus einer Vielzahl von Gründen angeraten hatte. Nach wie vor folgt man der Gesetzgebungstechnik des Fortsetzungsromans: Es wird nichts gestrichen, sondern das bereits Vorhandene durch immer weitere Normen und Absätze ergänzt. Dadurch entstehen mehrere Rechtsschichten aus unterschiedlichen Pandemiephasen, deren Verhältnis untereinander nur noch IfSG-Nerds verstehen. Dieses Norm-Häufeln hat Konsequenzen. Der Bundesminister der Justiz betont zwar aufgrund der desaströsen Folgen der Schulschließungen politisch zu Recht, dass es diese "nicht geben" dürfe. Rechtlich darf es sie aber nach wie vor geben, wenn der Bundestag mit einfacher Mehrheit (auch ohne die FDP) erneut die epidemische Lage beschließt; das alte Rechtsregime ist ja noch da. Dann würde auch das gesamte Arsenal der Lockdown-Maßnahmen wie die übergriffigen Ausgangsbeschränkungen wieder zur Verfügung stehen. Das sollte man zumindest deutlich kommunizieren und dann vielleicht auch diskutieren, ob man das alarmistische Regime der "epidemischen Lage" wirklich (noch) braucht. Hinreichend konkrete und bestimmte Rechtsgrundlagen wären eine probate Alternative, doch dazu später.
Langer Paragraph, kurze Geltung und eine Pandemie, die nicht vorbei ist
§ 28b IfSG-E soll lang werden, aber nur kurz gelten: Einschließlich der Überschrift sind für 158 Tage Geltungsdauer 1675 Worte eingeplant. Die erneute Befristung (vom 01.10.2022 bis zum 07.04.2023) ist keine gute Idee. Irgendwie scheint sich die Vorstellung verfestigt zu haben, dass in ein Gesetz nur solche Ermächtigungsgrundlagen gehören, von denen man in den nächsten Wochen auch Gebrauch machen möchte. Solche Befristungen erzeugen eine hektische Kurzatmigkeit in der Gesetzgebung, spätestens wieder im nächsten Frühjahr, wenn es schlecht läuft, noch eher. Die Pandemie ist nicht vorbei, viel Zeit zum Durchatmen bleibt nicht.
Die politische Motivation für die Befristung ist klar. In der Vergangenheit wurden auch Maßnahmen ergriffen, die – wie die Ausgangsbeschränkungen und die kuriose 15-Kilometer-Regel – trotz fehlender Evidenz eher nach dem Prinzip Hoffnung ergriffen wurden, weil die Rechtsgrundlage ja nun mal da war. Nach dieser Erfahrung regelt man lieber nur das Notwendige, und hofft, dass selbst das im Frühjahr nicht mehr notwendig ist – wohl wissend, dass man andere Rechtsgrundlagen in einer anderen Situation mit einem anderen Virus vielleicht doch ganz gut gebrauchen könnte. Aber das achtenswerte politische Ziel der Minimalinvasion wird eben, siehe oben, wegen der Beibehaltung der Bestimmungen über die "epidemischen Lage" ohnehin nur begrenzt erreicht.
Maßnahmenkatalog nach Vorbild der Polizeigesetze?
Rechtstechnisch wird das legislative Fahren auf Sicht der Funktion von Gesetzen jedenfalls nicht gerecht. Gesetze regeln abstrakt-generell und dürfen ohnehin nur angewendet werden, wenn ihre Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen. Die Evaluationskommission hat deshalb vorgeschlagen, nach dem Vorbild der allgemeinen Polizei- und Sicherheitsgesetze einen Katalog von Rechtsgrundlagen für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu schaffen, die jeweils mit spezifischen Eingriffsschwellen verknüpft sind. Dieser Katalog könnte sogar eine Rechtsgrundlage für die Schließung von Bildungseinrichtungen enthalten: Wer wollte denn bei einem Virus, das für Kinder und Jugendliche lebensgefährlich ist, ernsthaft die Schulen offen halten? Es wäre auch ein politisches Signal für den Übergang vom Alarm- in den Normalzustand, wenn ein gesetzlicher Rahmen geschaffen würde, der sich von der Fixierung auf COVID-19 löst und, wie das bei Gesetzen üblich ist, grundsätzlich erst einmal unbefristet gilt. Es gehört ja zu den wichtigen Erfahrungen der vergangenen Jahre, dass zu häufige Änderungen in der Pandemie-Governance das notwendige öffentliche Vertrauen in die Schutzmaßnahmen untergraben.
Voraussetzungen für Maskenpflicht bis Karfreitag vermutet
In der Sache unterscheidet § 28b IfSG-E zwischen Maßnahmen, die qua Gesetz gelten (Abs. 1) solchen, die von den Ländern ohne landesparlamentarischen Beschluss angeordnet werden können (Abs. 2-3) und solchen, die einen solchen Beschluss voraussetzen (Abs. 4):
Nach § 28b Abs. 1 IfSG-E gilt bis zum 07.04.2023 eine Maskenpflicht in öffentlichen Fernverkehrsmitteln und in Gesundheits- und Pflegeinrichtungen. Es wird also gesetzlich für diesen Zeitraum die "saisonal hohe Dynamik" einfach vermutet. Eine lageangepasste Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch die Landesregierungen findet nicht statt, und für die theoretisch mögliche Aussetzung der Verpflichtung durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung (§ 28b Abs. 8 IfSG-E gibt es keine weiteren Vorgaben. Auch wenn daher die Gesundheitsinfrastrukturen nicht gefährdet sein sollten: Die Maske bleibt vermutlich bis Karfreitag auf. Da muss man erstmal durchatmen.
Alle drei Monate freiimpfen?
§ 28b Abs. 2 und 3 IfSG-E ermächtigen die Landesregierungen zu diversen Maßnahmen, neben allerlei Testpflichten etwa auch zum Tragen einer Maske in öffentlich zugänglichen Innenräumen, in denen sich mehrere Personen aufhalten und in Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennahverkehrs. Diese Maßnahmen müssen also nicht zwingend und dürfen auch nur angeordnet werden, wenn sie verhältnismäßig sind. Es besteht also, wie schon im bisherigen Recht (§§ 28a Abs. 7 S. 1 Nr. 1 und 28b Abs. 1 IfSG), die Möglichkeit, dass im abendlich leeren ICE anderes Recht (= Maskenpflicht qua Gesetz) gilt als im vom Nachfolger des Neun-Euro-Tickets überfüllten Regionalexpress.
Im Freizeit-, Kultur- und Sportbereich soll man sich von der Maskenpflicht freitesten oder freiimpfen können. Die Impfung darf aber nicht länger als drei Monate zurückliegen. Wer sich also im letzten Winter hat boostern lassen, müsste zunächst den alten Impfstoff erneut nehmen, um am 1. Oktober 2022 ohne Maske in eine Sporthalle oder eine Kirche zu kommen. Der neue Impfstoff soll erst im Laufe des Oktobers kommen, vielleicht auch später, und ob er denjenigen hilft, die bereits dreimal geimpft wurden, weiß man auch noch nicht so genau. Außerdem müsste man sich nach drei Monaten erneut impfen lassen, um weiter in den Genuss der Befreiungsregelung zu kommen. Impfen, bis das Immunsystem schlapp macht – keine gute Idee, was mittlerweile auch der Bundesminister der Gesundheit erkannt hat.
Schließlich sieht § 28b Abs. 4 IfSG-E eine Länderklausel vor. Wenn das Landesparlament eine infrastrukturelle Gefährdungslage feststellt, soll angeordnet werden können, dass sogar in Außenbereichen Maske getragen werden muss, dass Betriebe Hygienekonzepte vorlegen, Abstandsgebote und Personenobergrenzen bei öffentlichen Veranstaltungen festgelegt werden können. Genauere Voraussetzungen, bei deren Vorliegen diese Maßnahmen ergriffen werden können, enthält die Norm nicht – vermutlich in der Erwartung, dass sie ohnehin nicht angewendet werden wird.
Bei so vielen neuen Worten könnte man auch einmal etwas streichen. Das ist aber nicht die Stärke des Entwurfs: Unverändert gelten etwa: die "epidemische Lage" (§ 5 Abs. 1 IfSG, s. schon oben), die auch von der Evaluationskommission für verfassungswidrig erachtete Ermächtigung des Bundesministers für Gesundheit, durch Rechtsverordnungen von Parlamentsgesetzen abzuweichen (§ 5 Abs. 2 IfSG) und die gescheiterte einrichtungsbezogene Impfpflicht, die die Einrichtungen mittlerweile nach dem Motto "Besser eine ungeimpfte als keine Pflegekraft" ohnehin eigenhändig suspendieren. "Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen", meinte schon der Staatstheoretiker Montesquieu. Man sollte ihn im Gesetzgebungsverfahren als unabhängigen Sachverständigen in den Gesundheitsausschuss einladen.
Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht, war Mitglied der vom Bundestag und der Bundesregierung eingesetzten Evaluationskommission nach § 5 Abs. 9 IfSG, die am 30. Juni 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat.
Corona-Pläne der Bundesregierung: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49297 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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