Ein Ehepaar fordert eine Verringerung ihrer Sozialversicherungsbeiträge – schließlich würden sie durch die Sorge für ihre Kinder einen Beitrag zum Sozialsystem leisten. Vor dem BSG hatten sie keinen Erfolg, doch das letzte Wort hat das BVerfG.
Die Bestimmungen des Sozialgesetzbuches sind eindeutig: Für Kindererziehung oder –betreuung gibt es in der Sozialversicherung keine Beitragsermäßigung. An diese Entscheidung des Gesetzgebers sind Sozialgerichte und Sozialversicherungsträger gebunden. Dies war auch den Klägern in dem Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) bekannt. Sie stützten sich deshalb auf das Grundgesetz (GG). Anders als Kinderlose hätten versicherte Eltern nicht nur durch die Beitragszahlung, sondern auch durch ihre Kindererziehung und -betreuung eine Leistung in die Sozialversicherung erbracht. Aufgrund dieses Unterschiedes dürfe der Gesetzgeber für beide Personengruppen nicht die gleichen Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung sowie zur sozialen Pflegeversicherung festsetzen (Art. 3 Abs. 1 GG). Für Versicherte mit Kindern müsse er vielmehr geringere Beiträge vorsehen, zumal die Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehe (Art. 6 Abs. 1 GG). Das BSG folgte dieser Argumentation nicht und wies die Revision zurück.
Der für das Beitragsrecht zuständige 12. Senat des Bundessozialgerichts führte in seinem am Mittwoch verkündeten Urteil (Az. B 12 KR 25/12 R) aus, die der Beitragsbemessung zugrunde liegenden gesetzlichen Regelungen seien rechtmäßig angewandt worden und verstießen nicht gegen das Grundgesetz. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung des Sozialversicherungsrechts einen weiten sozialpolitischen Spielraum. Er bewege sich innerhalb der Grenzen dieses Gestaltungsspielraums, wenn er den Aufwand für die Betreuung und Erziehung von Kindern in verschiedenen Regelungen des Leistungsrechts berücksichtige. Zu nennen seien in erster Linie die Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und die beitragsfreie Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Schwelle der Verfassungswidrigkeit wegen eines nur unzureichenden Ausgleichs sei dabei nicht überschritten worden.
Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 3. April 2001 (Az. 1 BvR 1629/94), in dessen Folge in der sozialen Pflegeversicherung ein Beitragszuschlag für Kinderlose von 0,25 Beitragssatzpunkten eingeführt wurde, folge nichts anderes, so das BSG. Es lasse sich weder daraus noch aus anderen verfassungsrechtlichen Gründen ein Anspruch herleiten, die finanziellen Belastungen durch die Kinderbetreuung und -erziehung im Beitragsrecht der Sozialversicherung allgemein umfassend auszugleichen. Die Anerkennung eines solchen Anspruchs würde zudem die Gefahr neuer Verwerfungen in anderen Bereichen nach sich ziehen. Es sei Sache des Gesetzgebers, ggf. einen weitergehenden Ausgleich herbeizuführen. Mit dieser Entscheidung halte der 12. Senat des BSG an seiner bisherigen Rechtsprechung fest.
Mehrfache Eltern trotz Neuregelungen noch immer benachteiligt?
Die Kläger konnten sich somit vor dem BSG nicht durchsetzen. Sie hatten vorgetragen, Kindererziehung sei für die Sozialversicherungssysteme genauso bedeutsam wie die Beitragszahlung. Daraus erwachse Kinderlosen ein spezifischer, systembedingter Vorteil. Dieser Vorteil müsse innerhalb des jeweiligen Systems auf der Beitragsseite ausgeglichen werden, weil die Belastung der Eltern in der beitragsbelasteten Erwerbsphase auftrete. Das Beitragsrecht in der sozialen Pflegeversicherung sei trotz der Neuregelungen verfassungswidrig, weil danach Eltern mit mehreren Kindern noch immer schlechter behandelt würden als solche, die lediglich ein Kind haben.
Den fachgerichtlichen Rechtsweg haben die Kläger mit der Entscheidung des BSG nun ausgeschöpft. Ihre letzte Hoffnung ruht jetzt auf dem Bundesverfassungsgericht. Die Prozessbevollmächtigten der Kläger haben bereits angekündigt, Verfassungsbeschwerde gegen die BSG-Entscheidung zu erheben.
BVerfG forderte 2001 Ausgleich der Benachteiligung von Eltern
Wie sehen ihre Erfolgsaussichten dort aus? Das BVerfG hatte mit Urteil vom 3. April 2001 entschieden, es sei mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar, wenn der Gesetzgeber die Erziehungsleistung von Eltern auf der Leistungsseite nicht berücksichtige. Es ist gerade Ausdruck des solidarischen Ausgleichs durch die Pflegeversicherung, Pflegeleistungen für solche Menschen zur Verfügung zu stellen, die nicht auf pflegende Familienangehörige zurückgreifen können. Ein gleicher Versicherungsbeitrag führe aber zu erkennbarem Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag der Eltern (Kindererziehung und Geldbeitrag) und dem Geldbeitrag der Kinderlosen. Die hieraus resultierende Benachteiligung von Eltern sei damit im Beitragsrecht auszugleichen. Das BVerfG hatte deshalb damalige beitragsrechtliche Regelungen der sozialen Pflegeversicherung für mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar erklärt, soweit Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden, und vom Gesetzgeber eine Neuregelung bis zum 31. Dezember 2004 verlangt.
Mit Wirkung zum 1. Januar 2005 hat der Gesetzgeber daraufhin die maßgebliche Beitragsvorschrift in der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 SGB XI) dahingehend geändert, dass sich der Beitragssatz für Kinderlose um einen Beitragszuschlag von 0,25 Beitragssatzpunkten erhöht.
Hat der Gesetzgeber seine Hausaufgaben gemacht?
Ist der Gesetzgeber damit dem Regelungsauftrag des BVerfG hinreichend nachgekommen? Das BVerfG hatte einerseits "den großen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung sozialer Sicherungssysteme" betont. Es bleibe deshalb ihm überlassen, wie er die Betreuungs- und Erziehungsleistung bei der Beitragsbemessung von beitragspflichtigen Versicherten mit Kindern berücksichtige. Allerdings hat das BVerfG auch ausgeführt, der Gesetzgeber sei "von Verfassungs wegen verpflichtet, eine Lösung zu wählen, die Unterhaltsverpflichtete bereits ab dem ersten Kind relativ entlastet". Der Gesetzgeber hat sich in der sozialen Pflegeversicherung gegen eine Entlastung der Eltern und für eine zusätzliche finanzielle Belastung der kinderlosen Versicherten entschieden.
Das BVerfG hatte im April 2001 ferner ausgeführt, dass "die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein wird". Für die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung hat der Gesetzgeber aus dem Urteil des BVerfG keine beitragsrechtlichen Konsequenzen gezogen. Das BSG hat insoweit auf die dortige leistungsrechtliche Förderung von Familien verwiesen, insbesondere die beitragsfreie Familienversicherung in der Krankenversicherung sowie die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung.
Ob er sich damit in den Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums bewegt hat, oder ob zusätzliche Vergünstigungen für Eltern geboten sind, wird das BVerfG sagen müssen – sofern es die Verfassungsbeschwerde denn zur Entscheidung annimmt.
Der Autor Dr. Jens Blüggel ist Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen.
BSG zur Sozialversicherung: . In: Legal Tribune Online, 01.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17066 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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