Müssen Arbeitnehmer unbilligen Weisungen ihres Arbeitgebers folgen, bis sie vor Gericht obsiegen? So sieht es jedenfalls der 5. Senat des BAG. Der 10. Senat stellte dies jedoch am Mittwoch in Frage. Christoph Bergwitz zur Entscheidung.
Im Arbeitsvertrag sind Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung üblicherweise nur allgemein umschrieben. Der vertragliche Rahmen wird vom Arbeitgeber mittels seines Direktionsrechts ausgefüllt. Danach kann der Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit sich nicht aus Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder Gesetz etwas anderes ergibt (§ 106 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO)). Hält der Arbeitnehmer die Weisung für unbillig, stellt sich die Frage, ob er ihr gleichwohl zunächst Folge leisten muss.
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist uneinheitlich: Nach Ansicht des 5. Senats des BAG ist eine unbillige Leistungsbestimmung nicht etwa nichtig, sondern nur unverbindlich. Der Arbeitnehmer dürfe sich daher nicht einfach über die Weisung hinwegsetzen, sondern sei an die Leistungsbestimmung gebunden, bis ihre Unverbindlichkeit durch rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellt ist. Greift er zur "Selbsthilfe" und widersetzt sich eigenmächtig, setzt er seinen Vergütungsanspruch oder gar seinen Arbeitsplatz aufs Spiel (Urt. v. 22.02.2012, Az. 5 AZR 249/11). Der 10. Senat des BAG ist jedoch gegenteiliger Auffassung und hat deshalb am Mittwoch beim 5. Senat angefragt, ob er an seiner Rechtsprechung festhalten will (Beschl. v. 14.06.2017, Az. 10 AZR 330/16). Bleibt der 5. Senat bei seiner Rechtsprechung, muss der Große Senat des BAG entscheiden.
Verbindlichkeit einer unbilligen Versetzung
Der Arbeitnehmer des zugrunde liegenden Falls war als Immobilienkaufmann am Standort Dortmund des beklagten Unternehmens beschäftigt. Mehrere Mitarbeiter seines Teams lehnten im März 2014 gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden eine weitere Zusammenarbeit mit dem als unkollegial und unkooperativ bezeichneten Arbeitskollegen ab. Daraufhin versetzte der Arbeitgeber ihn für die Zeit vom 16. März bis 30. September 2015 an den Standort Berlin. Der Arbeitnehmer leistete dieser Versetzungsanordnung trotz zweimaliger Abmahnung nicht Folge und wurde deshalb fristlos gekündigt. Der entsprechende Kündigungsrechtsstreit ist noch beim 2. Senat des BAG anhängig (Az. 2 AZR 329/16).
Mit seiner vor dem 10. Senat anhängigen Klage wandte sich der Kläger gegen seine Versetzung sowie die Abmahnungen und machte die Fortzahlung seiner Vergütung geltend. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet war, seine Arbeitsleistung am Standort Berlin zu erbringen. Sie haben das Unternehmen verurteilt, die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen und dem Kläger die vorenthaltene Vergütung nachzuzahlen. Ausdrücklich hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm dem 5. Senat des BAG die Gefolgschaft verweigert und eine vorläufige Bindungswirkung der als unbillig erachteten Versetzungsanordnung verneint:
Eine Bindung an unbillige Weisungen widerspreche dem Gesetzeswortlaut, welcher die Billigkeit der Leistungsbestimmung voraussetze (§ 106 Satz 1 GewO, § 315 Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)), so das LAG. Eine unbillige Weisung sei nicht mit einem Verwaltungsakt vergleichbar, der zunächst eine "Folgepflicht" auslöst, bis er erfolgreich angegriffen wird. Die Rechtsprechung des 5. Senats führe zu einer für den Arbeitnehmer untragbaren Risikoverlagerung. Er müsse auch einer unbilligen Leistungsanordnung zunächst Folge leisten, wenn er nicht Gefahr laufen will, seine Vergütungsansprüche zu verlieren oder wegen Arbeitsverweigerung gekündigt zu werden (Urt. v. 17.03.2016, Az. 17 Sa 1660/15).
Divergenz zwischen 5. und 10. Senat am BAG
Die Rechtsprechung des 5. Senats zur vorläufigen Verbindlichkeit einer unbilligen Arbeitgeberweisung ist in der Tat verbreitet auf Kritik gestoßen. Sie belaste den Arbeitnehmer als "Gestaltungsopfer" einseitig, weil er zunächst eine gerichtliche Klärung über die Rechtmäßigkeit der Weisung herbeiführen müsse, wenn er keine arbeitsrechtlichen Sanktionen riskieren will, so ein Hauptargument.
Nun hat sich auch der 10. Senat des BAG dieser Kritik angeschlossen: Ausweislich seiner Pressemitteilung vom Mittwoch möchte er die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer einer unbilligen Weisung des Arbeitgebers nicht – auch nicht vorläufig – folgen muss. Er hat daher nach § 45 Abs. 3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) beim 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner gegenteiligen Rechtsauffassung festhält.
Kündigung wegen Arbeitsverweigerung?
Damit ist nach wie vor offen, ob die Nichtbefolgung einer unbilligen Leistungsanordnung in letzter Konsequenz eine fristlose Kündigung wegen Arbeitsverweigerung rechtfertigt. Das LAG Köln hat dies verneint (Urt. v. 28.08.2014, Az. 6 Sa 423/14). Der 5. und 10. Senat des BAG hatten hierüber nicht zu befinden. Letztlich wird der für Kündigungen zuständige 2. Senat des BAG zu entscheiden haben.
Der Ausgang des Anfrageverfahrens des 10. Senats des BAG vom Mittwoch wird dabei eine gewisse Indizwirkung haben. Bis zur endgültigen Klärung sollten Arbeitnehmer auch einer als unbillig empfundenen Arbeitgeberweisung vorsorglich zunächst Folge zu leisten, wenn sie sich nicht dem Risiko einer fristlosen Kündigung wegen Arbeitsverweigerung aussetzen wollen.
Der Autor Dr. Christoph Bergwitz ist Fachanwalt für Arbeitsrecht im Düsseldorfer Büro von Kliemt & Vollstädt, einer der führenden auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzleien in Deutschland. Er betreut sämtliche Bereiche des Arbeitsrechts. Besondere Expertise besitzt er in Fragen des Arbeitnehmerdatenschutzes und des Schutzes von Unternehmen vor wettbewerbswidrigem Verhalten ihrer Arbeitnehmer.
Unbillige, aber verbindliche Arbeitgeberweisungen: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23199 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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