Der Sechste Senat des BAG will seine Rechtsprechung zu Folgen bei Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige ändern. Sie sollen künftig nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Nun ist der Zweite Senat am Zug.
Es könnte ein großer arbeitsrechtlicher Paukenschlag werden: Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat am Donnerstag die Absicht angekündigt, seine bisherige Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige aufzugeben. Ein Verstoß gegen die entscheidende Norm § 17 Abs. 1, Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) soll danach in Zukunft nicht mehr zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen.
Da hierin eine entscheidungserhebliche Abweichung zur früheren Rechtsprechung des Zweiten Senats liegt, hat der erkennende Sechste Senat angefragt, ob der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhält. Würde dies bejaht, hat der Große Senat zu entscheiden. Bis zur Beantwortung dieser Divergenzanfrage wurden nun insgesamt drei Verfahren ausgesetzt (Az. 6 AZR 157/22 (B); 6 AZR 155/21 (B) und 6 AZR 121/22 (B)). Für Arbeitgeber könnte der angekündigte Richtungswechsel – falls der zweite Senat mitzieht oder der Große entsprechend entscheidet – das Risiko unwirksamer Kündigungen bei Massenentlassungsverfahren erheblich reduzieren.
Fehler bei der Massenentlassung führen bisher zur Unwirksamkeit der Kündigung
Das BAG nahm in seiner bisherigen Rechtsprechung an, dass Verstöße gegen die den Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffenden Pflichten zur Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) führen. Darunter fällt auch die Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG. Dementsprechend seien Kündigungen, bei denen eine Anzeige gänzlich unterblieben ist, nichtig (seit BAG Urt. v. 22.11.2012 Az. 2 AZR 371/11). Dieses Sanktionsregime stand nunmehr in diversen, beim Sechsten Senat anhängigen Revisionsverfahren erneut auf dem Prüfstand.
Der erkennende Sechste Senat hatte es dabei gleich mit mehreren Formverstößen gegen § 17 KSchG zu tun. In einem Verfahren unterblieb die Massenentlassungsanzeige ganz, da der Insolvenzschuldner die nach § 17 Abs. 1 KSchG maßgebliche Betriebsgröße als nicht erreicht ansah (6 AZR 157/22). In einem weiteren Verfahren wurde zwar das im Falle einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG mit dem Betriebsrat durchgeführt. Allerdings wurde der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG übermittelt (6 AZR 155/21). Im dritten Verfahren genügte die Massenentlassungsanzeige weder den Anforderungen des § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG noch denen des § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG. Diese enthielt weder eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats noch enthielt sie eine hinreichende Darlegung des "Stands der Beratungen". Zudem war das Konsultationsverfahren im Zeitpunkt der Massenentlassungsanzeige noch nicht abgeschlossen (6 AZR 121/22).
Alle drei Verfahren wurden ausgesetzt, da dem Sechsten Senat Zweifel kamen, ob das bisher von der Rechtsprechung begründete Sanktionsregime möglicherweise unverhältnismäßig sei und nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes aus der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/EG (MERL) stehen könnte.
Unterrichtungspflichten als echte Regelung zum Arbeitnehmerschutz?
Der Sechste Senat des BAG hat den EuGH daher im Verfahren 6 AZR 155/21 ersucht, die Frage zu beantworten, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der MERL, deren Umsetzung die deutsche Norm des § 17 Abs. 3 S.1 KSchG bezweckt, dient (Beschl. v. 27.01.2022, Az. 6 AZR 155/21 (A)). Hiervon hängt ab, ob § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG als den Arbeitnehmerschutz – zumindest auch – bezweckende Vorschrift als Verbotsgesetz gemäß § 134 BGB anzusehen ist. Denn nur in diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam.
Der EuGH hat mit viel beachtetem Urteil vom 13. Juli 2023 (Az. C-134/22) entschieden, dass besagte Übermittlungspflicht nicht den Zweck habe, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Die in der MERL vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde diene nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, um es der Behörde zu ermöglichen, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme zu suchen.
Konsequenz: Angekündigter Kurswechsel des BAG
Darauf hat der Sechste Senat nun konsequent reagiert und eine Rechtsprechungsänderung angekündigt, die sich der Pressemitteilung zufolge zumindest auf Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren gem. § 17 Abs. 1 und 3 KSchG bezieht. Aufgrund der Divergenzanfrage an den Zweiten Senat müssen sich alle Beteiligten allerdings noch in Geduld üben. Schließt sich der Zweite Senat der Rechtsauffassung des Sechsten Senat an, würden die sich für Arbeitgeber stellenden Rechtsrisiken bei Durchführung von Massenentlassungen signifikant reduzieren.
Ob dieser Kurswechsel darüber hinaus auch Relevanz für andere Fehler im Massenentlassungsverfahren hat, z.B. hinsichtlich einer nicht ordnungsgemäßen Durchführung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG, bleibt damit allerdings noch ungeklärt. Denn aufgrund der in den ausgesetzten Verfahren streitgegenständlichen Formfehlern, bezieht sich die Presseerklärung des BAG bisher ausschließlich auf § 17 Abs. 1 und 3 KSchG.
Zweck der Massenentlassungsanzeige lief zuletzt ins Leere
Die Anzeige einer Massenentlassung ist für Unternehmen mit hohen formalen Anforderungen und massiven Rechtsrisiken verbunden. Der ursprüngliche arbeitspolitische Gedanke der §§ 17 ff. KSchG war, dass im Falle von Massenentlassungen eine frühzeitige Information der Agentur für Arbeit erfolgen solle, um Arbeitsförderungsmaßnahmen vorzubereiten. Davon war aber zuletzt in der Praxis nichts mehr zu spüren. Vielmehr wurden gerade aufgrund von Fehlern in Massenentlassungsverfahren in den vergangenen Jahren zahlreiche Kündigungen auf Kosten der Unternehmen von den Gerichten kassiert.
Die angekündigte Rechtsprechungsänderung bedeutet daher für Arbeitgeber Licht am Ende des Tunnels. Auch wenn diese immer noch darauf angewiesen sind, im Rahmen einer Massenentlassung penibel auf die Einhaltung sämtlicher rechtlichen Vorschriften zu achten, um nicht die Unwirksamkeit der Kündigungen zu riskieren, wären jedenfalls die Vorschriften des § 17 Abs. 1, 3 KSchG kein mehr so scharfes Schwert wie bisher.
Die Autorin Isabel Hexel ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht. Sie ist Partnerin bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
Sechster Senat des BAG beabsichtigt Kurswechsel: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53425 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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