Was brachten die Jahre 14 der Juristenwelt? Mehr als ein Todesurteil, die erste höchstrichterliche Entscheidungssammlung, einen schottischen Richter, der Charles Darwin voraus war und eine preußische Feministin. Martin Rath erzählt die Rechtsgeschichten der Jahre 1314 bis 1914 und wirft einen Blick in die Zukunft.
Am 18. März 1314 wurden Jacques de Molay und Geoffroy de Charnay, der letzte Großmeister der "Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis" und einer seiner Ritter verbrannt – es war das Ende des geheimnisumrankten Templerordens.
Dem Scheiterhaufen ging ein sieben Jahre wehrender Rechtsstreit vor kirchlichen und königlich-französischen Gerichten gegen den Orden und sein Personal voraus. Nach 700 Jahren sind die Akten, gelinde gesagt, nicht mehr ganz vollständig. Die tatsächlichen Abläufe eines Verkehrsunfalls mit mehr als zwei Beteiligten auf einer Brandenburger Landstraße zu rekonstruieren, dürfte leichter fallen.
1414: Jan Hus
Einhundert Jahre später, im Herbst 1414, wurde der böhmische Theologe Jan Hus (ca. 1369-1415) in Konstanz verhaftet, obwohl ihm freies Geleit zum Konzil von Konstanz zugesichert worden war. Im Jahr darauf wurde der Geistliche als Häretiker von dieser Vollversammlung der mittelalterlichen Kirche zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Während der Nachruhm der französischen Tempelritter heute nur mittelprächtig beschädigt ist, weil ihre Geschichte von hölzern schreibenden US-Thrillerautoren verarbeitet wird, bleibt die Rechtsgeschichte um den böhmischen Theologen, der unter anderem – rund 100 Jahre vor Martin Luther – muttersprachliche Gottesdienste propagiert hatte, ein vermintes Gelände. Hus wurde spätestens im 19. Jahrhundert zu einer Symbolfigur des tschechischen Nationalismus und seiner deutsch-böhmisch-österreichischen Widersacher. Die nüchterne Rechtsfrage, wie weit die Zusage eines "freien Geleits" durch den römisch-deutschen König Sigismund gegenüber dem Superparlament des Konstanzer Konzils verbindlich sein konnte, geriet dabei schnell zum nationalistischen Streitthema: Verratspropaganda versus Rechtfertigungslehren.
Gerne erführe man, wie viele Anhänger des US-amerikanischen Geheimnisverkünders Edward Snowden durch pseudomittelalterliche Fantasy-Romane und Rollenspielwelten beim Rechtsinstitut "freies Geleit" einen allzu romantischen Beiklang im Ohr haben. Zum 600-Jahres-Andenken an Jan Hus lässt sich jedenfalls festhalten: Bei aller Romantik sollte man beim "freien Geleit" besser auch aufs positive Recht schauen, wenn es nicht brenzlig werden soll.
1514: Die erste höchstrichterlicher Entscheidungssammlung
Überwiegend auf das Jahr 1514 wird die Geburt eines Juristen datiert, für dessen Andenken die Freunde und Nutzer juristischer Entscheidungssammlungen eine Kerze anzünden sollten: Joachim Mynsinger von Frundeck (gest. 1588). Mynsinger von Frundeck lehrte nach dem Studium der Rechte zunächst an der Freiburger Universität, bevor er 1548 ans Reichskammergericht berufen wurde, dem höchsten Gericht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, das zwischen 1495 und 1806 Recht sprach.
1563 veröffentlichte Mynsinger von Frundeck den "Singularium observationum Iudicii Imperialis Cameriae centuriae quattuor" – eine unsystematische Wiedergabe von Entscheidungen des Reichskammergerichts, das vielfach neu aufgelegt wurde.
Den Meinungsstand des höchsten Gerichts zu veröffentlichen, trug Mynsinger den Vorwurf ein, gegen die Geheimhaltungspflichten seines Amts verstoßen zu haben. Doch das Bedürfnis, sich über die höchstricherliche hM erkundigen zu können, überwog, zumal ihre Entschlüsselung im Zweifel stets juristisch Gebildeten vorbehalten und dem einfachen Volk verschlossen blieb.
1614: Die Blutgräfin
Im Sommer 1614 starb auf der Burg Cachtice (Schächtitz) in der heutigen Slowakei die ungarische Gräfin Elisabeth Nádasdy aus dem Haus Báthory Erzsébet (geb. 1560). Der Dame von adeligem Geblüt wurde seit 1610 der Prozess wegen reichlich unübersichtlicher Vorwürfe gemacht: Zahllose Mädchen seien auf ihr Geheiß hin in die Burg entführt und dort grausam zu Tode gebracht worden.
Ein obskures Verfahren – mit Folter und ohne Verteidiger – führte zu Leib- und Todesstrafen gegen die Dienerschaft, die Gräfin selbst blieb bis zu ihrem Tod Gefangene. Bis heute geistert Elisabeth Nádasdy Báthory als "Blutgräfin" mehr durch die populäre als durch die rechtshistorische Literatur – kein Wunder, wurden die Tatvorwürfe über die Jahrhunderte hübsch obszön eingefärbt.
Ob die "Blutgräfin" ihren schlechten Nach-Ruf zu Recht erhielt, wird sich kaum klären lassen. Vielleicht ertrugen es, wie manche Historiker glauben, die ungarischen Fürsten nicht, dass eine exzentrische Frau als gräfliche Witwe Herrschaft ausübte.
1714: Genese des Abstammungsgesetzes
Gehen wir lieber 100 Jahre weiter, zu einem britischen Exzentriker und Juristen: 1714 wurde James Burnett, Lord Monboddo geboren (gest. 1799). Dem schottischen Richter wurde nachgesagt, sich antiker griechischer Methoden der Leibesertüchtigung zu bedienen. Bei einem Besuch in London – Lord Monboddo ritt die rund 600 Kilometer zu Pferde – brach ein Gerichtssaal teilweise zusammen. James Burnett blieb sitzen, während die übrigen Besucher flohen. Sein Kommentar: Er habe gedacht, dass dieser Aufruhr Teil eines örtlichen Folklore sei, mit der er sich als Zugereister nicht gemein machen müsse.
Neben linguistischen Studien zur Geschichte der Sprachentwicklung stellte Lord Monboddo auch die spannende Frage, ob Mensch und Orang-Utans oder Affen allgemein womöglich gemeinsamer Herkunft seien. Zu Lordschafts Lebenszeit, dem 18. Jahrhundert, wurde die Biologie im modernen Sinn gerade erst erfunden. Nicht Charles Darwin (1809-1882) verfiel also als erster auf den Gedanken, Mensch und Affen vom gleichen Stammbaum steigen zu lassen, es war – wie der schottische Richter Lord Charles Neaves (1800-1875) erkannte – James Burnett, Lord Monboddo.
Neaves dichtete zur Genese des Abstammungsgesetzes: "Though Darwin now proclaims the law / And spreads it far abroad, O! / The man that first the secret saw / Was honest old Monboddo."
1814: Preußische Feministin
Im Jahr 1814 wurde Louise Aston geboren, die als vermutlich erste Frau 1846 mit den Eigenheiten der politischen Polizei Preußens – in Zeiten unzureichenden Verwaltungsrechtschutzes – konfrontiert wurde. Als geschiedene, alleinerziehende Frau gutbürgerlicher Herkunft war sie im Berlin der 1840er-Jahre schon für sich genommen einen Skandal. Dem Vorwurf, in der Öffentlichkeit Zigarren geraucht zu haben, sah sie sich ebenfalls ausgesetzt – selbst Männern wurde das erst im Revolutionsjahr 1848 gestattet.
Dabei war Louise Aston, folgt man ihren eigenen Worten, eine hochherzige Frau, die nach der Scheidung vom britischen Herrn Aston nach Berlin gekommen war, um am hohen intellektuellen Potenzial der preußischen Metropole teilzuhaben. In ihrer Schrift "Meine Emancipation, Verweisung und Rechtfertigung" schildert sie, wie sie von Berliner Polizisten zu einem "informatorischen Gespräch" über ihre – nach heutigen Maßstäben dezent – feministische und philosophisch-areligiöse Weltanschauung sowie zur Unterschrift unter das heimlich aufgezeichnete Protokoll ihres "Geständnisses" verführt wurde.
Die persönlich bittere Pointe ihres anrührenden kleinen Buchs: Hatte die Berliner Polizei das staatliche Bedürfnis, Louise Aston aus der Stadt zu schaffen, noch damit begründet, dass ihre unchristlich-freisinnigen Auffassungen die Moral der Berliner gefährden könnten, erklärte ihr der Minister, man müsse sie selbst vor dem schlechten Einfluss der Berliner schützen. Der Polizeiminister erklärte es der Untertanin bei einer Audienz, was die juristisch bittere Pointe ist: Ein Rechtsmittel stand Louise Aston offenbar nicht zu.
1914: Kerkerstrafe und Würgegalgen für Attentäter von Sarajevo
Vom "Attentat von Sarajevo" am 28. Juni 1914, als Auslöser des Ersten Weltkriegs, Schulbuchwissen, wird dieses Jahr wieder viel die Rede sein. Doch was geschah eigentlich von Rechts wegen mit den Attentätern?
Gavrilo Princip, dem Todesschützen, wurde ab Oktober 1914 der Prozess wegen Hochverrats – damals definiert als Anschlag auf den Körper des Monarchen bzw. Thronfolgers – und Meuchelmordes gemacht. Mit 20 Jahren knapp unter der Altersgrenze für die Todesstrafe erhielt Princip eine 20-jährige Kerkerstrafe, die er angesichts elendester Haftbedingungen nur bis 1918 überstand, er starb in der Festung Theresienstadt. Drei volljährige Mitangeklagte wurden am 2. Februar 1915 mit dem Würgegalgen hingerichtet, andere zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt.
Unzählige Tötungen mit dem Würgegalgen und anderen brutalen Hinrichtungsmethoden gehören zur Geschichte der k.u.k. Militärjustiz des Ersten Weltkriegs. Karl Kraus hat die bestialische Mischung aus Roland Freisler und Wiener Schmäh, mit der die Kriegsgerichte über die besetzten Gebiete kamen, in seinen großartigen "Die letzten Tage der Menschheit" dokumentiert.
Lieber erinnert man sich da an eine große, aber vergessene Kämpferin aus dem friedlichen Nachbarland, keine 100 Kilometer südlich von Konstanz, der Konzilstadt von 1414, geboren: Gertrud Heinzelmann (1914-1999), studierte Juristin, seit 1942 als Rechtsanwältin zugelassen. Neben ihrer anwaltlichen Praxis war Heinzelmann im Kampf um das Frauenstimmrecht aktiv, das auf Bundesebene in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde. Heinzelmann glaubte auch ans Frauenpriestertum und die demokratische Funktion von Konzilen: Einen Pressesprecher beim Zweiten Vatikanischen Konzil, 1962-1965 in Rom, den Limburger Weihbischof Walther Kampe, konfrontierte sie mit der rhetorischen Frage, ob auch Frauen zum Konzil zugelassen seien. Angesichts durchaus selbstbewusster Ordensfrauen kein Thema, das – wie geschehen – nur zur Belustigung des journalistischen Publikums angetan war.
2114: Das menschliche Bewusstsein im Marmeladenglas
Man glaubt an einen Scherz, aber es gibt sie wirklich: Zukunftsforscher, die einerseits seriöse Wirtschaftsberatung für namhafte Unternehmen verkaufen, andererseits aber privat darüber nachdenken, ob sie ihr Geld lieber in einen Bausparvertrag oder ins Einfrieren ihrer halbsterblichen Überreste stecken sollten – oder ob ihr Bewusstsein demnächst in ein elektronisches Marmeladenglas passen wird. Angesichts der wachsenden Computerleistung wäre das vielleicht billiger.
Einige Vertreter des sogenannten "Transhumanismus", zu deren namhaftesten Köpfen der US-amerikanische Futurologe Ray Kurzweil (geb. 1948) zählt, rechnen damit, dass es noch im 21. Jahrhundert möglich sein wird, menschliches Bewusstsein in technischen Einrichtungen nachzubilden bzw. in sie zu übertragen.
Darauf immerhin sind wir in Deutschland bestens vorbereitet, stellte das Bundesverfassungsgericht mit dem berühmten "Mephisto"-Beschluss doch schon am 24. Februar 1971 die bloße Erinnerung an Verstorbene unter Menschenwürdeschutz. Sollte das dann nicht erst recht fürs naturidentische Bewusstsein im IT-Zentrum gelten?
Um die juristischen Details, ob es etwa bloßer "Stromdiebstahl" nach § 248c Strafgesetzbuch ist, wenn einem solchen Marmeladenglasbewusstsein der Saft abgedreht wird, sollten sich aber die leibhaftigen Juristen des Jahres 2114 kümmern.
Martin Rath, Rechtsgeschichten aus 800 Jahren: 1314 bis 2114 . In: Legal Tribune Online, 01.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10485/ (abgerufen am: 20.07.2024 )
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