Rechtsgeschichten aus 800 Jahren: 1314 bis 2114

von Martin Rath

01.01.2014

1714: Genese des Abstammungsgesetzes

Gehen wir lieber 100 Jahre weiter, zu einem britischen Exzentriker und Juristen: 1714 wurde James Burnett, Lord Monboddo geboren (gest. 1799). Dem schottischen Richter wurde nachgesagt, sich antiker griechischer Methoden der Leibesertüchtigung zu bedienen. Bei einem Besuch in London – Lord Monboddo ritt die rund 600 Kilometer zu Pferde – brach ein Gerichtssaal teilweise zusammen. James Burnett blieb sitzen, während die übrigen Besucher flohen. Sein Kommentar: Er habe gedacht, dass dieser Aufruhr Teil eines örtlichen Folklore sei, mit der er sich als Zugereister nicht gemein machen müsse.

Neben linguistischen Studien zur Geschichte der Sprachentwicklung stellte Lord Monboddo auch die spannende Frage, ob Mensch und Orang-Utans oder Affen allgemein womöglich gemeinsamer Herkunft seien. Zu Lordschafts Lebenszeit, dem 18. Jahrhundert, wurde die Biologie im modernen Sinn gerade erst erfunden. Nicht Charles Darwin (1809-1882) verfiel also als erster auf den Gedanken, Mensch und Affen vom gleichen Stammbaum steigen zu lassen, es war – wie der schottische Richter Lord Charles Neaves (1800-1875) erkannte – James Burnett, Lord Monboddo.

Neaves dichtete zur Genese des Abstammungsgesetzes: "Though Darwin now proclaims the law / And spreads it far abroad, O! / The man that first the secret saw / Was honest old Monboddo."

1814: Preußische Feministin

Im Jahr 1814 wurde Louise Aston geboren, die als vermutlich erste Frau 1846 mit den Eigenheiten der politischen Polizei Preußens – in Zeiten unzureichenden Verwaltungsrechtschutzes – konfrontiert wurde. Als geschiedene, alleinerziehende Frau gutbürgerlicher Herkunft war sie im Berlin der 1840er-Jahre schon für sich genommen einen Skandal. Dem Vorwurf, in der Öffentlichkeit Zigarren geraucht zu haben, sah sie sich ebenfalls ausgesetzt – selbst Männern wurde das erst im Revolutionsjahr 1848 gestattet.

Dabei war Louise Aston, folgt man ihren eigenen Worten, eine hochherzige Frau, die nach der Scheidung vom britischen Herrn Aston nach Berlin gekommen war, um am hohen intellektuellen Potenzial der preußischen Metropole teilzuhaben. In ihrer Schrift "Meine Emancipation, Verweisung und Rechtfertigung" schildert sie, wie sie von Berliner Polizisten zu einem "informatorischen Gespräch" über ihre – nach heutigen Maßstäben dezent – feministische und philosophisch-areligiöse Weltanschauung sowie zur Unterschrift unter das heimlich aufgezeichnete Protokoll ihres "Geständnisses" verführt wurde.

Die persönlich bittere Pointe ihres anrührenden kleinen Buchs: Hatte die Berliner Polizei das staatliche Bedürfnis, Louise Aston aus der Stadt zu schaffen, noch damit begründet, dass ihre unchristlich-freisinnigen Auffassungen die Moral der Berliner gefährden könnten, erklärte ihr der Minister, man müsse sie selbst vor dem schlechten Einfluss der Berliner schützen. Der Polizeiminister erklärte es der Untertanin bei einer Audienz, was die juristisch bittere Pointe ist: Ein Rechtsmittel stand Louise Aston offenbar nicht zu.

1914: Kerkerstrafe und Würgegalgen für Attentäter von Sarajevo

Vom "Attentat von Sarajevo" am 28. Juni 1914, als Auslöser des Ersten Weltkriegs, Schulbuchwissen, wird dieses Jahr wieder viel die Rede sein. Doch was geschah eigentlich von Rechts wegen mit den Attentätern?

Gavrilo Princip, dem Todesschützen, wurde ab Oktober 1914 der Prozess wegen Hochverrats – damals definiert als Anschlag auf den Körper des Monarchen bzw. Thronfolgers – und Meuchelmordes gemacht. Mit 20 Jahren knapp unter der Altersgrenze für die Todesstrafe erhielt Princip eine 20-jährige Kerkerstrafe, die er angesichts elendester Haftbedingungen nur bis 1918 überstand, er starb in der Festung Theresienstadt. Drei volljährige Mitangeklagte wurden am 2. Februar 1915 mit dem Würgegalgen hingerichtet, andere zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt.

Unzählige Tötungen mit dem Würgegalgen und anderen brutalen Hinrichtungsmethoden gehören zur Geschichte der k.u.k. Militärjustiz des Ersten Weltkriegs. Karl Kraus hat die bestialische Mischung aus Roland Freisler und Wiener Schmäh, mit der die Kriegsgerichte über die besetzten Gebiete kamen, in seinen großartigen "Die letzten Tage der Menschheit" dokumentiert.

Lieber erinnert man sich da an eine große, aber vergessene Kämpferin aus dem friedlichen Nachbarland, keine 100 Kilometer südlich von Konstanz, der Konzilstadt von 1414, geboren: Gertrud Heinzelmann (1914-1999), studierte Juristin, seit 1942 als Rechtsanwältin zugelassen. Neben ihrer anwaltlichen Praxis war Heinzelmann im Kampf um das Frauenstimmrecht aktiv, das auf Bundesebene in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde. Heinzelmann glaubte auch ans Frauenpriestertum und die demokratische Funktion von Konzilen: Einen Pressesprecher beim Zweiten Vatikanischen Konzil, 1962-1965 in Rom, den Limburger Weihbischof Walther Kampe, konfrontierte sie mit der rhetorischen Frage, ob auch Frauen zum Konzil zugelassen seien. Angesichts durchaus selbstbewusster Ordensfrauen kein Thema, das – wie geschehen – nur zur Belustigung des journalistischen Publikums angetan war.

2114: Das menschliche Bewusstsein im Marmeladenglas

Man glaubt an einen Scherz, aber es gibt sie wirklich: Zukunftsforscher, die einerseits seriöse Wirtschaftsberatung für namhafte Unternehmen verkaufen, andererseits aber privat darüber nachdenken, ob sie ihr Geld lieber in einen Bausparvertrag oder ins Einfrieren ihrer halbsterblichen Überreste stecken sollten – oder ob ihr Bewusstsein demnächst in ein elektronisches Marmeladenglas passen wird. Angesichts der wachsenden Computerleistung wäre das vielleicht billiger.

Einige Vertreter des sogenannten "Transhumanismus", zu deren namhaftesten Köpfen der US-amerikanische Futurologe Ray Kurzweil (geb. 1948) zählt, rechnen damit, dass es noch im 21. Jahrhundert möglich sein wird, menschliches Bewusstsein in technischen Einrichtungen nachzubilden bzw. in sie zu übertragen.

Darauf immerhin sind wir in Deutschland bestens vorbereitet, stellte das Bundesverfassungsgericht mit dem berühmten "Mephisto"-Beschluss doch schon am 24. Februar 1971 die bloße Erinnerung an Verstorbene unter Menschenwürdeschutz. Sollte das dann nicht erst recht fürs naturidentische Bewusstsein im IT-Zentrum gelten?

Um die juristischen Details, ob es etwa bloßer "Stromdiebstahl" nach § 248c Strafgesetzbuch ist, wenn einem solchen Marmeladenglasbewusstsein der Saft abgedreht wird, sollten sich aber die leibhaftigen Juristen des Jahres 2114 kümmern.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten aus 800 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 01.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10485 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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