Am 23./24.März 1899 lief ein deutsches Kriegsschiff im Pazifik auf ein Riff. Acht Jahre später entschied das Reichsgericht über die Pension eines Besatzungsmitglieds. Probleme bereiten die "Cormoran" und ihre Schwesterschiffe heute wieder.
Die höchsten deutschen Zivilrichter schilderten die Vorgänge in einem Nebenmeer des pazifischen Ozeans, das noch heute etwas albern die Bezeichnung "Bismarcksee" trägt, in kräftigen Farben –man möchte fast glauben, dass sie doch recht fasziniert waren vom exotischen Schauplatz und der Tatkraft der deutschen Marine in höchster Gefahr:
"Am 24. März 1899 ist das Kriegsschiff 'Cormoran' auf das Wirbelwindriff bei Neupommern aufgelaufen, hat dort fünf Tage festgesessen und trotz 'übermenschlicher' Anstrengung der Besatzung erst, nachdem fast sämtliche trennbaren Gegenstände, darunter Geschütze, Dampfpumpen, Eismaschine, Dampfrudermaschine, Anker und so ziemlich die gesamte Inneneinrichtung, über Bord geworfen und die Masten gekappt waren, wieder flott gemacht werden können."
Ein deutscher Jurist konnte, wie man sieht, dramatische Szenen damals ohne Mühe in einem Schachtelsatz zusammenfassen.
Während das Schiff auf der heute als Whirlwind Reef verzeichneten Untiefe festsaß, habe sich die "Cormoran", weil "jeden Augenblick ein Durchbruch des Schiffes zu befürchten stand, so daß sich der Kommandant sogar entschloß, die Geheimpapiere zu vernichten, das Schiff selbst, sowie die gesamte Besatzung in größter Gefahr" befunden.
Streit um die Höhe des Militärpensionsanspruchs
Aufgrund der "körperlichen Anstrengungen und seelischen Aufregungen" bei diesem "Schiffsunfall" waren einige Angehörige der Besatzung "an einem Nervenleiden erkrankt".
Dem späteren Kläger wurde daher auf Kosten des Reichsmarinefiskus wegen Erwerbsunfähigkeit eine Pension in Höhe von 51 Mark monatlich bewilligt.
Die Anspruchsgrundlage sah die Behörde zunächst in § 22 Nr. 1 "Gesetz, betreffend die Versorgung der Kriegsinvaliden und der Kriegshinterbliebenen" vom 31. Mai 1901. Nach dieser Vorschrift waren unter anderem "Personen des Soldatenstandes" zu versorgen, "welche im Dienste durch Schiffbruch invalide geworden sind".
Das Gesetz war zwar in mancher Hinsicht recht klar. Es regelte die Versorgung von Kriegsinvaliden und ihren Hinterbliebenen, "welche durch die von deutschen Staaten vor 1871 oder von dem Deutschen Reiche geführten Feldzüge invalide geworden sind" (§ 1 Abs. 1).
Vergessen wurden weder die Soldaten, die auf der feindlichen Seite am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 teilgenommen hatten und durch die Annexion von Elsass-Lothringen Deutsche geworden waren (man stelle sich das heute im russisch-ukrainischen Krieg vor), noch die im Jahr 1901 ganz frischen "Theilnehmer an der … gegen China gerichteten Expedition" wegen des sogenannten "Boxeraufstands".
Obwohl die Soldaten der "Kaiserlichen Schutztruppen", also das in den deutschen Kolonien eingesetzte Militär, nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes vom 31. Mai 1901 grundsätzlich einbezogen waren, blieben doch zwei Unklarheiten bestehen. Zu bestimmen, ob ein "Feldzug" vorliegt, lag im Ermessen des Kaisers. Das hatte Wilhelm II. (1859–1941) für die Inseln der Südsee nicht getan.
Nachdem die Behörde den privilegierten Pensionsanspruch nach diesem Gesetz von 51 Mark auf 21 Mark monatlich reduziert hatte, das war der Tarif für allgemeine Erwerbsunfähigkeit von Militärangehörigen, wurde außerdem noch über die Frage gestritten, ob die "Cormoran" auf dem Wirbelwindriff bei Neupommern überhaupt einen Schiffbruch im Sinne des Gesetzes erlitten hatte.
Das Kammergericht gab der Klage des Soldaten gegen den Reichsmarinefiskus statt, mit der Revision vor dem Reichsgericht bestritt die Behörde weiter, dass ein "Schiffbruch" vorgelegen habe.
Schiffbruch in Sinne des Kriegsinvalidenrechts
Das Reichsgericht entschied gegen die Behörde.
Mit dem Begriff "Schiffbruch" seien zwar, wie ein Vertreter der Marineverwaltung im Gesetzgebungsverfahren geäußert habe, Gefahrenlagen ausgeschlossen worden, in denen auch Soldaten an Land verunglücken konnten, beispielsweise Brände oder Explosionen.
Mit Blick auf die spezifischen Gefahren der Seefahrt wollte das Reichsgericht den Begriff "Schiffbruch" dann aber nicht zu eng ausgelegt sehen: "Aus dem Worte des Gesetzes 'Schiffbruch' ergibt sich zwar, daß das Ereignis das Schiff betroffen haben muß, und daß daher ein nur eine einzelne Person betreffendes Unglück, z. B. das Fortspülen eines Mannes über Bord, nicht unter das Gesetz fällt. Aber das Wort kann nicht dahin gepreßt werden, daß das Schiff gebrochen sein muß, so daß Fälle, in welchen z. B. ein Schiff infolge des Eindringens von Wasser ohne Beschädigung des Schiffskörpers in die Tiefe versinkt, oder wenn es kentert, oder wenn es ohne Beschädigung strandet, von der Anwendung des Gesetzes ausgeschlossen bleiben müßten."
"Schiffbruch", sollte also nicht dahin ausgelegt werden, dass "eine eigentliche Beschädigung, eine Verletzung der äußeren Integrität des Schiffes" vorliegen müsste. Und die dramatischen Umstände auf dem Wirbelwindriff bei Neupommern entsprachen auch nach Ansicht der Reichsgerichtsräte jener der Seefahrt eigentümlichen Gefahr, die als "Schiffbruch" verstanden werde.
Dem Soldaten verblieb damit seine monatliche Pension von beachtlichen 51 Mark, was ungefähr der Hälfte eines guten Facharbeiterlohns entsprochen haben mag – bis der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Inflation ihn entwerteten (Reichsgericht, Urteil vom 12.11.1907, Az. III 177/07; RGZ 17, S. 67–71).
Kolonialbeamte und -soldaten waren notorisch anfällig
Die Feststellung von Behörde und Gericht, dass durch den Schiffsunfall in der Bismarcksee gleich mehrere Besatzungsmitglieder wegen der "körperlichen Anstrengungen und seelischen Aufregungen" von einem "Nervenleiden" befallen worden seien, ist einerseits nicht ganz untypisch, hat mit Blick auf den Einsatzbereich der "Cormoran" und ihrer Schwesternschiffe aber einen seltsamen Beigeschmack.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Soldaten und Beamte die imperiale Expansion Deutschlands in Afrika, Asien oder Ozeanien nicht lange überlebten, war recht hoch. Vor allem Tropenkrankheiten, zudem die zeittypische (Selbst-) Medikation mit hohen Mengen Alkohol, Opiaten und Chinin, bedingten vielfach einen frühen Tod oder wenigstens vorzeitiges Siechtum.
Das war weitgehend gerichtsbekannt. Es im Versorgungsrecht relativ großzügig zu berücksichtigen, zählte mit zu den Kosten des Kolonialismus, die bereits damals von ökonomisch klugen Köpfen, etwa Moritz Julius Bonn (1873–1965), kritisch gewürdigt wurden.
Soldaten zur See, die ein Schiffbruch derart aus der Bahn wirft, wirken aber auch seltsam – jedenfalls mit Blick auf die ökonomischen und sozialen Kosten, die sie jenen Menschen bereiteten, die dem imperialen "Abenteuer" Deutschlands zum Opfer fielen.
In seiner Streitschrift "Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten" (2021) weist der Historiker Götz Aly (1947–) darauf hin, dass die im Jahr 1893 gebaute "Cormoran" – wie die anderen Schiffe ihrer Klasse – ohne nennenswerte Panzerung auskam. Die "Kleinen Kreuzer" der Bussardklasse verfügten über einen geringen Tiefgang, um sie auch in Flussläufen einsetzen zu können, ihre Reichweite war für die logistisch schwierigen Räume Asiens und Ozeaniens optimiert, die Unterkünfte tropentauglich. Auch eine Eismaschine war beim Wirbelwindriff ins Meer geworfen worden, noch nicht unbedingt die Standardausstattung von Kriegsschiffen.
Und fehlende Panzerung heißt, dass man es nur mit deutlich schwächeren Feinden aufnehmen wollte. Die "Cormoran" wurde etwa 1897 bei der deutschen Aneignung der Region um Qingdao eingesetzt, einem der zahlreichen "ungleichen Verträge", die das ökonomisch und militärisch weit zurückgefallende Kaiserreich China schließen musste. Den Schiffbruch am Wirbelwindriff erlitt sie auf dem Weg nach Samoa, 1899 Streitapfel der imperialen Mächte im Pazifik.
Seiner Majestät Schiff Cormoran – auch ein Terrorinstrument
Nicht zuletzt taugten die Schiffe dazu, wie Götz Aly in sehr kräftigen Farben beschreibt, die Einwohner der deutschen Südseekolonie "Kaiser-Wilhelm-Land" zu terrorisieren. Dem Widerstand gegen die angemaßte Herrschaft wurde mit exzessiver Gewalt begegnet, regelmäßig vernichteten die deutschen Marinesoldaten neben Gebäuden und Agrarflächen der Einheimischen gezielt alle Boote, womit ihre Ernährungslage extrem prekär, das Krankheits- und Todesrisiko in der tropischen Regenzeit deutlich erhöht wurde.
Was dabei nicht zerstört wurde, steht oder liegt heute womöglich in einem völkerkundlichen Museum. Aly kommentiert die militärisch-ethnologische Public Private Partnership an einem Beispiel: "Wie üblich sicherten sich die deutschen Herren 'die ethnographisch wertvollen Sachen', bevor sie alle erreichbaren Hütten in Flammen aufgehen ließen. In diesem Fall wurde die Aneignung musealer Herrlichkeiten dokumentiert und als strafweise 'Fortnahme des Besitzes' umschrieben." Der Verantwortliche "kümmerte sich darum, dass zwar die Kanus wie üblich zerschlagen oder angezündet, aber 'die guten Fischernetze aus Brotfruchtfaser sorgfältig' verpackt nach Berlin verfrachtet wurden".
Brandenburgküste im Norden von Papua
Den "Eingeborenen" einer Ortschaft an der sogenannten Brandenburgküste im Norden von Papua wurden, so Aly, "auf besonderen Wunsch" eines Missionars die "alten Barakhäuser, in denen sich der alte Götter- und Ahnenkult der Eingeborenen verkörpert, niedergebrannt", aber nicht ohne wertvolle Artefakte für den deutschen Kunstsammler- und Museumsbetrieb zuvor einzusammeln.
Der Schiffbruch am Wirbelwindriff mochte durch "körperliche Anstrengung und seelische Aufregung" ein ruhestandsfähiges Nervenleiden bedingt haben. Vor der Einsicht, was im Staatsdienst alles zu einer gehörigen Anspannung der Gewissenskräfte hätte anregen müssen, schützte damals aber wohl noch die von Thomas Mann (1875–1955) erkannte "machtgeschützte Innerlichkeit" des deutschen Mannes – bis auch deren äußere Hülle Risse bekam, musste erst die ganze Gesellschaft Schiffbruch erleiden.
Hinweise: Götz Aly: "Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten". Frankfurt am Main (Fischer) 2021. Zurzeit auch als Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich. Zur Pathologie des kolonialen Personals: Johannes Fabian: "Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Eroberung Zentralafrikas". München (Beck) 2001. Trutz von Trotha: "Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des 'Schutzgebietes Togo'". Tübingen (Mohr) 1994. Hans Blumenberg: "Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher". Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1979.
Reichsgericht zum Unfall der "Cormoran" am Wirbelwindriff: . In: Legal Tribune Online, 24.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54183 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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