BGB, StGB, EStG: Es gibt Gesetze, die kennt jeder, auch ohne Jurastudium. Ihre Namen sind kurz, die Abkürzungen selbsterklärend. Aber der Gesetzgeber produziert beinahe täglich neue Normen. Jedes dieser Kinder muss einen neuen Namen bekommen. Aber irgendwann sind alle kurzen und schönen Namen vergeben. Was dann, fragt Roland Schimmel, und wirft einen Blick auf die Geschichte mancher Gesetzesnamen.
Zwangsläufig werden die Namen länger. Zugleich geraten sie auch weniger prosaisch. Manchmal entlocken sie dem Normadressaten – oder wenigstens dem Normanwender – ein Lächeln. Manchmal aber auch nicht.
Die Notwendigkeit, den Gesetzesinhalt möglichst klar zu benennen und zugleich jede Verwechslung mit einem anderen Gesetz zu vermeiden, erzwingt nämlich schon mal etwas längere Gesetzesbezeichnungen. Ein paar Beispiele:
Das Gesetz zur Übertragung der Aufgaben für die Überwachung der Rinderkennzeichnung und Rindfleischetikettierung v. 19.01.2000 (GVBl. M-V, 22), aussprachefreundlich zusammengezogen zu Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, zitierfreundlich abgekürzt als RkReÜAÜG M-V hat ein eigenes Wikipedia-Lemma und bekam beim Außerkrafttreten Ende Mai 2013 Nachrufe in der Presse wegen der außergewöhnlichen Länge nicht des Gesetzestexts, sondern des Namens.
Der Maßstab: 7 Substantive, 21 Silben, 63 Buchstaben
Und es dürfte Maßstäbe setzen in Sachen Kompositabildung: sieben Substantive, 21 Silben, 63 Buchstaben. Nicht schlecht für den Anfang. Aber zugegebenermaßen ein Gesetz nur für wenige Spezialisten.
Dagegen verblasst die Gegenprobensachverständigen-Prüflaboratorienverordnung, mit vollem Namen Verordnung über die Akkreditierung von Prüflaboratorien als Voraussetzung für die Zulassung privater Gegenprobensachverständiger für die Untersuchung von Proben (v. 11.02.1999, BGBl. I, 162). Sieben Substantive, 19 Silben, 54 Buchstaben.
Allerdings wurde die Verordnung geändert durch einen neuen Spitzenreiter abgelöst: die Verordnung über die Zulassung privater Gegenproben-Sachverständiger und über die Regelungen für amtliche Gegenproben sowie zur Änderung der Gegenprobensachverständigen-Prüflaboratorienverordnung (v. 11.08.2009, BGBl. I, 2852), genannt: Gegenproben-Verordnung, abgekürzt: GPV. Neun Substantive, 63 Silben, 177 Buchstaben.
Vorbild: Europa
Der europäische Gesetzgeber macht es vor: Die Level-II-Verordnung heißt mit vollem Namen Delegierte Verordnung (EU) Nr. 231/2013 der Kommission vom 19. Dezember 2012 zur Ergänzung der Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf Ausnahmen, die Bedingungen für die Ausübung der Tätigkeit, Verwahrstellen, Hebelfinanzierung, Transparenz und Beaufsichtigung.
Und das ist noch einer der knackig-kurzen Namen. Substantive, Silben und Buchstaben zählen Sie dieses Mal bitte selbst. Alternativ könnten Sie – ohne im Internet nachzusehen – erklären, was die EU-Verordnung regelt.
Rekordhalter: InstallateurHeizungsbauerMstrV
Wer allerdings – wie der Verfasser – dachte, SozSichAbkÄndAbk2ZAbkTURG (gemeint ist damit das Gesetz zu dem Zusatzabkommen vom 2. November 1984 zum Abkommen vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit und zu der Vereinbarung vom 2. November 1984 zur Durchführung des Abkommens vom 11. Dezember 1986 v. 11.12.1986, BGBl. II, 1038) sei die längste Gesetzesabkürzung im Umlauf, sieht sich eines Besseren belehrt: InstallateurHeizungsbauerMstrV (für die Verordnung über das Meisterprüfungsberufsbild und über die Prüfungsanforderungen in den Teilen I und II der Meisterprüfung im Installateur- und Heizungsbauer-Handwerk v. 17.07.2002, BGBl. I, 2693) ist zwar verständlicher und leichter auszusprechen, aber eben doch: länger.
Linguisten dürften also lächeln. Die Vorstellung von Beamten in Bundes- und Landesministerien, die sich gegenseitig mit Silbenclustern zu überbieten versuchen ("Nimm das!"), ist ja schon ein bisschen amüsant. Man kann aber auch von einer ganz anderen Warte auf die Gesetzesnamen schauen, etwa von einer kulturgeschichtlichen.
2/2: Hilflos hinterher: Wachstumsbeschleunigungsgesetz
Angenommen, eines ziemlich fernen Tages würden unsere Nachfahren versuchen, sich ein Bild von uns Heutigen zu verschaffen: Was würden die Experten herausfinden, wenn sie in einem nuklearkatastrophengesicherten Bergwerksstollen als erstes eine vollständig erhaltene Ausgabe aller wichtigen Parlamentaria und des Bundesgesetzblatts entdeckten? Sie würden die großen gesellschaftlichen und politischen Probleme und Streitfragen der Gegenwart in den Gesetzen aktueller Produktion abgebildet sehen.
Das schwierige Verhältnis von Ökonomie und Ökologie beispielsweise: Dass 40 Jahre nach dem mit Grenzen des Wachstums überschriebenen ersten Bericht des Club of Rome noch Gesetze mit Titeln wie Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (BGBl. I 2009, 3950; schon vor dem Inkrafttreten am 01.01.2010 zusammengezogen zu Wachstumsbeschleunigungsgesetz und liebevoll abgekürzt als WachstumsBeschlG oder WaBeschG) verabschiedet wurden, werden unsere Nachfahren womöglich als Menetekel lesen. Vielleicht bekommen wir aber dafür in der Bilanz das Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (v. 27.9 1994, BGBl. I, 2705) gutgeschrieben unter dem Stichwort "erstes Problembewusstsein".
Oder die kleinen Krisenerscheinungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem: Dass unser Wirtschaften nicht nur von Gier und Spekulation beherrscht war, wird man dereinst aus dem Risikobegrenzungsgesetz (genauer: Gesetz zur Begrenzung der mit Finanzinvestitionen verbundenen Risiken, BGBl. I 2008, 1666) rekonstruieren können. Erst bei genauerem Hinsehen wird sich dann herausstellen, dass aus dem Gesetz zur Deckelung obszön hoher Managergehälter im Besonderen sowie zur Bekämpfung unerfreulicher Gier im Allgemeinen nichts geworden ist. Nicht so schlimm, werden die Nachfahren denken, außer dem Gesetzgeber gab es ja noch den Markt – der wird das schon geregelt haben. Schade aber trotzdem, weil die Kurzbezeichnung bestimmt hübsch geworden wäre.
Euphemistisch: Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
Wenn spätere Rechtshistoriker einmal fragen sollten, welche Gesetze im Alltag vieler Menschen wirklich ankamen, werden sie vermutlich noch vor der StVO das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (v. 24.12.2003, BGBl. I, 2954) identifizieren, bekannt geworden durch das Kürzel Hartz IV, und dabei auf ein Phänomen stoßen, das sich bei den bisherigen Beispielen schon abgezeichnet hat:
Der Gesetzgeber lügt den Normadressaten die Norminhalte schön. Dass die modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ein Euphemismus sind für die Zusammenlegung zweier Systeme der sozialen Sicherung auf niedrigerem Niveau, haben immerhin auch zeitgenössische Beobachter schon festgestellt. Zukünftige Historiker werden hinzufügen: Die Normadressaten haben es sich gefallen lassen.
Trügerisch hoffnungsvoll: NS-AufhG
Manchmal weckt eine Gesetzesabkürzung auch Hoffnungen, die weder der Gesetzgeber noch das Gesetz noch dessen richtiger Name erfüllen können. Das NS-AufhG ist so ein Kandidat. Sofort denkt man unwillkürlich an Quentin Tarantino, der mit Inglorious Basterds für eine kleine Weile im Kino die Illusion herstellte, der Nationalsozialismus hätte aufgehoben werden können – durch ein brennendes Lichtspieltheater im besetzten Paris 1944.
Dann liest man NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz und am Ende den vollen Namen Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (v. 25.08.1998, BGBl. I, 2501) – und schlägt wieder auf dem Boden der Tatsachen auf. Mit allen Zweifeln, ob auch nur dieses sehr begrenzte Ziel erreicht werden könne, und wenn ja, warum das Gesetz eigentlich erst über 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft erlassen worden ist.
Banalität des Bösen: Blutschutzgesetz
Deren Anfang markierte übrigens das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (v. 24.03.1933, RGBl. I, 141; bekannt als Ermächtigungsgesetz, obwohl das eigentlich eine Gattungsbezeichnung ist), wenig später gefolgt vom Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat (v. 01.12.1933, RGBl. I, 1016). Verballhornungen und Abkürzungen sind für beide nicht überliefert. Anders war das aber schon wenig später beim Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (v. 15.09.1935, RGBl. I, 1146; bekannt als eines der drei Nürnberger Gesetze), das mit der üblichen Zärtlichkeit der deutschen Verwaltungssprache Blutschutzgesetz genannt wurde (so hießen die Textausgaben der Zeit dann etwa Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz, Blutschutzgesetz, Ehegesundheitsgesetz u. anderen wichtigen Nebengesetzen).
Wem bei dieser Bezeichnung nicht übel wird, der lese den Gesetzestext, beginnend mit der Präambel: Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: […]
Wenn unsere Nachfahren bis dahin gelesen haben werden, werden sie sich fragen, ob ihre Vorfahren im 20. Jahrhundert noch alle Tassen im Schrank hatten. Vielleicht aber wird ihr Urteil auch etwas weniger streng ausfallen – wegen des NS-AufhG. Man wird sehen. Trotzdem denkt man bei der Vorstellung eines Ministerialbeamten, der sich eine griffige Bezeichnung auszudenken versucht (Ich hab's – Nennen wir es doch einfach Blutschutzgesetz!) sogleich an Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen. Oder?
Der Autor Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.
Roland Schimmel, Gesetzesabkürzungen: Und wie soll es heißen? . In: Legal Tribune Online, 04.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10493/ (abgerufen am: 20.07.2024 )
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