So schreibt man eine wirklich gute Doktorarbeit in Jura
"Ich stelle mich meinen Doktoranden gern als Hassobjekt zur Verfügung". Der Doktorvater als Projektionsfläche für die Gefühle des von Zweifeln geplagten Doktoranden? Diese Großzügigkeit war nur einer der Aspekte eines bemerkenswerten Panels an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU). Dort empfing Rupprecht Podszun gleich fünf seiner Professorenkolleg:innen – Christian Kersting, Dörte Poelzig, Florian Bien, Petra Pohlmann und Thomas Ackermann – auf dem virtuellen Podium. Anlass war das 4. Offene Doktorandenseminar im Kartellrecht, ausgerichtet vom Institut für Kartellrecht der HHU.
Vor über siebzig abgekämpften Doktoranden beschrieben die Professor:innen, was eine herausragende Dissertation auszeichnet, welche No-Gos ihnen den Urlaub verderben und was sie an ihrer eigenen Doktorarbeit ändern würden. On top gab es Pflichtlektüre, Stilunterricht und die Antwort auf die Frage, wie lang die ideale juristische Doktorarbeit ist.
Wenn Sie Ihr Leben noch einmal leben könnten…
Zum Einstieg erklärten die Panelisten, was sie anders machen würden, könnten sie ihre eigene Dissertation noch einmal schreiben.
Petra Pohlmann von der Universität Münster bereut ihren jugendlichen Scharfsinn: Ein zu logischer Aufbau kann die wichtigsten Erkenntnisse im siebten Untergliederungspunkt des vorletzten Kapitels vergraben. Deshalb besser: Schon in der Gliederung kenntlich machen, welche Kapitel man aufmerksam lesen muss. Check!
Thomas Ackermann von der LMU München würde seine Dissertation in Englisch verfassen. Der Untersuchungsgegenstand seines Kartellrechtsklassikers Art. 85 Abs. 1 EGV und die rule of reason lag im Unionsrecht. Für solche Arbeiten sei die Sprache ein schwer überwindbares Rezeptionshindernis. Er empfahl deshalb, wenigstens eine komprimierte Fassung oder ein ausgekoppeltes Kapitel auf Englisch zu veröffentlichen.
An die Kärrnerarbeit einer rechtsvergleichenden Forschung erinnerte sich Dörte Poelzig, die gerade von der Uni Leipzig nach Hamburg wechselt. Bei der Erstellung ihrer Dissertation stand sie vor der Herausforderung, aussagekräftige Literatur zur russischen Rechtsordnung zu recherchieren.
Ein Wort der Vorsicht gab es auch für Wilderer in fremden Disziplinen. So wünschenswert interdisziplinäre Forschung sei, ließe sich "selbst Verhaltensökonomie" nicht ohne Fachhintergrund bewerkstelligen, warnten die Professor:innen. Zudem solle man in solchen Fällen über eine Doppelbetreuung nachdenken.
Mit dem Spirit der Erstsemestervorlesung
Einig waren sich die Panelisten bei der Frage, was eine besonders gelungene Doktorarbeit ausmacht: Originalität, die neue Idee – darum geht es in der Wissenschaft. Vor kühnen Phantastereien, die in diesem Moment kurz in den Gehirnen der zuhörenden Nachwuchswissenschaftler:innen aufflackerten, bewahrte Florian Bien von der Universität Würzburg. Wenn freischwebende Originalität nur die Faulheit sei, anderes zu lesen, habe man etwas falsch verstanden. Zudem hätten Jurist:innen eine Stärke in der Systematisierung, der Anbindung einer guten Idee ins geltende Recht.
Etwas Originelles zu schreiben, das dürfte als Ziel für keinen Doktoranden neu sein. Nur: Wie kriegt man das hin?
Ackermann warb für eine gesunde Portion Selbstvertrauen. Es brauche Mut, ungewohnte Verbindungen herzustellen und die "schrägen Fragen" zu stellen, die den Spirit der Erstsemestervorlesung ausmachen. Es lohne sich vor allem den scheinbar komischen Gedanken nachzugehen, selbst wenn neun von zehn wieder verworfen werden.
Kreatives Denken brauche, so Poelzig und Christian Kersting, Co-Direktor des gastgebenden Düsseldorfer Instituts für Kartellrecht, auch regelmäßige Auszeiten. Die besten Ideen kämen oft nicht beim Starren auf den Bildschirm, sondern z.B. beim Laufen oder vor dem Einschlafen. Manch andere Professor:innen hätten daher einen Notizblock auf dem Nachttisch liegen.
Die Eierschalen müssen weg
Das nächste Problem: Selbst wenn die große neue Idee vorhanden ist – dem nicht-juristischen Leser sei gestanden, dass es juristische Doktorarbeiten geben soll, denen es daran mangelt – kann der Weg zur Erkenntnis für die Leser beschwerlich sein.
Die Teilnehmer:innen verwünschten den "Grundlagenteil", in dem der Forschungsstand auf achtzig Seiten ausgebreitet wird. Eine Dissertation, die zielstrebig auf einen neuen Gedanken zugeht, ihn vor den Augen des Lesers entstehen lässt und Neugier darauf weckt, wie er zu Ende geht, wird für Kersting, geradezu zum "Pageturner". Pohlmann brachte die notwendigen Streichungen im Grundlagenteil auf das prägnante Bild: Am Ende der Arbeit müssen die Eierschalen weg, sodass nur das Küken bleibt.
Poelzig betonte, eine gute Dissertation sei für den Leser geschrieben. Bei Kersting durchläuft ein so niedergeschriebener Gedanke einen dreistufigen Prozess: (1) Ein Problem weckt ein Störgefühl im Bauch; (2) das Problem wird in Worte gefasst; (3) das Ergebnis wird so lange umformuliert, bis es auch für andere verständlich ist.
Das Verständnis werde erleichtert durch schlanke, schnörkellose Formulierungen. Dagegen sollten Passivkonstruktionen, Nominalstil und unverständliche Fremdwörter ("Gravamina" wurde zum running gag) nach Möglichkeit vermieden werden. Den letzten Punkt wollte Ackermann so nicht stehen lassen: "eine gelegentliche semantische Überforderung des Lesers ist willkommen".
Zur Lektüre empfahlen die Teilnehmer:innen Ludwig Reiners‘ Stilkunst, Tonio Walters Kleine Stilkunde für Juristen und Literaturklassiker – ob die Namen von Thomas Mann und Franz Kafka in diesem Zusammenhang ironisch oder ernsthaft ins Spiel gebracht wurden, ließ sich für den Beobachter nicht genau eruieren.
Nicht abschreiben, Korrektur lesen lassen und die perfekte Länge
Gegen Ende zählten die Panelisten auf, was ihnen an einer Doktorarbeit sauer aufstößt. Schreib- und Tippfehler sind die Nummer 1 auf Kerstings Liste der No-Gos. Inständig bat er darum, die eigene Doktorarbeit Korrektur lesen zu lassen.
Als "echte Schweinerei" verurteilte Bien Plagiate jeglicher Art. Gemeint waren damit nicht nur fremde Gedanken, die nicht als solche gekennzeichnet sind. Auch die Anlehnung der eigenen Gliederung an eine fremde sollte kenntlich gemacht werden. Die Kennzeichnung durch eine Fußnote sollte außerdem nicht zum Anlass genommen werden, Formulierungen wörtlich zu übernehmen.
Zuletzt ärgern die Professor:innen erhebliche Umfangsüberschreitungen. Die optimale Länge für eine Dissertation liege bei 200-300 Seiten (max. 100.000 Wörter).
Was nimmt der Doktorand, die "gequälte Kreatur", aus diesem Abend mit?
Zum Abschluss bat Moderator Rupprecht Podszun die Teilnehmer:innen noch um einen praktischen Tipp für die tägliche Arbeit. An erster Stelle: Kontakt mit anderen Doktorand:innen und Forschungsgebieten. Scheinbar nutzen zudem nicht alle Doktorand:innen die Gliederungsfunktion von Word (einstellbar unter Ansicht – Navigationsbereich). In Schreibphasen empfehle es sich, abends einen Gedanken für den nächsten Tag aufzubewahren, um gleich mit dem Schreiben fortfahren zu können.
Was nimmt der Doktorand, "die gequälte Kreatur", wie es einer der Professoren nannte, aus diesem Abend mit?
Eine gute Doktorarbeit ist phantasievoll in der Sache, in der Form aber schlicht. Zwischen Zweitstudium und fremdsprachigen Auskopplungen braucht sie Auszeiten, klassische Literatur oder in Stressphasen eben "einen gesunden Hass gegen den eigenen Betreuer" (Ackermann).
Wer sichergehen will, schläft nur noch mit einem Notizblock neben dem Bett und geht auch nicht mehr unvorbereitet Joggen. Zuletzt kontrollieren wir unsere Wörterzahl und kürzen als erstes am Grundlagenteil, der als Eierschale der Doktorarbeit getrost in den Müll wandert. Dann ist es ganz einfach, den Professorinnen und Professoren einen Pageturner vorzulegen, der rasch korrigiert wird. Übrigens im Urlaub am Strand.
Philipp Bongartz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht von Prof. Dr. Rupprecht Podszun an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er promoviert dort zum Thema "Kundenschutzbindungen auf Online-Marktplätzen".
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