Lasst die ZPO nicht aus!
"ZPO lerne ich auf Lücke". Oder: "ZPO lerne ich dann im Zweiten". So oder so ähnlich lautet eine häufige Aussage von Examenskandidaten. Sie sehen sich - konfrontiert mit der Stofffülle der Ersten Juristischen Prüfung - gezwungen, beim notwendigen Wissen im Prozessrecht Abstriche zu machen.
Doch Rechtswissenschaft hört nicht mit der Erkenntnis auf, dass jemandem materiell-rechtlich ein bestimmter Anspruch zusteht. Dessen Durchsetzung, wenn der Schuldner sich weigert, diesen zu erfüllen, ist untrennbar damit verbunden. Sonst bräuchten wir weder Richter noch Anwälte. Wer Jurist werden will, sollte Kenntnis vom Ablauf eines Mahn- und Klageverfahrens haben und auch beurteilen können, wie auf bestimmte, erst im Verfahren eingetretene Umstände prozessual reagiert werden muss.
ZPO wird immer noch geprüft
Man mag geneigt sein, diese Idealvorstellung im Rahmen der eigenen Examensvorbereitung beiseitezuschieben, schließlich steht das nahende Examen subjektiv immer an vorderer Stelle. Alles andere kann man ja auch später lernen. Versteht man das Examen in erster Linie als große zu überwindende Hürde, mag dieses Vorgehen richtig erscheinen. Doch das Zivilprozessrecht ist nicht nur rein theoretischer Prüfungsstoff, sondern wird auch im Examen geprüft.
Wer dann nicht weiß, wie das Recht des Eigentümers verwirklicht wird, vom Gläubiger die beim Schuldner gepfändete Sache herauszuverlangen, der wird bei einer im Zwangsvollstreckungsrecht angesiedelten Klausur kaum den Einstieg finden. Wer sich mit den Vorschriften über das Versäumnisverfahren noch nie befasst hat, wird nicht wissen, wie das Gericht auf den Klageantrag hin zu entscheiden hat, wenn der Beklagte vor dem Landgericht ohne seinen Anwalt erscheint.
Als Einstieg in die Klausur sind derartige Einkleidungen zwar in jüngerer Zeit weniger geworden, womit eine realistische Chance besteht, ohne ZPO-Kenntnisse gut durch die Klausuren des staatlichen Examensteils zu gelangen. Ausgestorben sind solche Konstellationen je nach Bundesland aber nicht. Jedenfalls mit einer zivilprozessualen Zusatzfrage muss jeder Examenskandidat regelmäßig rechnen.
Selbst wer bereit ist, in den Klausuren Punktverlust hinzunehmen, wird sich bei der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung häufig doch damit konfrontiert sehen, noch schnell ZPO lernen zu müssen - spätestens wenn sich aus den Protokollen ergibt, dass der Prüfer eine (nicht seltene) Affinität zum Prozessrecht hat. Ein Unterfangen, was häufig schief geht, denn dann ist der Zeitdruck groß.
ZPO lernt sich schwieriger
Denn ZPO lernen die allermeisten nicht so einfach wie materiell-rechtliche Fragestellungen. Struktur und Zweck des zivilprozessualen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens erschließen und verfestigen sich erfahrungsgemäß erst, wenn man praktische Erfahrung sammelt – und die ist im ersten Abschnitt der Juristenausbildung rar gesät. Umso wichtiger ist es, sich mit den einschlägigen Themenschwerpunkten mehrfach und möglichst unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu befassen.
Dies beweist etwa eine vor einigen Jahren im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm zu bearbeitende prozessuale Zusatzfrage einer Examensklausur. Der Kläger erhob danach negative Feststellungsklage gegen den sich eines Anspruchs berühmenden Beklagten. Dieser reagierte seinerseits mit einer Widerklage auf Zahlung der geschuldeten Summe. Wer nur die üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen von Feststellungsklage und Widerklage auswendig lernt, wird bei der Prüfung der Zulässigkeit beider Klagen kaum erkennen, dass die Musik eher im Begriff des Streitgegenstandes oder dem Zeitpunkt eines erledigenden Ereignisses spielt. Wie der Kläger zu reagieren hat, wird man erst recht nicht beantworten können, wenn man ZPO in der Examensvorbereitung komplett ausgelassen hat.
Bumerang im Zweiten Examen
Spätestens fürs Zweite Examen hat eine derartige Sparsamkeit bei der Vorbereitung regelmäßig doppelten Bumerangeffekt. Nicht nur, dass im "Praktikerexamen" das Prozessrecht generell wichtiger ist. Zusätzlich wird das Überblickswissen des Ersten Examens von Beginn an als bekannt vorausgesetzt, wenn Arten von Streitwerten, Darlegungslast, Kostenrecht etc. Während des Referendariats Themen sind werden.
Wer dann noch zivilprozessuales Grundlagenwissen nachlernen muss, wird zum Ende des Referendariats gerade wegen der empfundenen Schwerfälligkeit des Rechtsgebietes kaum sein Leistungspotenzial ausschöpfen. Die Enttäuschung im Zweiten Examen ist damit vorprogrammiert.
Erwartungen im Ersten Examen überschaubar
Dabei sind gerade im Ersten Examen die Erwartungen an das ZPO-Wissen der Prüflinge im Vergleich zu der stellenweise im materiellen Recht erwarteten Detailtiefe überschaubar. "Kenntnis im Überblick", wie es in den Regelungen zum Prüfungsgegenstand gewöhnlich formuliert ist, ist hier durchaus wörtlich zu nehmen. Mit solchem Basiswissen lässt sich auch eine Fragestellung wie die oben genannte beantworten, die im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm gestellt worden war. Deswegen war sie - entgegen der damaligen Wahrnehmung einzelner Kandidaten - auch nicht unfair, sondern für das Erste Examen nur ungewöhnlich.
Die meisten Prüfer werden schon dankbar sein, wenn die Verfahrensgrundsätze aufgezählt werden können (und dabei nicht mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör oder dem Öffentlichkeitsgrundsatz begonnen wird, welche keine Besonderheit der ZPO darstellen) und die Regelungen zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit einschließlich der Arten dieser bekannt sind. Wer dann noch der Klage nicht schon mit der Einreichung bei Gericht verjährungshemmende Wirkung beimisst und weiß, wie ein potenzieller Rückgriffsanspruch prozessual gesichert werden sollte, lässt nicht wenige Prüferherzen höherschlagen. Wer dies bewusst oder unbewusst ignoriert, verschenkt halbwegs leicht verdiente Punkte.
Auf Lücke lernen, übt Druck aus
Klar hat die Fülle des Prüfungsstoffes einen Umfang angenommen, dass selbst bei zeitlich unlimitierter Dauer der Examensvorbereitung niemand alles wissen kann. Der Mut zur Lücke ist daher nicht nur verständlich, sondern einer erfolgreichen Examensvorbereitung immanent. Ob man "Lücke" aber als kleines Loch oder abgrundtiefe Fallgrube versteht, ist immer noch ein Unterschied. Ein solides Überblickswissen muss für den Examenserfolg in allen Teilrechtsgebieten, auch der ZPO, vorhanden sein.
Denn eine Lücke in einem ganzen Gebiet wirkt sich psychologisch nachteilig aus. Wer stets das Damoklesschwert über sich spürt, dass "bitte bloß nicht ZPO" (oder sonstige andere Rechtsbereiche) drankommen dürfen, dem fehlt die notwendige positive Grundeinstellung. Kommt das verwünschte Rechtsgebiet, kann das herunterfallende Schwert schnell zu Versagensangst führen. Wer sich hingegen schon einmal oder mehrfach mit bestimmten Themenkomplexen beschäftigt hat, bleibt zumeist auch dann ruhig. Er oder sie weiß, schnell wieder einen geistigen Zugang zu finden, wenn "Lücke" nicht mit "Nichts" gleichzusetzen ist.
Tipps zur Vorbereitung
Bleibt die Frage, wie man es besser macht.
Zunächst: Indem man sich überhaupt mit Prozessrecht befasst. Der thematische Inhalt wird dabei – wie auch sonst – durch die gesetzlichen Bestimmungen zum Prüfungsgegenstand bestimmt.
Zur "überblicksartigen" Befassung versteht man in den meisten Bundesländern die für das Vollstreckungsverfahren allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen und die Arten der Zwangsvollstreckung einschließlich der Rechtsbehelfe nach den §§ 766, 767, 771 ZPO. Für das Erkenntnisverfahren sind zumeist die Verfahrensgrundsätze, der Ablauf des Verfahrens in erster Instanz, der Instanzenzug, die Zulässigkeitsvoraussetzungen, die Arten und Wirkungen von Klagen und gerichtlichen Entscheidungen als Prüfungsgegenstand bestimmt.
Ob man sich sein Wissen nun mit Lehrbüchern, Skripten, Karteikarten oder was auch immer aneignet, ist nicht so entscheiden wie regelmäßige Wiederholung des Stoffs – also in Abständen von einigen Wochen oder Monaten. Auch hier zahlt sich aus, ZPO nicht gar nicht oder erst spät zu lernen, sowohl im Ersten wie im Zweiten Examen. Denn für denjenigen, der frühzeitig anfängt, kommt auch die erste Wiederholung früher. Das gilt auch für alle anderen zunächst unbekannten Rechtsgebiete und nicht nur die "verhasste ZPO".
Früh übt sich also, wer wirklich Profi werden will.
Bernd Piper lernte ZPO schon zum Ersten Examen, was ihm nicht nur seit 2010 bei seiner anschließenden Tätigkeit als Repetitor, sondern auch seit 2017 als Anwalt in einer wirtschaftsrechtlich ausgerichteten Kanzlei in Düsseldorf sehr nützlich war.
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2022 M08 31
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