Stille Post für Jura-Erstsemester
Passender hätte man es kaum erfinden können: Eine in Schwaben lebende Frau sächsischer Muttersprache bucht telefonisch einen Flug. Ihr Ziel ist das portugiesische Porto. Sie spricht den Ortsnamen sehr weich aus – und die Betonung wird wohl auf beiden Silben ähnlich stark gelegen haben. Jedenfalls versteht die Mitarbeiterin des Reisebüros am anderen Ende "Bordeaux", was sie zweimal auf Hochdeutsch wiederholt. Die Kundin will den nach Bordeaux gebuchten Flug weder antreten noch bezahlen – verständlich, weil von Stuttgart aus Bordeaux etwa auf halber Strecke nach Porto liegt. Vor Gericht bekommt das Reisebüro Recht (AG Stuttgart-Bad Cannstatt, Urt. 16.03.2012, Az. 12 C 3263/11). Der Streit hat es in die allgemeine Presseberichterstattung geschafft. Nach dort getragen hat ihn ein juristisch uninteressanter Aspekt: das Sachsen-Bashing. Zugegeben, in den meisten Dialekten hätte das Missverständnis nicht passieren können. Gerade im Sächsischen kann nach dem Stille-Post-Prinzip aus Porto durchaus Bordo und dann Bordeaux werden, zumal am Telefon. Die Sache hat in der Tat etwas Amüsantes. Rechtlich bemerkenswert ist der Sachverhalt, weil er ein Problem auf den Punkt bringt, mit dem sich schon Studenten im ersten Semester herumschlagen müssen: Wie sind Willenserklärungen auszulegen? Oder allgemeiner: Wer trägt das Risiko fehlgeschlagener Kommunikation? Im Grundsatz gilt: Wer sich verständlich machen will und dabei unbemerkt scheitert, muss die Folgen tragen. Er ist an den nicht gewollten Vertrag gebunden; also an das, was der andere verstanden hat, genauer: verstehen durfte. Das kann man aus der Zusammenschau von § 157 und § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ableiten. Überzeugend ist das, weil jeder es in der Hand hat, sich klar auszudrücken. Der Empfänger einer Willenserklärung muss nur nachfragen, wenn eine Äußerung zwei- oder mehrdeutig ist.
When in Rome do as the Romans do
Diesen Anforderungen hat die Mitarbeiterin im Reisebüro genügt, indem sie doppelt auf Hochdeutsch "Bordeaux" bestätigte. Offensichtlich war sich die Kundin der richtigen Aussprache von Porto so unsicher, dass sie keinen Anlass sah, korrigierend einzugreifen. Zu vermeiden wäre das Missverständnis wohl nur gewesen, wenn die Rückfrage ausdrücklich gelautet hätte "Porto in Portugal oder Bordeaux in Frankreich?" Ganz fern liegt das nicht, zumal wenn man die professionelle Rolle des Reisebüros berücksichtigt. Schließlich hatte die Kundin als Reiseziel kein Land genannt. Letztendlich überzeugend genügte dem Gericht aber, dass die klärende Rückfrage nur eine von beiden Möglichkeiten genannt hatte. Das sollte gut praktikabel sein: Logisch bedeutet die Bestätigung der einen Möglichkeit die Verneinung der anderen. Weil die Kundin aber die in der Rückfrage enthaltene Alternative gar nicht erkannte, kam es trotzdem zum Missverständnis. Die entstandenen Kosten legt das Gericht zu Recht der Kundin auf. Ohne rechtsdogmatisch weit auszuholen erstreckt die Richterin damit die Regel von der Berücksichtigung regionaler Sondersprachgebräuche (When in Cologne do not order half-a-chicken unless you know what that is) auf den beinahe entgegengesetzten Fall des Dialektgebrauchs: When in Germany speak German! Das überzeugt. Wenn man schon einen regionalen Sondersprachgebrauch des Empfängers gegen sich gelten lassen muss, ist es erst recht gut zumutbar, die Folgen des eigenen Sondersprachgebrauchs oder Dialekts zu tragen.Die Mühsal der Eingangsinstanz
Nur selten schreiben Amtsgerichte (AG) Rechtsgeschichte. Ob das Urteil des AG Stuttgart Bad Cannstatt in die Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des BGB eingehen wird, wird man erst in einigen Jahren feststellen können. Vielleicht findet sich dann Bordo in Gesellschaft des immer wieder zitierten Kölner halven Hahns. Das Urteil selbst ist übrigens ziemlich knapp. Einen Blick hineinzuwerfen lohnt, weil es ein Schlaglicht auf das Alltagsgeschäft erstinstanzlicher Zivilgerichte wirft: der Streitwert kaum 300 Euro, ein Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a Zivilprozessordnung), die Anwesenheit der Parteien nicht angeordnet, der Sachverhalt unstreitig. Da fallen die Urteilsgründe oft sehr schlank aus. Eine deutlich formulierte Aussage zur Rechtslage, ein Fundstellenhinweis auf einen Online-Kommentar – das war's. Und die Sachverhaltsdarstellung gerät so dürftig, dass künftige Lehrbuchautoren den Fall schon ein wenig werden ausschmücken müssen.Die Mühsal der Rechtslehre im ersten Semester
Eigentlich hätte das alles übrigens nicht passieren dürfen: Porto wird gegen Ende eher mit einem U ausgesprochen, und die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Sagt zumindest Wikipedia. Vielleicht wäre also doch eine deutlichere Rückfrage bei der Buchung geboten gewesen. So ganz genau kann man das nicht wissen, weil ein Beweis über die konkrete Aussprache am Telefon (und damit über die Missverständlichkeit der Buchungsanfrage) kaum zu erbringen ist. Mit der Frage nach der Rückfrage erlaubt das Urteil auch einen Seitenblick auf einige Schwierigkeiten der Juristenausbildung. Deren erste: Die Auslegung von Willenserklärungen ist ein abstraktes und schwieriges Thema. Wer erinnert sich an den Versuch zu begreifen, was der "objektivierte Empfängerhorizont" ist? Die Systematik des BGB und die Ausbildungspläne zwingen den Gegenstand ins erste Semester. Gut aufgehoben ist er dort nicht. In den Köpfen der Studierenden bleibt er nicht selten halb-verstanden am Rande des Lernwegs zurück. Das liegt – zweite Schwierigkeit – nicht zuletzt daran, dass unbefangene Menschen bei rechtlich relevanten Missverständnissen fast automatisch fragen: "Hätte man das nicht vermeiden können? Und wenn ja, wie?" So lässt sich das Auslegungsproblem in juristischer Lesart aber nur schlecht fokussieren. Gerichte entscheiden erst im Nachhinein, wenn das Missverständnis nicht mehr zu beseitigen ist. Also müssen sie normativ festlegen, was ein objektiver Dritter an der Stelle des wirklichen Empfängers hätte verstehen dürfen. Dass man hätte nachfragen können, stimmt ja fast immer. Entscheidet aber das Gericht, dass man nicht hätte nachfragen müssen, legt es zugleich den Sinn einer missverständlichen Erklärung fest. Eine richterzentrierte Juristenausbildung nötigt Studenten einen Perspektivwechsel auf. Sie fragen instinktiv: "Wie kann man das Missverständnis vermeiden?"; dabei sollen sie fragen: "Nach welchen Regeln weise ich im Nachhinein die Verantwortung für das Missverständnis einem der Beteiligten zu?" Wer schon einmal versucht hat, intelligenten Erstsemestern diesen Perspektivwechsel nahezubringen, weiß, wie sich das Scheitern anfühlt. Gegen Ende der Ausbildung sieht es dann wieder etwas besser aus, wie nicht zuletzt das Urteil des AG Stuttgart Bad Cannstatt zeigt. Vollständig in den Griff bekommen hat übrigens auch das Gericht die Sache nicht. Dass das Urteil durchgehend von Bourdeaux spricht, wo Bordeaux gemeint ist, zeigt: Es bleibt schwierig. Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt Bürgerliches Recht an der FH Frankfurt am Main.Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2012 M09 29
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