Vernehmungslehre

"Hast du den Gorilla gesehen?"

von Anna K. BernzenLesedauer: 4 Minuten
Woher weiß ich, ob der Zeuge den Unfall wirklich gesehen hat oder Teile des Ablaufs hinzudichtet? Hat es etwas zu bedeuten, wenn er seine Arme während der Vernehmung verschränkt hält? Und was hat ein Gorilla mit all dem zu tun? In ihrem Kurs "Vernehmungslehre und Beweiswürdigung" führen zwei Richter die Studenten an der Universität Köln in die Tatsachenfeststellung ein. Anna K. Bernzen berichtet.

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In einem losen Kreis stehen die Jugendlichen vor den Fahrstuhltüren zusammen, zwei Basketbälle springen zwischen ihnen hin und her. Drei von ihnen sind in weiße T-Shirts gekleidet, drei tragen schwarze Oberbekleidung. "Zähle, wie oft die weißgekleideten Spieler den Ball abgeben", weist eine Stimme aus dem Off an. Die Jugendlichen beginnen, sich kreuz und quer durch den Flur zu bewegen, beide Bälle immer in Bewegung. Nach einigen Sekunden spaziert ein Gorilla ins Bild, grüßt in die Kamera und läuft ruhig zwischen den Spielern hin und her. "15 mal haben die Spieler den Ball abgegeben", verkündet die Stimme aus dem Off. "Aber hast du den Gorilla gesehen?" "Mir ist er nicht aufgefallen", sagt Riccarda Marcelli im Nachhinein. Im Rahmen einer Unterrichtseinheit zur Einschätzung von Zeugen und ihren Aussagen hat sie das Video gesehen, das im Netz unter "selective attention test", Test zur selektiven Wahrnehmung, zu finden ist. Bei der Kölner Jurastudentin hat der multimediale Exkurs einen bleibenden Eindruck hinterlassen: "Dieses Aha-Erlebnis hat mir gezeigt, dass trotz aufmerksamer Beobachtung selbst offensichtliche Geschehnisse ausgeblendet werden. Der Zeuge ist von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung überzeugt und wirkt dadurch noch glaubwürdiger. In der Praxis erschwert das die Wahrheitsfindung."

Statt der Rechtslage den Sachverhalt feststellen

Der Kurs, in dem sie durch den Video-Test fiel, fand am Kölner CENTRAL statt, dem Center for Transnational Law. Im Mai bietet das Institut zum zweiten Mal eine Unterrichtsreihe an, in der Studenten und Studentinnen sich mit den Herausforderungen rund um Beweiswürdigung, Zeugenvernehmung und Tatsachenfeststellung vertraut machen können. "Während ihrer Ausbildung kriegen die angehenden Juristen vorgefertigte Sachverhalte mit der Frage: Wie ist die Rechtslage? In der Praxis ist es viel relevanter erst einmal festzustellen, welcher Sachverhalt überhaupt vorliegt", sagt Frank Waab. Zusammen mit Dirk Fettback will er im Kurs "Vernehmungslehre und Beweiswürdigung" den Schwerpunkt auf diesen praktischen Aspekt legen, der in ihren Augen im Studium zu kurz kommt. Da für eine Würdigung der Beweise diese erst einmal erhoben werden müssen, konzentrieren sich die Dozenten, beide Richter am Amtsgericht, zuerst auf die Tatsachenfeststellung vor Gericht. Riccardas Erfahrungen mit Gorillas könnten einschlägig werden, wenn es um Zeugenaussagen geht: Sind diese glaubhaft oder schließt der Zeuge eventuelle Erinnerungslücken mithilfe seiner Fantasie? Anhand kurzer Sachverhalte erarbeiten die Teilnehmer Kriterien, die bei der späteren Beweiswürdigung helfen. Das können schon simple Aspekte eine ungewöhnliche Körpersprache sein.

"Die eigene Fragestellung überprüfen, den Zeugen nicht lenken"

Technischer wird es im Rahmen der Aussagenanalyse, zu deren Durchführung die Dozenten die vom Bundesgerichtshof (BGH) anerkannten psychologischen Leitlinien vermitteln. "Sicher werden die Studenten nicht innerhalb von zwei Tagen alle Techniken perfekt erlernen. Dass man die eigene Fragestellung überprüfen muss, den Zeugen nicht lenken darf und kritisch an den Sachverhalt herantreten muss, werden sie aber auch in diesem knappen Zeitrahmen mitnehmen", so Frank Waab. "Sehr wertvoll" lautete Riccarda Marcellis Urteil nach Ende ihres Kurses zur Zeugenvernehmung. Den Luxus, Hintergrundwissen auf diesem in der Praxis so bedeutsamen Gebiet zu sammeln, habe man im Berufsalltag später schließlich nicht mehr. Da stimmen ihr viele Kommilitonen zu: Die 20 angebotenen Plätze werden nämlich nicht nur von jenen Studenten belegt, die eine Karriere als Strafverteidiger oder Staatsanwältin planen. "Wenn beide Parteien den Sachverhalt aus ihrer Sicht schildern, muss jeder Jurist feststellen können, welche die Wahrheit erzählt", sagt Waab dazu. Egal, ob es sich um einen Hausbesitzer handelt, der den fertigen Bau aufgrund eines Mangels nicht abgenommen hat oder um einen Berufsunfähigen, der um seine Rente streitet. Weg vom vorgefertigten Sachverhalt, hin zum kritischen Nachhaken: "Mein Ziel ist es, bei den Studenten das Verständnis für die Tatsachen wecken", sagt Frank Waab. Denn nach dem Examen ist der Sachverhalt nicht mehr so leicht zu ermitteln wie etwa auf dem Papier in der Klausur der Großen Übung. Dann gilt es, nicht nur die einschlägigen Paragraphen zu finden, sondern die Geschehnisse und Aussagen korrekt zu würdigen. Dass ein Gorilla auch im Berufsleben zur Tatsachenfindung beitragen wird, ist jedoch eher unwahrscheinlich.

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