Urteile, die Dissertationen ähneln
Bei vielen Juristen sorgt der Gerichtsstandort Den Haag für Verwirrung. Neben dem Jugoslawien-Tribunal sitzt dort der Internationalen Gerichtshof (IGH) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Wie die miteinander zusammenhängen, bringt Richter Christoph Flügge kurz auf den Punkt: "Es gibt keinen organisatorischen Zusammenhang – es handelt sich um selbstständige Gerichte." Wie der IStGH beschäftigt sich das Jugoslawien-Tribunal mit Völkermord und Kriegsverbrechen – aber ausschließlich mit Delikten, die 1991 und in den Folgejahren während der Balkankriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangen wurden. Außerdem ist das Tribunal wesentlich älter – es wurde bereits 1993 durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates gegründet. "Es war damit Vorreiter für die später etablierten internationalen Strafgerichtshöfe", erklärt Flügge.
Den Haag ist anders als Deutschland
Judge Flügge, wie er hier in Den Haag genannt wird, arbeitet seit vier Jahren am Tribunal. Die Strafjustiz kennt er bereits aus Deutschland – er war unter anderem Richter am Amtsgericht Tiergarten und am Landgericht Berlin, bevor er in die Berliner Justizverwaltung wechselte. 2008 wurde er auf Vorschlag der Bundesregierung vom Generalsekretär der Vereinten Nationen als Richter berufen. Gefragt nach dem Unterschied zur hiesigen Richtertätigkeit hebt er neben der Gerichtssprache vor allem das gänzlich andere Prozessrecht hervor: "Herren über das Gerichtsverfahren sind in gewisser Weise die Anklage und die Verteidigung, nicht so sehr der Richter. Die Parteien benennen ihre Zeugen, befragen sie und präsentieren mit ihnen ihre Darstellung des Falles. Danach kann die Gegenseite Fragen stellen und es kommt zum Kreuzverhör." Und auch sonst ist in Den Haag einiges anders: Zwar werden die Richter bei der Bearbeitung der Fälle durch ein Team von juristischen Mitarbeitern unterstützt. Gleichwohl verbringen sie mehr Zeit im Gerichtssaal als deutsche Richter: "Wir sitzen meist fünf Tage pro Woche im Gerichtssaal", erzählt Flügge. Die Urteile des Tribunals sehen ebenfalls gänzlich anders aus. Sie beginnen mit einem Inhaltsverzeichnis und gleichen auf den ersten Blick Dissertationen. Doch können sie erheblich länger sein. "Manche Urteile sind nach einem mehrjährigen Prozess 500 oder auch 1.000 Seiten lang – darunter seine Unterschrift zu setzen fühlt sich schon anders an."Stichtag 1. Juli 2013
Über 160 Personen wurden angeklagt. Die bereits rechtskräftig Verurteilten sitzen ihre Strafe in einem der Staaten ab, die sich zur Übernahme der Gefangenen bereiterklärt haben. Auch Deutschland hat vier Verurteilte übernommen. "Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass es in Österreich sechs und in Estland zwei waren", sagt der Richter. Das Gros seiner Tätigkeit hat das Jugoslawien-Tribunal allerdings bereits hinter sich – derzeit laufen nur noch Verfahren gegen 31 Angeklagte. Am 31. Dezember 2014 endet formell sein Mandat. "Natürlich werden aber bereits laufende Verfahren wie beispielsweise die gegen Radovan Karadžić oder Ratko Mladić noch abgeschlossen." Ohnehin wird das Tribunal nicht ersatzlos geschlossen. Seine Aufgaben übernimmt der vom UN-Sicherheitsrat gegründete, so genannte Mechanismus für Internationale Strafgerichtshöfe, an dem Christoph Flügge ebenfalls als Richter mitwirken wird. "Der Name ist problematisch", kritisiert er. "Denn es handelt sich bei dem Mechanismus um ein richtiges Gericht." Es wird ab dem 1. Juli 2013 einige Funktionen des Jugoslawien-Tribunals übernehmen. So wird es beispielsweise über nach dem 30. Juni 2013 eingelegte Rechtsmittelgegen Urteile des Jugoslawien-Tribunals entscheiden. Die Funktionen des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, dem "Schwestergericht" des Jugoslawien-Tribunals, hat es bereits übernommen.Mit dem Carlo-Schmid-Programm zum Tribunal
Da das Jugoslawien-Tribunal in wenigen Jahren der Vergangenheit angehören wird, bietet sich für straf- sowie völkerrechtlich interessierte Studenten und Referendare nicht mehr lange die Möglichkeit, den Gerichtshof hautnah mitzuerleben. Flügge beklagt, dass deutsche Praktikanten am Tribunal vergleichsweise unterrepräsentiert seien. "Das Praktikum erweitert den Horizont und steigert darüber hinaus die Berufschancen", wirbt er und muss zugleich zu seinem Bedauern eingestehen, dass es unbezahlt ist. Einen Lösungsvorschlag dafür hat er aber auch: Das Carlo-Schmid-Programm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, das Praktika bei internationalen Organisationen wie dem Jugoslawien-Tribunal fördert. Die Chancen auf finanzielle Unterstützung stehen nicht schlecht: Nach Auskunft des DAAD erhalten von den jährlich rund 450-500 Bewerbern etwa 100 das Stipendium. Gianna Magdalena Schlichte ist eine von Flügges Praktikantinnen. Sie hat Jura in München studiert und nach ihrem ersten Examen einen Master in Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg absolviert. Die Mitarbeit in einem Forschungsprojekt, das sich unter anderem mit der Rezeption des Jugoslawien-Tribunals in Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien beschäftigt, weckte ihr Interesse an der Arbeit am Tribunal. Ihr sechsmonatiges Praktikum finanziert sie tatsächlich durch ein Stipendium des Carlo-Schmid-Programms. Den Bewerbungsprozess hierfür beschreibt sie als anspruchsvoll: "Ich musste eine umfangreiche Bewerbung mit Schriftproben in Deutsch und Englisch einreichen. Es folgte ein Interview mit einer Expertenkommission und eine Gruppendiskussion in Englisch." Sie hinterließ einen guten Eindruck und bekam das Stipendium."Man wird ins kalte Wasser geworfen"
Ihr Einstand beim Tribunal im September war nicht ganz leicht. "Man wird schon ein wenig ins kalte Wasser geworfen", erzählt Schlichte. "Wir erhalten Aufgaben wie sie auch die anderen juristischen Mitarbeiter bekommen. Doch es gibt sehr viel Hilfe und die Arbeitsatmosphäre ist sehr kollegial. So findet man sich sukzessive ein und lernt unglaublich schnell sehr viel Neues." Die Praktikanten der Gerichtskammern nehmen verschiedene Aufgaben wahr. Beispielsweise bearbeiten sie Beweisanträge, führen Recherchen durch oder erstellen Zusammenfassungen über Zeugenaussagen. Auch beobachten sie die Prozesse und erstatten dem Rest des Teams Bericht. Dabei gibt es viel gegenseitige Kontrolle – Entscheidungsentwürfe werden von einem anderen Mitarbeiter und sodann vom gesamten Team gegengelesen, bevor das jeweilige Dokument einem Richter zugeleitet wird."Das Praktikum kann ich weiterempfehlen"
Schlichte hat verhältnismäßig viele Praktikantenkollegen: Von den 20 Mitgliedern des Unterstützerteams für die Kammer, die das Mladić-Verfahren leitet, stellen sie beinahe die Hälfte. Daher gibt es laut Schlichte auch ein gutes Sozialleben mit vielen gemeinsamen Aktivitäten. Wie die meisten anderen der etwa 150 Praktikanten, die jährlich einige Monate am Jugoslawien-Tribunal arbeiten, wohnt sie im Haus ihrer Vermieter. Ihr Zimmer sowie das Bad und die Küche hat sie aber für sich allein. Eine Unterkunft für die Zeit des Praktikums zu finden, ist nicht besonders schwierig - das Tribunal schickt jedem Praktikanten vorab eine Liste mit möglichen Unterkünften. "Das Praktikum kann ich auf jeden Fall weiterempfehlen", resümiert die Juristin. "Es ist sehr spannend zu erleben, wie viele Juristen aus unterschiedlichen Rechtstraditionen und –systemen tagtäglich zusammen an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Dabei wird der juristische Horizont enorm erweitert." Schlichte wird dem Tribunal bis zum kommenden Februar erhalten bleiben. Ihre Nachfolgerin ist schon in den Startlöchern. Ganz zur Freude des Tribunals – denn so lange es arbeitet, kann es die tatkräftige Unterstützung durch die Nachwuchsjuristen gut gebrauchen.Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2013 M01 11
Jurastudium
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