Nationalsozialismus als Thema in der Juristenausbildung

Dem "Unrecht mit Recht" schon im Jura­stu­dium vor­beugen

von Linda PflegerLesedauer: 6 Minuten

Laut dem Richtergesetz muss das NS-Unrecht Thema im Jurastudium sein, viel passiert ist bislang aber nicht. Zur Veröffentlichung des Readers "Unrecht mit Recht" sprachen Experten in Leipzig darüber, wie man das ändern könnte.

"Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden." Dieses 60 Jahre alte Zitat des Juristen Fritz Bauer aus dem Jahre 1964 steht am Anfang des am 15. April 2024 erschienenen Readers "Unrecht mit Recht? – Ein Reader zu Nationalsozialismus und juristischer Ausbildung". Mit diesem Zitat eröffnete Jonathan Schramm vom Forum Justizgeschichte e.V. auch die anlässlich dieses Readers stattfindende Podiumsdiskussion an der Universität Leipzig in der vergangenen Woche.

In dem Reader geht es um das Thema Nationalsozialismus in der juristischen Ausbildung. Laut den Herausgebenden soll das Justizunrecht des 20. Jahrhunderts in der juristischen Ausbildung thematisiert, Kontinuitäten aufgezeigt und für die dahinter liegenden Ideologien der Ungleichheit und Machtstrukturen sensibilisiert werden. "Jurist:innen sollen sich nie wieder als Steigbügelhalter für autoritäre Systeme anbieten, sondern Widerstand leisten, wenn Menschenrechte und Demokratie in Frage gestellt werden", sagt Schramm in seiner Eröffnungsrede. Daher müsse man schauen, wie man dem schon in der juristischen Ausbildung vorbeugen kann.

"Mit zwei Examina kann man ziemlich viel anstellen – im Guten wie im Schlechten", meint auch Jun.-Prof. Dr. Fabian Michl, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und das Recht der Politik, zu Beginn der Veranstaltung. "Wir müssen den gefährlichen Mechanismus verstehen: Die große Mehrheit hat es damals nicht nur akzeptiert, sondern die Einführung der Regelungen sogar begrüßt", verdeutlicht er.

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Änderung im Richtergesetz macht das Thema zur Pflicht

Anlass für das ehrenamtliche Reader-Projekt gab eine Ergänzung im Deutschen Richtergesetz (DRiG). Dieses verankert in seinem § 5a Abs. 2 S. 3, der Details zum Jurastudium regelt, den gesetzlichen Auftrag, das nationalsozialistische Unrecht bereits im Jurastudium zu thematisieren:

"Pflichtfächer sind die Kernbereiche des Bürgerlichen Rechts, des Strafrechts, des Öffentlichen Rechts und des Verfahrensrechts einschließlich der europarechtlichen Bezüge, der rechtswissenschaftlichen Methoden und der philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen; die Vermittlung der Pflichtfächer erfolgt auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur."

Mit Bekanntwerden dieser Regelung, die zum Januar 2022 in Kraft trat, organisierten Mitglieder der „Initiative Palandt umbenannt“ und des Podcasts „Mal nach den Rechten schauen“ im September 2021 eine Veranstaltung zu dieser Neuerung, an der auch ein Vertreter des Landesjustizprüfungsamtes (LJPA) Berlin teilnahm. Anschließend gründete sich mit dem Beitritt weiterer Mitglieder der beiden Organisationen sowie des Forum Justizgeschichte e.V. unter Förderung der Alfred Landecker Foundation der Arbeitskreis „AK Zeitgeschichte und Ausbildung“, der den rund 90-seitigen Reader erarbeitete.

Viel Bedeutung messe man der ergänzten Aufgabe im DRiG bisher nicht zu, die Ministerien und LJPA hätten bisher keine Initiative gezeigt, diesen Auftrag für das Jurastudium umzusetzen, sagt Schramm gegenüber LTO. An einzelnen Unis gebe es zwar schon entsprechende Ringvorlesungen und Seminare, so Schramm. Damit erreiche man allerdings nur die Personen, die ohnehin bereits Interesse an dem Thema zeigen.

NS-Unrecht nicht in Sonderveranstaltungen auslagern

Das Ziel des Readers laut Schramm: eine Anbindung an Normen im Grundstudium, um zu verdeutlichen, wo das NS-Unrecht bis heute seine Spuren hinterlässt. „Eine Auslagerung des Themas, etwa mit Sonderveranstaltungen für Interessierte, ist nicht zielführend. Es muss in die bestehende Lehre inkludiert werden, deshalb knüpfen die Beiträge des Readers an ganz konkrete Normen an“, so Schramm in seiner Eröffnungsrede in Leipzig. Zahlreiche Vorschriften verdeutlichten, dass viele Einfallstore in der Lehre bestünden. Der Reader zeigt dies anhand von 18 Beiträgen zu Normen und ihren Hintergründen aus der NS-Zeit, etwa zur Gestaltung baulicher Anlagen nach § 9 Musterbauordnung, dem anwaltlichen Berufsrecht in § 3 Rechtsdienstleistungsgesetz oder der allseits bekannten Täterschaft-Teilnahme-Regelung des § 25 Strafgesetzbuch.

Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion in Leipzig waren sich dahingehend grundlegend einig: "Beim Unterrichten sollten Normen kontextualisiert, kritisch gewürdigt und in einen größeren Bezugsrahmen gesetzt werden", so etwa Prof. Dr. Katrin Höffler, Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie. Dies könne zum Beispiel durch eine Verbesserung der Methodenausrichtung im Jurastudium erreicht werden. Constantin Meyer zu Allendorf, Jurastudent und Sprecher des Fachschaftsrats, wünschte sich für die Lehre, Urteile aus dem Nationalsozialismus zu analysieren und die Frage zu untersuchen, wie das Recht in der NS-Zeit ausgelegt wurde.

Den Anwesenden war aber gleichzeitig bewusst, dass zusätzliche Inhalte wie diese beim bereits bestehenden Umfang des Examensstoffs eine Herausforderung darstellten. Man wolle die Studierenden nicht (noch mehr) überfordern. Carolin Heinzel, Dokotrandin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Gleichstellungsbeauftragte der Leipziger Juristenfakultät ergänzte, dass entsprechende Änderungen ausgleichend ins bestehende Jurastudium eingeflochten werden müssten, etwa durch eine Reduzierung des Pflichtfachstoffs und die Einführung eines zweiten Grundlagenfachs.

Die Unis haben keine Kapazitäten

Für die Umsetzung der meisten diskutierten Vorschläge fehlten grundsätzlich die Kapazitäten, die Möglichkeiten an der Fakultät selbst seien begrenzt, so Heinzel weiter. Es müssten an höherer Stelle erst einmal bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden, waren sich die Teilnehmenden der Diskussionsrunde einig. Damit seien im Wesentlichen die Landesjustizministerien und LJPA und eingeschränkt auch die Uni-Leitungen angesprochen, erklärt Schramm im Nachgang gegenüber LTO.

Soll das Thema NS-Unrecht ins Jurastudium, wie im DRiG vorgesehen, pflichtgemäß eingebracht werden, geht das also nur mit einer einer Änderung der Ausbildungsstruktur. Dass diese die Studierenden sehr beschäftigt, wird in der sich an die Podiumsdiskussion anschließenden offenen Diskussion deutlich: Es folgten zahlreiche Wortmeldungen zu grundsätzlichen Fragen, etwa des strukturellen Zugangs zum Jurastudium, der Bezahlrepetitorien und der Diskriminierung durch bestimmte Regelungen – etwa dem Usus, vor der mündlichen Prüfung einen Lebenslauf einreichen zu müssen. So wurde klar: Das NS-Unrecht im Jurastudium zu thematisieren, wird zumindest vorerst nur eine von vielen Baustellen in der Juristenausbildung bleiben.

Allein werden es die Lehrenden nicht schaffen

Doch nicht ausschließlich die Politik ist gefragt. Es stehe und falle viel mit den Lehrenden, so Heinzel. Dabei sei es nicht selbstverständlich, dass diese das ganze Wissen vermitteln könnten. Auch Michl gibt zu, mit dem Thema als Lehrender gelegentlich überfordert zu sein. Entsprechende Ausbildungen für Profs und Dozierende könnten erforderlich werden.

Meyer zu Allendorf betonte schließlich, dass man auch auf sich selbst setzen solle. Man finde sehr viel Literatur zu diesem Thema. Wichtig sei es – auch im Hinblick auf die spätere Berufsausübung – eine Haltung einzunehmen und demokratisch und mit Rückgrat auch einmal gegen den Strom schwimmen zu können, so der Sprecher des Leipziger Fachschaftsrats. Dazu könne man sich auch in kleineren Gruppen treffen und Aufsätze zusammen durcharbeiten, ergänzte Höffler.

Studierende haben zu wenig Zeit

Einig waren sich alle, dass mehr Zeit für dieses Thema sinnvoll und notwendig wäre. Studierende wollten das Studium aber möglichst schnell absolvieren, was auch aus unterschiedlichen Gründen sehr verständlich sei, so Michl. Wenn man es sich leisten kann, solle man sich selber etwas weniger Druck machen und sich mehr Zeit nehmen, um aufnahmefähiger für solche Kontexte zu sein, empfiehlt er. Auch sei eine Verlängerung der Zeit für den Freischuss sinnvoll, so Heinzel.

Am grundsätzlichen Interesse für das Thema mangelt es offenbar aber nicht, wie auch Moderatorin Cora Wegemund feststellte. Nahezu jeder Platz des Seminarraums 4.20 in der Universität Leipzig war besetzt, etwa 100 Teilnehmende waren zur Veranstaltung erschienen. Zur ersten Veranstaltung in Berlin waren es genauso viele, erzählt Schramm gegenüber LTO. Der Reader sei in einer Auflage von 10.000 Stück erschienen, bereits über 6.000 Reader seien an verschiedenen Fakultäten verteilt worden und über 300 Einzelbestellungen seien eingegangen.

Der Reader soll den Anfang machen

Dieses Interesse will der im April veröffentlichte Reader weiter fördern. Er soll einen Impuls für Lehrende wie Studierende geben, anstecken und dazu animieren, auch andere mit dem Thema anzustecken, so Wegemund.

"Was heißt es in unserer heutigen Gesellschaft, als Jurist:in Verantwortung zu übernehmen – und was sollte es heißen? Wie reflektiert gehen wir mit unserem methodischen Handwerkszeug um?" Diese Fragen, die Lena Foljanty im Nachwort des Readers aufwirft, betreffen alle.

Wer sich darüber austauschen möchte, hat das nächste Mal am 11. Juni 2024 an der Uni in Bremen bei der nächsten Veranstaltung zu "Unrecht mit Recht" die Möglichkeit dazu. Weitere Termine, etwa in Frankfurt a.M., sind in Planung.

Mitglieder des Arbeitskreises und Herausgebende des Readers sind Nora Auerbach, Viktoria Moissiadis, Jonathan Schramm, Christoph Schuch, John Philipp Thurn und Cora Wegemund. Die digitale Version des Readers steht auf der Webseite der Initiative unter http://www.readerunrechtmitrecht.de zum Download bereit.

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