Juristenausbildung und NS-Unrecht
Wertfreies Subsumieren in der Examensmühle
Kürzlich fragte mich ein Student, ob ich für eine Podiumsdiskussion der Fachschaft Jura zur Verfügung stehe. Thema: Welche Lehren ziehen wir aus dem NS-Unrecht für die heutige Juristenausbildung? "Ja, selbstverständlich", sagte ich. Aber noch als ich es aussprach, fragte ich mich schon: Wieso ich? Ich bin Wirtschaftsrechtler, forsche schwerpunktmäßig zu Fragen des Wettbewerbs. NS-Unrecht ist ja erst einmal ein Thema für Rechtshistoriker und Strafrechtler, die sich über die Rehabilitation von "175ern" Gedanken machen oder über die Abschaffung des § 219a StGB.
Ich erinnerte mich immerhin an einen wettbewerbsrechtlichen Fall, den das Reichsgericht 1936 entschieden hat:
A verkauft Versicherungen und bietet sie dem B an. Als B entgegnet, er sei schon bei der X-Versicherung unter Vertrag, erklärt A ihm, die X-Versicherung investiere vor allem im Ausland statt in Deutschland. Außerdem legt A eine Liste vor, auf der die Vorstandsmitglieder der X-Versicherung namentlich genannt sind. "Fällt Ihnen was auf?", fragt A. B sagt: "Das sind ja alles Juden!" A fragt weiter: "Und da wollen Sie versichert sein?"
Fallfrage: Verstößt das Verhalten des A gegen die guten Sitten im geschäftlichen Verkehr?
Das Reichsgericht entschied den Fall nach dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG). Und wer die Entscheidung heute als Wettbewerbsrechtler liest, fühlt sich erst einmal daheim: Das sieht aus wie ein Urteil heute, da wird fein säuberlich subsumiert.
Erst auf der vorletzten Seite des Abdrucks (in: RGZ 150, 298) taucht der Begriff "jüdische Rasse" etwas unvermittelt auf und verunsichert. Vielleicht hatten sich die Studenten, die mich aufs Podium holten, mehr dabei gedacht, als ich geahnt hatte. Dass es eine UWG-Anwendung vor 1949 gab, ist in Lehrbüchern nicht mehr als eine Fußnote. Dass der spätere UWG-Papst Wolfgang Hefermehl in der NS-Zeit über die "Entjudung der deutschen Wirtschaft" geschrieben hatte – Fehlanzeige in der Vorlesung. Das Wirtschaftsrecht hat seine Unrechtsgeschichte, aber es ist geschichtsvergessen und entpolitisiert.
Das Jurastudium - Rechtstechnik ohne Werte
Das gilt selbst dann, wenn man sich nicht für sein Fach schämen muss. Das von mir geschätzte Kartellrecht ist das antitotalitäre Rechtsgebiet schlechthin. Im Potsdamer Abkommen 1945 wurde auf Drängen der Amerikaner die Dekartellierung der deutschen Wirtschaft verankert. Führergeneigte Machtkonglomerate wie die IG Farben wurden zerschlagen, 1958 trat das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft, das auf freies Unternehmertum und damit auf eine Gegenkraft zum politischen Konformismus setzte. Wenn ich heute Kartellrecht unterrichte, erwähne ich diese politische Motivation des Gesetzgebers allerdings nur noch in einem Nebensatz. Längst legitimieren ökonomische Motive die Regelungen: Das Kartellrecht dient der Effizienzsteigerung in der Wirtschaft. Im allgemeinen Zivilrecht werden die Regelungen gleich als gottgegeben hingenommen, ohne jedes weitere Hinterfragen.
Ich bin in guter Gesellschaft: In Lehrbüchern sind Ausführungen zu Geschichte oder Idee eines Rechtsgebiets oder einzelner Normen die Ausnahme. Meist erschöpfen sich entsprechende Hinweise in einleitenden Worten zu Beginn des Buches, weit entfernt von der Darstellung der Regeln. Der juristische Unterricht an den Universitäten ist in weiten Teilen entpolitisiert und auf Rechtstechnik ohne Werte zusammengeschrumpft. Dass Juristen mit Regeln hantieren, die nicht etwa in einem wissenschaftlichen Labor, sondern in der politischen Arena entwickelt wurden, spielt in der Ausbildung so gut wie keine Rolle.
Ausrichtung aufs Examen lässt die Geschichte vergessen
Grundlagenfächer werden im ersten Semester "abgefrühstückt", sodann werden Jurastudenten nicht weiter mit der Politik des Rechts, mit seinen Auswirkungen oder den großen Fundamentalfragen behelligt. Ein aseptischer Zugriff aufs Recht: Sie machen sich die Hände nicht schmutzig, da sie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Studium nie konfrontiert werden. In der Fallangabe werden Menschen, Unternehmen und Umstände auf "A" und "die B-GmbH" abstrahiert. Das hat durchaus Vorteile. Doch die Kosten dieser Abstraktion sind aus dem Blick geraten.
Es würde mich nicht wundern, wenn Studenten wie Dozenten an den Versicherungsfall aus der Reichsgerichtsrechtsprechung herangingen wie an jeden anderen Sachverhalt auch: Subsumieren Sie bitte unter die Norm, kommen Sie am Ende zu irgendeinem Ergebnis. Alles vertretbar, Hauptsache, es ist sauber argumentiert. Vielleicht würde bei dem Wort "Juden" der eine oder andere doch hellhörig werden. Aber wenn der Sachverhalt nur eine kleine Abwandlung erführe, zum Beispiel die aktuelle Stimmungsmache gegen chinesische Investoren aufgegriffen würde, wäre ich mir sicher, dass Examenskandidaten mal so und mal so entschieden, dabei aber nie die Folgen ihres Tuns erahnten. Ich glaube, dass das wertfreie Subsumieren immer besser funktioniert, je weiter wir die Studenten Richtung Examensmühle gedrillt haben.
"Wann sind Sie denn in Ihrem Studium einmal mit NS-Unrecht konfrontiert worden?", fragte ein Student mich bei der Podiumsdiskussion. Ein einziges Mal. Das war im rechtsvergleichenden Arbeitskreis bei Professor Gert Reinhart an der Heidelberger Universität. Hätte ich diesen Arbeitskreis nicht besucht, wäre ich in den 1990er Jahren durch das Jurastudium gekommen, ohne auch nur ein einziges Mal über die Pervertierung von Recht nachzudenken. Das ist heute nicht anders. Der Bezugspunkt muss dabei gar nicht das NS-Unrecht sein. Aber es kann nicht sein, dass heutige Absolventen in einem wissenschaftlichen Studium nicht ein einziges Mal damit konfrontiert werden, wie Recht zu Unrecht werden kann.
Politik im Jurastudium?
Doch was ließe sich in der Ausbildung ändern? Grundlagenfächer stärken, Besinnungsaufsätze im Examen, rechtshistorische Zusatzfragen in Klausuren? Das sind Forderungen, die mindestens so viele Probleme aufwerfen wie sie lösen. Während ich über diese Frage nachdachte, nagte ein anderer Gedanke an mir: Als Professor bin ich zur politischen Neutralität verpflichtet – und zwar völlig zu Recht. Darf ich überhaupt den Hörern meiner Vorlesungen überhaupt politische Wertungen nahebringen? Und will ich dann auch, dass das andere Lehrende ebenso tun – egal, wo sie politisch stehen?
Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Selbstfindung. In § 60 des Bundesbeamtengesetzes heißt es: "Beamtinnen und Beamte müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten." Das Eintreten für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – ist also Pflicht.
Gerade das Rechtsstaatsprinzip ist die DNA aller juristischen Tätigkeit, aber entschlüsselt wird sie bestenfalls einmal in der Staatsrechtsvorlesung zu Beginn des Studiums. Das greift zu kurz. Kaum einmal wird der Zusammenhang hergestellt zwischen den notwendig subjektiven Entscheidungen einzelner Richter und der rechtsstaatlichen Absicherung ihrer Entscheidungsfindung durch Verfahrensrechte, Beschwerdemöglichkeiten oder Gewaltenteilung. Wenn ich an eine Klausurlösung schreibe, die Auffassung sei "vertretbar", so müsste es vollständig heißen: "Vertretbar, sofern Sie diese Auffassung in einem unparteilich geführten Verfahren nach Anhörung der Parteien mit Objektivität in Ihrer Amtsführung gefunden haben." Das aber steht in keiner Klausur am Rand.
Der verletzte Rechtsstaat
In Staaten, in denen die freiheitlich-demokratische Grundordnung erodiert, ist es das Rechtsstaatsprinzip, das zuerst ausgehebelt wird. Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips gibt es auch in Deutschland, etwa wenn eine Stadtverwaltung wie in Wetzlar sich nicht an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts hält, oder der Bayerische Verwaltungsgerichtshof Zwangsgelder gegen die Staatsregierung verhängen muss, weil diese sich weigert, einen Luftreinhalteplan vorzulegen. In Frage gestellt wird der Rechtsstaat auch von privater Seite, etwa wenn Anwälte – Organe der Rechtspflege – bei Cum-ex-Geschäften beraten oder Unternehmen, so etwa Fahrdienstleister Uber, erklären, sie wollten einstweilige Verfügungen ignorieren.
Sicher: Der Bogen ist weit gezogen von einem Reichsgerichtsurteil aus dem Jahr 1936 bis zu den aktuellen Respektlosigkeiten gegenüber dem Rechtsstaat. Doch es fehlen uns nun eben auch die Zeitzeugen, die noch wissen, wie schnell aus tüchtigen Assessoren "furchtbare Juristen" werden. Professor Reinhart, der mich als Lehrer beeindruckte, starb 2007.
Solange die große Lösung, etwa die Stärkung der Grundlagenfächer, auf sich warten lässt, nehme ich mir für meine Vorlesungen drei Dinge vor:
Die politischen Wertungen hinter den scheinbar so abstrakten, ja beinahe unschuldigen Normen werde ich stärker in den Fokus rücken. Das schließt gesellschaftliche Hintergründe, ökonomische Bezüge und praktische Auswirkungen ein.
Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Demokratie gehören in jede Vorlesung, nicht nur ins Staatsrecht. Sie prägen jedes Rechtsgebiet und müssen daher beispielsweise auch im Sachenrecht, im Handelsrecht oder im Baurecht unterrichtet werden.
Besucher meiner Veranstaltungen werden künftig mindestens ein Urteil lesen, mit dem sich die Gefahren aseptischer Rechtsfindung diskutieren lassen. Wer sich im Reichsgerichtsrat selbst erkennt, versteht vielleicht, worum es in diesem Studium eigentlich geht: Recht und Unrecht.
Der Autor Prof. Dr. Rupprecht Podszun ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er wurde 2016 mit dem Ars-Legendi-Fakultätenpreis Rechtswissenschaften ausgezeichnet.
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2018 M05 26
Thema:
Studium
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