Ist die verpflichtende Nachklausur rechtens?
Pannen in juristischen Examensprüfungen gibt es immer wieder. Ein Vorfall während einer Aufsichtsarbeit in Baden-Württemberg sorgt nun aber für besonders viel Aufregung. Denn die vom Landesjustizministerium angekündigten Konsequenzen sind hart: 871 Jurastudierende des aktuellen Durchgangs sollen verpflichtend noch einmal die Klausur im Strafrecht wiederholen, die sie bereits Anfang März hinter sich gebracht haben.
Auf LTO-Anfrage bestätigte das Landesjustizministerium den Ablauf der Ereignisse, wie ihn Betroffene in den sozialen Medien und zahlreichen Zuschriften an LTO schilderten – aber es teilt auch neue Details mit. So sind am 1. März in Konstanz während einer der Klausuren im Öffentlichen Recht aus Versehen die Sachverhalte für die Klausur im Strafrecht ausgeteilt worden, die erst am 4. März geschrieben wurde. Da die Klausuraufsicht den Fehler noch vor Beginn der Bearbeitungszeit und damit vor dem Umdrehen der Sachverhaltszettel bemerkt hatte, konnte sie die Strafrechtssachverhalte wieder einsammeln und die richtigen Aufgabenstellungen austeilen.
Der Vorfall in Konstanz ist dem Landesjustizprüfungsamt in Stuttgart gemeldet worden mit dem Hinweis, dass sämtliche Sachverhalte der zunächst falsch ausgeteilten Strafrechtsklausur wieder eingesammelt worden seien. Das Amt sah laut einem Ministeriumssprecher damit keinen Grund, eine alternative Strafrechtsklausur am 4. März zu stellen, wie es Studierende des Prüfungsdurchgangs nach Bekanntwerden des Vorfalls gefordert hatten.
Ministerium fragt nach "externem Hinweis" erneut in Konstanz nach
Dann aber, so das Ministerium weiter zu LTO, habe es am 10. März einen "externen Hinweis" durch einen "Dritten" gegeben. Der Hinweisgeber habe behauptet, dass ein Prüfling die Sachverhaltsverwechslung in Konstanz sehr wohl bemerkt und dieser daraufhin die Klausuraufsicht informiert habe. Das Landesjustizprüfungsamt hielt den Hinweis für glaubwürdig, weil er aus einem anderen Klausurstandort Baden-Württembergs kam, "sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Inhalte aus der Klausur unter Kandidatinnen und Kandidaten bekannt wurden", so der Ministeriurmssprecher weiter.
Das Landesjustizprüfungsamt hakte daraufhin noch einmal in Konstanz nach. In einer erneuten Stellungnahme räumte man dort nun ein, "dass beim Einsammeln der Sachverhalte zunächst ein Exemplar gefehlt habe, welches der Aufsicht erst einige Minuten später durch einen Prüfling übergeben worden sei. Zu diesem Zeitpunkt hatte die offizielle Bearbeitungszeit bereits begonnen und die Prüflinge hatten die Sachverhalte umgedreht", bestätigte das Ministerium gegenüber LTO. Dass der Ablauf sich so dargestellt habe, sei dem Ministerium "erstmals" auf seine besondere Nachfrage nach dem Hinweis hin bekannt geworden, betonte der Sprecher.
So kam es zu der misslichen Situation: Das Ministerium ordnete am Montag an, dass die Prüflinge die Strafrechtsklausur noch einmal wiederholen müssen, weil nicht auszuschließen sei, dass Informationen über den Inhalt der Klausur - in welcher Form auch immer - durchgedrungen und gestreut worden sind; und zwar nicht nur unter den Konstanzer Prüflingen, sondern auch an anderen Klausurstandorten Baden-Württembergs. "Eine andere Möglichkeit, die Chancengleichheit wieder herzustellen, besteht aus Sicht des Landesjustizprüfungsamts daher nicht. Insbesondere die nun von einigen Kandidaten erbetene Wahlmöglichkeit, ob die bereits geschriebene Klausur gelten soll oder das Ergebnis der Nachklausur, ist aus Sicht des Landesjustizprüfungsamts leider nicht geeignet, die Chancengleichheit wieder herzustellen", schreibt das Ministerium auf LTO-Anfrage.
Prüfungsrechtler: Warum nicht ein abgewandeltes Wahlrecht anbieten?
Eine verpflichtende Nachklausur für alle, keine Alternativen – so sieht es das Landesjustizprüfungsamt Baden-Württembergs. Für Dr. Arne-Patrik Heinze dagegen ist die Rechtslage lange nicht so klar. Der mit seiner gleichnamigen Kanzlei unter anderem auf das Prüfungsrecht spezialisierte Anwalt erläutert: "Die Wiederholung der Klausur ist im Rahmen der Prüfungsanfechtung angreifbar. Das Prüfungsamt müsste dann einen Anscheinsbeweis erbringen, dass bei der fehlerhaften Ausgabe der Sachverhalte tatsächlich Aufgabenstellungen nicht zurückgegeben wurden. Ohne einen solchen Anscheinsbeweis wäre die Entscheidung, die Klausur pauschal wiederholen zu lassen, tendenziell rechtswidrig."
Davon unabhängig sieht Heinze aber noch eine andere mögliche Lösung der Situation, nämlich ein etwas abgewandeltes Wahlrecht für die Betroffenen als das, um das diese nach Angaben des Ministeriums bereits gebeten hatten. Danach könnten die Prüflinge selbst entscheiden, ob sie die Klausur freiwillig wiederholen oder die Durchschnittsnote des staatlichen Examensteils ohne die Strafrechtsklausur berechnen lassen möchten. "So wird es von einigen Gerichten – vertretbar - beim Abhandenkommen bereits angefertigter Klausuren gesehen", so Heinze. "Die pauschale Wiederholung der Klausur ohne die Erwägung dieses milderen Mittels halte ich für verfassungswidrig", schätzt der Jurist den Vorfall in Baden-Württemberg ein.
Eine trübere Perspektive für die Betroffenen sieht Christian Reckling von der Kanzlei Schloemer & Sperl. "Letztlich dürfte das Handeln des Prüfungsamtes wohl zulässig sein. Ein möglicher Vorteil für Prüflinge, die den Sachverhalt gekannt haben könnten, dürfte nämlich im Baden-Württemberger Fall nicht sicher auszuschließen sein", so der Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Das schlage sich dann spätestens im Bewertungsverfahren nieder, da sich der Bewertungsmaßstab verzerre, wenn ein Teil der Prüflinge den Sacherhalt vorher kannte. "Der Grundsatz der Chancengleichheit gilt leider auch dann, wenn das Verschulden auf Seiten des Prüfungsamtes liegt."
Auf die konkrete Frage, welche Konsequenzen das Ministerium aus dem Fall zieht, war bis zum Erscheinen dieses Artikels keine Antwort zu erhalten. Die Nachklausur ist für Mitte April geplant.
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2021 M03 17
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