Kanzleigründung ist kaum ein Thema
"Erstmal die beiden Examen schaffen – danach kann ich mir immer noch überlegen, was ich eigentlich mit meinem Assessor-Abschluss machen will." So denken viele während der Juristenausbildung und konzentrieren sich voll aufs Lernen und gute Noten. Mit dieser Haltung verlieren sie jedoch viel Zeit. Nicht jeder schafft ein oder sogar zwei Prädikatsexamen und hat damit die Wahl, in einer Großkanzlei oder als Richter zu arbeiten. Wer sich bis dahin noch nie über mögliche Alternativen informiert hat, verpasst womöglich gute Chancen – zum Beispiel die auf eine Selbstständigkeit.
"Die Existenzgründung als Anwalt wird in den Hochschulen in der Regel nicht thematisiert", bedauert Prof. Dr. Matthias Kilian, Direktor des Soldan Instituts und Dozent für Zivilrecht, Wirtschaftsrecht, Verfahrensrecht und Anwaltsrecht an der Universität zu Köln. "Durch die starke Präsenz der Großkanzleien an den Hochschulen entsteht der Eindruck, die meisten Absolventen würden später in einer großen Kanzlei einsteigen – das tun aber nur die wenigsten."
Ist Selbstständigkeit eine Alternative? Eine eigene Kanzlei zu gründen, sei wirtschaftlicher Selbstmord, lautet eines der Mantras, die unter Jurastudierenden die Runde machen. "Das mag für Wald- und Wiesenanwälte, die Standarddienstleistungen anbieten, zutreffen", sagt Benyamin Tanis. "Es kommt also darauf an, sich ein Alleinstellungsmerkmal zu suchen." Tanis hat sich direkt nach seinem Zweiten Staatsexamen 2014 mit einer Fachkanzlei für Wassersport selbstständig gemacht hat. Mittlerweile beschäftigt er in dieser Nische ein fünfköpfiges Team. Außerdem ist er Dozent des Schlüsselqualifikationskurses "Existenzgründung als Anwalt" an der Universität Kiel. Die schleswig-holsteinische Universität ist bislang die einzige in Deutschland, die dieses Thema ihren Studierenden als Schlüsselqualifikation anbietet. Das Interesse an dem Kurs ist groß, die Veranstaltungen sind regelmäßig voll.
"Wirtschaftlich sinnvoll ist es, wenn es um hohe Streitwerte geht"
"Ich überlege gemeinsam mit meinen Studenten, in welchen Nischen sie sich selbstständig machen könnten", erklärt Tanis. "Wirtschaftlich sinnvoll ist es, wenn es inhaltlich um hohe Streitwerte geht."
Die Weichen für eine Spezialisierung kann man schon früh stellen. Dann lässt sich schon vor dem Examen viel Expertise sammeln, die später als Anwältin oder Anwalt sehr wertvoll ist. Tanis hat im Studium als Segellehrer gearbeitet und Leute, die eine Yacht kaufen wollten, juristisch beraten. Außerdem hat er regelmäßig für ein Segelmagazin Rechtsbeiträge geschrieben. Die Gründung einer Kanzlei für Wassersport bot sich also nach dem Referendariat regelrecht an.
Laut Kilian hat Tanis damit alles richtig gemacht. "Mit hoher fachlicher Expertise kann man es schaffen, erfolgreich eine Nische zu besetzen", sagt der Professor. Welche Nischen geeignet sind, könne man unter anderem dadurch herausfinden, indem man sich die Altersstruktur der einzelnen Fachanwälte anschaut. "Manche Fachanwaltschaften sind sehr überaltert – hier wird es in Zukunft einen hohen Bedarf an jungen Anwälten geben", so ein Tipp von Kilian.
Mandantenbetreuung und Unternehmertum gehören auch dazu
Das Fachliche ist jedoch nur ein Aspekt bei der Selbstständigkeit – das andere sind der Umgang mit Mandanten und alle unternehmerischen Aufgaben. Auch dies sind keine Themen an den Universitäten. Um die Praxis des Anwaltsberufs kennenzulernen, empfiehlt Kilian, ausbildungsbegleitend so viel wie möglich in Kanzleien zu arbeiten. "Wer nur das Pflichtpraktikum macht und während der Anwaltsstation taucht, wird wenig wissen, was die Arbeit mit Mandanten ausmacht."
Tanis erklärt seinen Studenten unternehmerische Details, zum Beispiel wie sie ein Gründungskonzept ausarbeiten: Welche Ausgaben und Einnahmen sind zu erwarten? Wer soll meine Zielgruppe sein? Wie erreiche ich diese? Solch ein Gründungskonzept in Form eines Businessplans ist auch notwendig, um Gründungszuschüsse der Bundesagentur für Arbeit zu erhalten.
Sich vernetzen: "In jedem Landgerichtsbezirk gibt es Stammtische"
Mit solch einem Zuschuss hielt sich auch Ruth Nobel in den ersten Monaten über Wasser, nachdem sie sich direkt nach dem Zweiten Examen als Rechtsanwältin selbstständig gemacht hatte. Mittlerweile ist sie Notarin und Fachanwältin für Familienrecht und Sozialrecht. Bereits zu Beginn ihrer Selbständigkeit hat sie die theoretischen Kurse zu den entsprechenden Fachanwaltschaften absolviert – was auch kostengünstiger ist als später im Beruf. "Ich wusste schon zu Beginn des Studiums, dass ich mich so schnell wie möglich selbstständig machen wollte – und darauf habe ich hingearbeitet“, betont Nobel. Einmal in der Woche hat sie als studentische, später als wissenschaftliche Hilfskraft in einer kleinen Kanzlei gearbeitet. „Das lenkt den Blick in die richtige Richtung."
Geholfen hat ihr auch die Mitgliedschaft im Deutschen Anwaltverein (DAV) und hier speziell in der Arbeitsgemeinschaft Forum Junge Anwaltschaft, deren Vorsitzende sie heute ist. "In jedem Landgerichtsbezirk gibt es Stammtische, auf denen man sich unter anderem zum Thema Existenzgründung austauschen kann. Das war für mich am Anfang enorm hilfreich." Schon Referendare können Mitglied im Forum Junge Anwaltschaft werden und an den Stammtischen sowie an den Veranstaltungen "Start in den Anwaltsberuf" teilnehmen. Aus ihrer Tätigkeit in der Referendarausbildung weiß Nobel, dass die meisten erst einmal abwarten wollen, wie ihr Examen ausfällt. "Dabei ist es viel sinnvoller, sich schon früh ein Netzwerk aufzubauen statt damit bis zum Abschluss zu warten." Dank ihres Netzwerks ist die Anwältin heute zum Beispiel in einer Bürogemeinschaft mit der Kanzlei, in der sie als Studentin gearbeitet hat.
Jedem, der glaubt, als selbstständiger Anwalt zu bestehen, würde Nobel zu diesem Schritt raten. Aus Verlegenheit zu gründen, etwa weil die Noten zu schlecht für das Richteramt oder die Großkanzlei sind, hält sie hingegen nur für weniger sinnvoll. "Man muss es schon aus Überzeugung tun." Das sieht auch Tanis so: "Es ist gut, sich früh über seine berufliche Zukunft Gedanken zu machen und sie selbst in die Hand zu nehmen. Am besten schon, sobald klar ist, dass man kein Prädikatsexamen schaffen wird. Und das weiß man, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, meist schon nach wenigen Semestern."
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2021 M05 15
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