Vier gewinnt nicht
Gerade einmal vier Punkte braucht man in juristischen Prüfungen zum Bestehen. Das klingt wirklich nicht nach viel, immerhin liegt die Obergrenze der Notenskala bei 18; es sind also nicht einmal 25 Prozent der theoretisch möglichen Bestleistung nötig, um durchzukommen. Es verwundert schon ein wenig, dass ein Fach, dessen Abgänger später einmal recht verantwortungsvolle Positionen und Ämter bekleiden sollen, die Latte so niedrig hängt – wer zu Schulzeiten im Schnitt vier Punkte (entsprechend einer 4 Minus) erreichte, der blieb schließlich sitzen - und dabei lag das Maximum sogar bloß bei 15 Punkten. Ist Jura also wirklich kindisch einfach, machen die Studierenden zu Unrecht ein solches Buhei um ihre Examina? Keineswegs, denn die Maßstäbe der Gymnasien oder anderer Studiengänge an die Benotung im Jurastudium anzulegen, hieße mit zweierlei Maß zu messen. Tatsächlich ist die Notenvergabe in Jura um ein Vielfaches strenger als in jedem anderen Fach; eine historische Tradition, deren ursprüngliche Gründe umstritten sind, die sich aber längst als Norm etabliert hat und allen Reformbestrebungen standhält. So müssen sich die meisten Abiturienten zum Studienbeginn auf einige herbe Enttäuschungen einstellen; für den Klassenprimus, der seine Erstsemesterklausuren mit siegessicherem Lächeln abgibt, sind die Zeiten der "guts" und "sehr guts" vorbei, und auch für das "voll befriedigend" wird er kämpfen müssen.
Andere Maßstäbe
Tatsächlich gelten die obersten drei Punktwerte - 16, 17 und 18 - in Jura als praktisch unerreichbar. In Bayern etwa schloss eine Studentin namens Sonja Pelikan im Jahr 2004 ihr erstes Examen mit einem Schnitt von 16,08 Punkten ab und erzielte damit das beste Ergebnis der letzten 21 Jahre im Freistaat. Immerhin: Ein "sehr gut" hat man im Examen bereits ab 14 Punkten, da die Zuordnung von Punktzahl zu Notenbezeichnung hier nach einem anderen Schlüssel erfolgt als bei den einzelnen Klausuren. Das ändert allerdings nichts daran, dass durchschnittlich weniger als 1 Prozent aller Absolventen es in diesen Bereich schaffen. Und auch mit den "guten" Examina (11,5-13,99 Punkte) gehen die Prüfungsämter nicht gerade verschwenderisch um: Im Schnitt erreichen 2-3 Prozent diese Werte. Überaus zufrieden kann daher sein, wer mit 9-11,49 Punkten ein "vollbefriedigend" landet und damit zu den obersten ca. 15 Prozent jedes Jahrgangs zählt. Das Gros der Studenten muss sich hingegen mit einem "befriedigend" (6,5-8,99 Punkte; erreicht von ca. 20-30 Prozent) oder einem "ausreichend" (4-6,49 Punkte; erreicht von ca. 35-40 Prozent) zufrieden geben. Insbesondere letzteres gilt angesichts eines mit Juristen übersättigten Arbeitsmarktes zwar als Garant für einen Job mit den Gehaltschancen einer besseren Putzfrau.Nicht nur streng, sondern alles entscheidend
Die ca. 25-30 Prozent der Kandidaten, die im ersten Anlauf das Examen erst gar nicht nicht bestehen, wären für ein entsprechendes Ergebnis sicher dennoch dankbar. Im zweiten Anlauf fallen zwar nur noch knappe zehn Prozent durchs Examen. Zum einen lässt diese Zahl aber jene außer Betracht, die sich aus Angst, Frustration, Burn-Out etc. gar nicht erst zum zweiten Versuch anmelden. Zum anderen sind zehn Prozent noch immer eine stattliche Zahl, wenn man bedenkt, dass diese (ehemaligen) Studenten nun über fünf Jahre vollkommen sinnlos vertan haben: Sie haben keinerlei Abschluss und sind nach zweimaligem Nichtbestehen für das Examen gesperrt - im gesamten Bundesgebiet und auf alle Zeit. Angesichts dieser Werte dürfte schnell klar sein, dass es mit den vermeintlich laxen Kriterien in Jura nicht weit her ist und sich auch hinter einem popelig klingenden "ausreichend" jede Menge Blut, Schweiß und Tränen verbergen können. Doch nicht nur durch ihre Strenge, sondern auch durch ihre Bedeutung unterscheidet sich die juristische Notenvergabe von der anderer Fächer. Natürlich steigen und sinken die Gehaltserwartungen auch unter Physikern, Psychologen und Germanisten mit ihren Noten, aber schlechte Ergebnisse lassen sich dort zum Beispiel durch Zusatzqualifikationen, Praktika, etc. weitaus besser kompensieren. Mit den Jahren rückt die Relevanz der eigenen Abschlussnote zudem immer stärker in den Hintergrund, der eigene Platz in der Nahrungskette des Arbeitsmarktes wird immer mehr durch die im Beruf errungenen Verdienste bestimmt.Einmal unten, immer unten
Nicht so bei Jura: Die Noten des ersten und zweiten Examens ergeben gemeinsam die magische Zahl, anhand derer der fertige Jurist in ein festgefahrenes Kastensystem späterer Over- und Underachiever eingeordnet wird. Wer zwei "vollbefriedigend" oder besser hat, dem ist ein hohes fünfstelliges Einstiegsgehalt garantiert; kommt noch ein Doktortitel oder LL.M. dazu, winken auch im ersten Jahr schon sechsstellige Summen. Unterhalb der Neun-Punkte-Grenze kommt man jedoch nur in Ausnahmefällen und unterhalb von acht Punkten schon überhaupt nicht mehr bei einer der renommierten Großkanzleien unter. Auch ein Hocharbeiten ist nur begrenzt möglich – durch mehrjähriges Ackern in einer kleinen oder mittelständischen Kanzlei wird der Bewerber für die Big Player im Anwaltsgeschäft nicht unbedingt interessanter; diese decken ihren überschaubaren Personalbedarf weiterhin lieber bei den Top-Absolventen des aktuellen Jahrgangs. Die Horden der "befriedigenden" und "ausreichenden" Juristen rotten sich also überwiegend in kleineren Anwaltsklitschen zusammen, in denen sie zwar etwas humanere Arbeitszeiten genießen als die Associates der Großkanzleien (das heißt ca. 45 bis 50 statt 60 bis 80 Stunden pro Woche), dafür aber nur einen Bruchteil des Gehalts verdienen: Als Einsteiger – das heißt mit Ende 20 - im Durchschnitt 35.000 Euro jährlich, wobei durchaus Gehälter von 20.000 oder weniger vorkommen. Auch abseits des Anwaltsberufes setzen sich die Grenzmauern des juristischen Ständesystems erbarmungslos fort: Nominell hat zwar jeder examinierte Jurist die "Befähigung zum Richteramt", de facto ist Voraussetzung für eine Erhebung in eben dieses Amt in vielen Bundesländern aber was? Genau: Zweimal vollbefriedigend im Examen. Wer schließlich hofft, gleich an der Universität zu bleiben, eine Dissertation zu schreiben und sich der juristischen Lehre zu widmen, dem steht die gleiche Enttäuschung ins Haus, denn die Promotionsordnungen der allermeisten Fakultäten setzen mindestens ein "vollbefriedigendes" Examen voraus. Kurzum: Sowohl die berufliche Perspektive als auch akademische Weiterbildungsmöglichkeiten und Chancen auf den Staatsdienst werden durch die Examensnote nicht bloß beeinflusst, sondern in Stein gemeißelt - eine in dieser Radikalität wohl einmalige Situation.Nervenzusammenbrüche und der Schwerpunktbereich
In Anbetracht des strengen Benotungsmaßstabes einerseits und der Bedeutung der Abschlussnote andererseits kann es kaum verwundern, dass viele Juristen mit weichen Knien ins Examen gehen. Die innere Anspannung wird dadurch verschärft, dass die Entscheidung über die eigene berufliche Zukunft sich - vom Schwerpunktbereich einmal abgesehen - auf 6 Klausuren und eine mündliche Prüfung verdichtet. Die gesamten während des Studiums erbrachten Leistungen sind nun völlig bedeutungslos. Sie finden in die Examensnote keinen Eingang, sind den Korrektoren nicht einmal bekannt. Nun gilt es, das aufgestaute Wissen der letzten vier Jahre im Zeitraffer abzuspielen: Sechs Klausuren und eine mündliche Prüfung - das sind insgesamt ca. 35 Stunden, an denen sich die ungefähr 35.000 Stunden (= vier Jahre) des Studiums messen lassen müssen. Für viele werden sie zur Zerreißprobe: Nervenzusammenbrüche und Heulkrämpfe auf den Toiletten der Prüfungsämter sind keine Seltenheit. Natürlich gibt es zahlreiche kritische Stimmen sowohl gegenüber dem Maßstab der Benotung als auch der geringen Zahl von Prüfungsleistungen. Diese haben in den letzten Jahren insofern Erfolg gehabt, als mittlerweile der universitäre, einjährige Schwerpunktbereich zu 30 Prozent ins Examen eingeht. Ob man den Studenten damit allerdings wirklich einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden: Der Schwerpunktbereich fließt zwar in die Examensnote ein, wird aber auch separat von dem im staatlichen Prüfungsverfahren erzielten Ergebnis ausgewiesen.Never change a running system?
Da die Benotung in den Schwerpunktbereichen extrem uneinheitlich ist (an manchen Universitäten sind 9 Punkte auf einmal die schlechteste vergebene Zensur, an anderen wird der traditionell strenge Bewertungsmaßstab weiter beibehalten), werden die dort erzielten Ergebnisse von vielen Personalabteilungen schlechthin ignoriert. Für sie zählt heute nicht mehr die Examensnote, sondern die Note im staatlichen Teil des Examens, weil hier - wenigstens halbwegs – die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet ist. Da aber seit der Einführung der Schwerpunktbereiche die im staatlichen Teil zu erbringenden Prüfungsleistungen reduziert wurden (früher schrieb man sieben Klausuren und hatte zusätzlich zur mündlichen Prüfung noch eine Hausarbeit anzufertigen), ist die relative Bedeutung der einzelnen Prüfungsleistungen sogar noch gestiegen. Bei aller unterschwelligen wie auch ausdrücklichen Kritik an der deutschen Juristenausbildung sollte eines nicht unerwähnt bleiben: Sie gilt gemeinhin als eine der besten der Welt. Deutsche Juristen genießen international hohes Ansehen und haben bei entsprechenden Zusatzkenntnissen und deutschem Bezug relativ gute Chancen, im Ausland angestellt zu werden. Nennenswerte Änderungen im System der juristischen Ausbildung hätten sich im Zuge des Bologna-Prozesses ergeben können, der an sich eine Umstellung sämtlicher Studiengänge auf das Bachelor-/Mastersystem vorsieht. Das Jurastudium erwies sich jedoch in diesem Punkt als reformresistent; verschiedene Modelle zur Übertragung der Einheits-Abschlüsse wurden zwar heiß diskutiert, kamen aber nie in die Nähe einer praktischen Umsetzung. Mehr auf LTO.de: Special Anwaltstag: Als Jurist im Ausland: Adieu deutsche Hybris, bonjour große weite Welt! Recherche im Jurastudium: Bessere Noten mit besseren Suchmaschinen-Strategien Juristenausbildung: Jeder Fünfte macht in NRW ein PrädikatsexamenAuf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2011 M06 9
Jurastudium
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