Juristische Vorlesung im Inverted Classroom

Warum noch zurück in den Hör­saal?

Gastkommentar von Dr. Hanjo HamannLesedauer: 7 Minuten

Viele Lehrende und Studierende leiden unter den Bedingungen der Online-Lehre. Dabei ermöglicht sie ganz neue Lehrformate, meint Hanjo Hamann, der bessere Lernumgebungen als den Hörsaal kennengelernt hat.

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Ich gehöre wohl zu den wenigen juristisch Lehrenden, die sich nicht zurück in den Präsenzhörsaal sehnen. In einem lesenswerten LTO-Beitrag beschrieb Stephan Klawitter den melancholischen "Wunsch nach einer Rückkehr in die alten Zeiten", der auch in meinem Umfeld immer wieder laut wird. Klawitter meint, dass Online-Lehre nur "bestehende didaktische Missstände zusätzlich verstärkt", und er diagnostiziert "strukturellen Reformbedarf". Ich würde noch viel weiter gehen.

In den vergangenen Semesterferien durfte ich meine didaktischen Fortbildungen am neu eingeweihten Dahlem Center for Academic Teaching (DCAT) der Freien Universität Berlin absolvieren. Der Tenor war derselbe wie in jeder didaktischen Fortbildung dieser Tage: Aktivieren Sie die Studierenden, vermeiden Sie Frontallehre. Zum ersten Mal erhielt ich aber auch das methodische und theoretische Rüstzeug dazu – und es hat meine Perspektive auf juristische Lehre tiefgreifend verändert.

Frontallehre erzeugt eine gefährliche Illusion

Klawitter weist in seinem Text auf "gefestigte Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Lernpsychologie" zur Ineffizienz von Vorlesungen hin. In der Tat belegen inzwischen Hunderte von Studien, dass Frontalvorlesungen geringeren Lernerfolg zeitigen als die sogenannte aktivierende Lehre, die nicht nur einzelne Teilnehmende zur Mitarbeit animiert – wie selbst die beste sokratische Vorlesung –, sondern möglichst alle Teilnehmenden. Was das bringt, zeigt eine vielbeachtete und tausendfach zitierte Metastudie, die Daten von etwa 100.000 Studierenden aus 225 Evaluationsstudien zusammenführte. Dabei kam heraus, dass Studierende nach Frontalveranstaltungen (gleich welcher Größe) anderthalb Mal so wahrscheinlich durch Prüfungen fallen wie nach aktivierenden Lehrformaten.

Die Prüfungsleistung nach aktivierender Lehre hingegen fiel um 0,47 Standardabweichungen besser aus – umgerechnet aufs Berliner Zivilrechtsexamen 2020 entspricht das 1,63 Notenpunkten. Das Fazit der Forscher: Wären Frontallehre und aktivierende Lehre Medikamente in Erprobung, verböten es die anerkannten ethischen Standards der Medizin, heute noch die Vorlesung zu verschreiben.

Diese Studie ist sieben Jahre alt - und doch hält sich die Frontallehre hartnäckig, nicht nur in der Rechtswissenschaft. Wie kann das sein? Dieser Frage ging 2019 ein anderes Forscherteam nach. In einem Vergleichsexperiment unterrichteten sie denselben Stoff jeweils einigen Studierenden frontal und anderen interaktiv. Anschließend verglichen sie die Prüfungsleistungen und Wahrnehmungen der Studierenden. Das Resultat war deutlich: In den Veranstaltungsteilen, die Studierende interaktiv absolviert hatten, schnitten sie in der Prüfung wiederum exakt 0,46 Standardabweichungen besser ab.

Die gefühlte Wahrheit lautete jedoch genau umgekehrt: Die Studierenden waren mit der Frontallehre zufriedener, hatten das Gefühl, mehr zu lernen, und wollten weiterhin so unterrichtet werden. Genau da liegt die Krux: Frontallehre wiegt Studierende in trügerischer Gewissheit. Und stellt damit Lehrende vor die entscheidende Gewissensfrage: Lehren wir, damit Studierende sich wohlfühlen und uns gut evaluieren? Oder lehren wir, damit Studierende möglichst viel lernen?

Online-Lehre als Impfung gegen die Illusion

Die skizzierten Befunde sind deutlich, der von Klawitter befürwortete "shift from teaching to learning" unumgänglich. Die Didaktik empfiehlt deshalb zwei Maßnahmen, die ich jüngst in einer Viertsemestervorlesung an der Freien Universität erprobt habe:

  1. Desillusionierung: Die gefährliche Gewissheit, durch Frontalunterricht "mehr" zu lernen, gehört gestört. Ich folgte deshalb der Studie von 2019, die den empirischen Befund zu thematisieren empfahl: "instructors should persuade students that they are benefitting from active instruction". Besonders hilfreich war dabei ein Selbstversuch basierend auf Studien zur sog. lecture retention, also der Fähigkeit, Vorlesungsinhalte wiederzugeben. So fand ein Physik-Nobelpreisträger in einem Experiment heraus, dass 90 Prozent der Studierenden eine soeben vermittelte, nicht ganz triviale Tatsache schon nach 15 Minuten vergessen hatten.

    Das klang schier unglaublich, ich musste es einfach selbst probieren: Ich erwähnte in der einführenden Vorlesungseinheit zum Handels- und Gesellschaftsrecht mein Studium an der Universität Heidelberg, deren Rektor damals Peter Hommelhoff war – "ein sehr berühmter GmbH-Rechtler". Keine zehn Minuten (zwei Powerpoint-Folien) später ließ ich abstimmen, wofür P. Hommelhoff bekannt sei: Rechtsgeschäftslehre, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Examensrepetitorium oder Rechtsdidaktik. Ganze 13 Prozent der Teilnehmenden beantworteten die Frage richtig. Eine deutlichere Desillusionierung hätte ich mir für meine Studierenden nicht wünschen können. Und auch nicht für mich selbst.
     
  2. Didaktische Inversion: Als weitere Maßnahme zur didaktischen Umsetzung der lernpsychologischen Erkenntnisse gilt das "Umdrehen" des Lehrablaufs (inverted classroom). Denn Frontallehre nutzt den Zeitraum gleichzeitiger Anwesenheit, um allen Studierenden dasselbe mitzuteilen, verschiebt aber den viel anspruchsvolleren Prozess individueller Aneignung in die einsame Studierkammer, wo Studierende mit ihren Zweifeln und Verständnisproblemen allein gelassen sind. Diesem Modell entsagt auch Klawitter nicht konsequent, wenn er die "Stoffvertiefung […] in die eigenständige Nacharbeit verschieben" möchte.

    Genau andersherum die didaktische Inversion: Studierenden wird vorbereitende (Lehrbuch-)Lektüre aufgegeben, die in Eigenarbeit zu erledigen ist. Mit diesem Wissen und den daraus resultierenden Verständnisfragengewappnet, kommen sie in den Gemeinschaftsraum, diskutieren mit dem Dozenten, vertiefen den Stoff und üben seine Anwendung in Kleingruppen ein. Das ist natürlich ebenso voraussetzungs- wie anspruchsvoll, aber didaktische Fachliteratur bietet etliche Anleitungen – auch von Juristen wie Christoph Schärtl, Oliver Kreutz, Andreas Wiebe, Jan Eickelberg oder David Bartlitz.

Deshalb empfinde ich Online-Lehre als Chance und wünsche mir kein Zurück in den Präsenzhörsaal: Echte aktivierende Kleingruppenlehre (Klawitter spricht von der "Möglichkeit, Breakout-Gruppen zu bilden" als einem "Angebot kreativer Lehrgestaltung") ist in altmodischen Hörsälen mit eingeschraubter Bestuhlung kaum vorstellbar. Dort ist Frontallehre wie ehedem – und sei sie noch so aufgelockert durch charismatische Bühnenmagie – unausweichlich. Erst der virtuelle Raum überwindet das eherne Gesetz der Hörsaalarchitektur, function follows form.

Gleicher Lernstand lässt sich nicht garantieren

Es war trotz allem ein gewagtes Experiment, meine Vorlesung als Inverted Classroom zu gestalten. Würden Studierende sich von diesem Unterrichtsmodus überzeugen lassen? Schon bald wurde mir allerdings klar, dass die entscheidende Frage ganz anders lautete: Würde ich mich davon überzeugen lassen?

Angesichts des ungewohnten Formats durfte es mich nicht überraschen, dass sich manche Studierende vor den Kopf gestoßen fühlten. Genau wie in der zitierten Studie von 2019 waren einige unzufrieden und ärgerten sich in sozialen Medien darüber, sich nun "alles für diese VL selbst erarbeiten" zu müssen. Auf das geläufige didaktische Mantra, Lehrende vom "sage on the stage" zum "guide on the side" zu entwickeln, antworteten Studierende in virtuellen Echokammern: "Ich will keinen Buddy haben, ich will was lernen." Das weckt auch beim überzeugtesten Lehrenden Selbstzweifel. Ist es nicht doch meine Verantwortung, den gesamten examensrelevanten Stoff einmal "vorzutanzen"? Wie soll denn meine interaktive Lehre garantieren, dass alle Studierenden bis Semesterende das Gleiche wissen?

Genau da liegt der zweite gefährliche Selbstbetrug, den mir erst mein Experiment bewusst gemacht hat: Wir können es sowieso nicht. Selbst wenn wir den gesamten Stoff einmal zu Gehör bringen, nimmt uns die Lernpsychologie jede Gewissheit, dass auch nur die interessanten Informationen länger als zehn Minuten hängen bleiben. Frontallehre verleitet nicht nur Lernende, sondern auch Lehrende zur Selbsttäuschung: "Ich habe den Studierenden ja alles gesagt, Nachbereitung und Wissensfestigung sind ihre Verantwortung." Die didaktische Inversion entlarvt abermals: Jene Studierenden, die bei aktivierender Lehre auf Vorbereitungslektüre verzichten und den Präsenztermin deshalb für sinnlos (inhaltsleer) halten, würden bei Frontallehre auch der Nachbereitung ausweichen und das Erzählte wieder vergessen – sie merken es nur nicht.

Deshalb ist "alles gesagt" noch längst nicht "alles gelehrt" und "selbst erarbeitet" keineswegs "nicht gelehrt". Wir schulden es Studierenden ebenso wie uns selbst, falsche Gewissheiten zu zerstören durch – da komme ich mit Klawitter wieder zusammen – "ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf unseren Weg, Recht zu lehren."

Aktivierende Rechtslehre als "neues Normal"

Ich habe meine Veranstaltung in jedem zweiten Termin zwischenevaluiert. Dabei wurden die Forderungen nach "mehr Interaktion" und "mehr Gruppenarbeit" immer lauter. Sogar der einzige Studierende, der sich anfangs öffentlich querstellte, schrieb mir später, dass "gerade diese Mini Fälle", die ich zur Bearbeitung in Kleingruppen vorbereitet hatte, "wirklich hilfreich zum Verständnis" seien. Am Ende halte ich es deshalb für eine reine Gewöhnungsfrage: Indem wir (inter-)aktives Lernen normalisieren, gleichen sich auch die Erwartungs- und Anspruchshaltungen der Studierenden an die empirisch belegten Vorteile dieses Lehrmodus' an.

Diejenigen Studierenden jedenfalls, die schon heute nach der Möglichkeit lechzen, sich einzubringen und aktiver zu lernen, verdienen endlich die Gelegenheit dazu. Unsere Bühne im Hörsaal mag für uns Lehrende bequemer sein – sie wahrt die Distanz zum Publikum und spart uns die unangenehme Frage, wie wir das "Array von Namenskacheln" (Klawitter) mit Leben erfüllen – aber sie suggeriert auch, schon dadurch erfolgreich kommuniziert zu haben, dass wir "in die Gesichter hunderter Studierender" (Klawitter) geschaut und den einen oder anderen verständigen Blick aufgefangen haben. Das aber geht zuletzt auf Kosten der meisten Studierenden, denn Klawitter hat Recht: "so entwickelt niemand Selbstvertrauen"; wir kommen nicht umhin, möglichst alle "Studierenden immer wieder in Situationen" zu bringen, in denen sie "eine eigene Rechtsauffassung zu einem ihnen unbekannten Problem bilden und begründen müssen."

Digitale Lehre ist also kein Verzicht – richtig eingesetzt ist sie ein großer Gewinn. Und zwar auch für uns Lehrende, wenn wir in der Endevaluation bescheinigt bekommen: "Für eine Klage gegen die Vorlesung wäre das AG, nicht das VG zuständig. Was bedeutet das? Der Dozent lehrt nicht von oben herab in einem Über-Unterordnungsverhältnis, sondern begegnet den Studierenden vielmehr auf Augenhöhe."

Dr. Dr. Hanjo Hamann, JSM (Stanford), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bonn und Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin. Zeitgleich mit der hier erörterten Vorlesung im Handels- und Gesellschaftsrecht wurde er zum Nachwuchswissenschaftler des Jahres ernannt.

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