"Durchzufallen war damals meine kleinste Sorge"
Eigentlich hätte Melanie Streicher* nicht Jura studieren müssen. Als sie 2003 damit anfing, hatte sie ihre Ausbildung zur Buchhändlerin schon abgeschlossen. Doch als Leiterin der Sachbuchabteilung kam sie viel mit Fachliteratur in Berührung, auch mit juristischer. Anders als so mancher geplagte Student fand sie Gefallen an den Skripten, Kommentaren, sogar Loseblattsammlungen – und schrieb sich im selben Jahr an der Universität ein. Später wollte sie einmal für einen Verlag tätig werden und dort ihr praktisches und juristisches Know-How verknüpfen. Es folgte ein relativ gewöhnliches Studium: Streicher glänzte nicht in ihren Prüfungen, aber zum Bestehen reichte es doch immer. Zumindest bis zu den Klausuren für das erste Staatsexamen im Jahr 2008: Dort schaffte sie die Mindestpunktzahl nur im öffentlichen Recht und im Strafrecht; im Zivilrecht rauschte sie ungebremst durch. "Dass ich kein hervorragendes Examen machen würde, war mir schon zuvor klar – spätestens 2007, als ich mein erstes Kind zur Welt brachte und entsprechend Abstriche bei der Vorbereitungszeit machen musste. Trotzdem war ich immer davon ausgegangen, dass ich bestehen würde", sagt Streicher.
"Im Studium wird einem vermittelt, alle Fachgebiete seien gleich wichtig"
Nach einer längeren Pause und der Geburt ihres zweiten Kindes unternahm sie 2010 ihren zweiten und letzten Anlauf in Richtung Staatsexamen – und scheiterte erneut, wiederum am Zivilrecht. Daher rührt auch der einzige Vorwurf, den sie dem Studium heute macht: "Man bekommt anfangs den Eindruck vermittelt, die drei Fachgebiete öffentliches, Straf- und Zivilrecht stünden gleichberechtigt nebeneinander. Tatsächlich ist das Zivilrecht aber mit Abstand am wichtigsten." Das Scheitern im Examen fällt für Streicher in eine auch ansonsten schwierige Zeit: Ihr erstes Kind ist schwer erkrankt, das zweite noch ein Baby, und obendrein hat das Haus, in welchem sie lebt, nach schwerem Schneefall einen kostspieligen Schaden am Dach. "Offen gesagt war das Examen da noch die kleinste meiner Sorgen", erinnert sie sich. Trotzdem: Zwei Kinder bedeuten viel Verantwortung, nicht zuletzt finanzielle. Umso erstaunlicher ist die Gelassenheit, mit der Streicher über jene Tage spricht. Natürlich sei sie enttäuscht gewesen, natürlich hätten die stressige Lernphase und das endgültige Scheitern im Examen sie mitgenommen. Aber deshalb gleich verzweifeln? Pah, dafür sei doch gar keine Zeit gewesen – und geplärrt und geheult hätten die Kinder ja schon genug.Selbständigkeit zwischen Waschküche und Krabbelgruppe
Also was tun? Die Arbeitszeiten im Buchhandel waren mit der Familie kaum zu vereinbaren, ein juristischer Job kam nicht in Frage. Auf Vorschlag ihres Mannes versucht sie, sich mit einer Plattform zum Tausch alter Musik-Kassetten selbständig zu machen, doch auch dieser Versuch schlägt fehl. "Ich war zwar selbst ein Kassetten-Kind, aber für die Seite fehlte es mir einfach an der Lust und den richtigen Ideen. Dementsprechend schnell ist sie auch gefloppt", erzählt Streicher. Doch mit den Bedürfnissen und Problemen einer ganz anderen Zielgruppe war sie inzwischen bestens vertraut. "Als junge Mutter habe ich mich natürlich viel mit Babythemen beschäftigt und wusste, welche Angebote es so gibt und woran es mangelt. Die meisten Produkte in dem Bereich sahen aus, als wären sie von Kindern für Kinder designt worden, und nicht von Eltern für Eltern. Man hört aber nicht auf, ein erwachsener Mensch zu sein, nur weil man auf einmal Kinder hat." Ende 2010 beschließt Streicher daher, sich mit einem Onlineshop für Babyprodukte selbständig zu machen. Im Mittelpunkt ihres Angebotes stehen Tragehilfen, "schließlich hat man als Mutter ohnehin schon alle Hände voll zu tun". Ihr Budget für den ersten Einkauf: 2.500 Euro. Ihr Warenlager: die Waschküche. Ihre Erfahrung im Onlinehandel: nicht vorhanden. Eine Wette auf den Erfolg des Projekts hätte damals wohl kaum jemand abschließen wollen."Der Rest war learning by doing"
Außer Streicher selbst, die sich mit vollem Einsatz in die Arbeit stürzt. Sie macht Werbung für ihren Shop, bietet Tragekurse in Krankenhäusern und bei Bildungswerken an, veranstaltet Beratungen in ihrem eigenen Haus oder "Tragefrühstücke" im Stil einer Tupper-Party bei interessierten Kundinnen. Ihre Kenntnisse aus dem Studium helfen ihr bei den rechtlichen Fragen des Online-Versandhandels, ihre Ausbildung im Buchhandel beim Vertrieb und ihre Erfahrung als Mutter im Umgang mit den Kunden – "der Rest war eben learning by doing". Ob sie sich keine Sorgen gemacht hätte, dass das Projekt gleichfalls scheitern könnte? "Doch, aber was hätte schon passieren können? Schlimmstenfalls wären 2.500 Euro weg gewesen und einige Monate an Zeit. Aber ich hatte mit dem Studium gerade sieben Jahre in den Sand gesetzt, im Vergleich wirkte das nicht mehr wirklich bedrohlich." Heute, vier Jahre später, betreibt Streicher ihren Shop nur noch nebenher und geht hauptberuflich einer anderen Arbeit nach. Dennoch laufen die Geschäfte gut, sie muss sich bemühen, in den Grenzen der Kleinunternehmerregelung nach dem Umsatzsteuergesetz zu bleiben. Ob sie nicht stolz sei, will ich von ihr wissen, schließlich hätte das in ihrer Lage sicher nicht jeder geschafft. "Naja," meint Streicher. "Es fliegt ja auch nicht jeder durchs Examen." * Name von der Redaktion geändertAuf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.
2014 M04 3
Jurastudium
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