Justizminister sehen "keinen Reformbedarf"

Ohne ein ver­bes­sertes Jura­stu­dium bricht die Justiz zusammen

von Stephan KlawitterLesedauer: 5 Minuten

Die Justizminister sehen "keinen grundlegenden Reformbedarf" für das Jurastudium – obwohl empirische Befunde das Gegenteil beweisen. Eine fatale Fehleinschätzung, denn bis zum Justizkollaps ist es nicht mehr lang, meint Stephan Klawitter.

Der Ruf nach einer grundlegenden Reform des Jurastudiums ist vermutlich so alt wie das Studium selbst. Überbordende Stoffmenge, unzureichende Grundlagenvermittlung, psychische Belastung – die Liste an Kritikpunkten ist seit jeher lang. Beschränkte sich die öffentliche Kritik bis vor einigen Jahren noch auf einzelne Debattenbeiträge vorrangig jüngerer Kolleginnen und Kollegen, denen die Probleme der Juristenausbildung noch in frischer Erinnerung waren, so ist es den Vertreterinnen und Vertretern der Reformbestrebungen zuletzt gelungen, den Veränderungsbedarf auch empirisch zu belegen.

So weist die in 2023 veröffentliche iur.reform-Studie des "Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V." – übrigens gestützt auf die Befragung von beeindruckenden fast 12.000 Teilnehmenden – einen statusgruppenübergreifenden Konsens für strukturelle Veränderungen im Jurastudium nach. Nach den Ergebnissen der aktuellen "Absolvent:innenbefragung des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF)" würde sogar nur knapp jeder dritte Erstexaminierte das Studium in seiner jetzigen Form weiterempfehlen. Die von der Universität Regensburg durchgeführte "JurSTRESS-Studie" kam zu dem Ergebnis, dass knapp 60 Prozent der teilnehmenden Studierenden in der Examensvorbereitung mindestens zu einem Zeitpunkt chronische Stresssymptome aufwiesen. Und zuletzt erklärten zahlreiche rechtwissenschaftliche Fakultäten im "Hamburger Protokoll", dass die erste juristische Prüfung in ihrer gegenwärtigen Form reformbedürftig sei.

Anzeige

Nachwuchsgewinnung als zentrale Herausforderung der Justiz

Für die Justizministerinnenkonferenz (JuMiKo) sollte das der Zahlen genug sein, um das Jurastudium auf den Prüfstand zu stellen. Denn angesichts der personellen Entwicklungen in der Rechtspflege, welche sich in den kommenden 15 Jahren mit einer kaum vergleichbaren Pensionierungswelle konfrontiert sieht, ist der Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs höher denn je. Das schien das Gremium zunächst auch verstanden zu haben: Auf ihrer Herbstkonferenz 2023 beauftragte die JuMiKo daher den Ausschuss zur Koordinierung der Juristenausbildung (KOA), sich mit den Herausforderungen und der Attraktivität der volljuristischen Ausbildung zu befassen.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden nun auf der Anfang Juni durchgeführten Frühjahrskonferenz vorgestellt – und sie sind, gelinde gesagt, ernüchternd. Auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse seien sich die Justizministerinnen und -minister einig, "dass grundlegender Reformbedarf nicht besteht", heißt es in dem gefassten Beschluss. So enthalte der Bericht zwar "Denkanstöße für weitere Verbesserungen der juristischen Ausbildung", die man mit den Vertreterinnen und Vertretern der Studierenden und der Fakultäten diskutieren wolle. Die Notwendigkeit einer statusgruppenübergreifenden Generaldebatte im Rahmen eines "Accademie Loccum 2.0", wie sie vom Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V. gefordert wird, erkennen die Ministerinnen und Minister indes nicht.

Bizarr: Im Rahmen ihres auf ebenjener Frühjahrskonferenz verabschiedeten Beschlusses zum Thema "Förderung der Nachwuchsgewinnung in der Jusitz" erkennt die JuMiKo, "dass die Nachwuchsgewinnung in allen Funktionsbereichen zu den zentralen Zukunftsthemen und Herausforderungen der Justiz im Bund und in den Ländern gehört". Warum man angesichts dieser Erkenntnis eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema Nachwuchsgenerierung derart ausklammert, bleibt ein Geheimnis der Verantwortlichen.

Verheerende Signalwirkung

Kein Geheimnis bleibt indes, auf welcher Grundlage der KOA zu seinen Empfehlungen kommt, die im krassen Widerspruch zu den empirischen Befunden oben genannter Untersuchungen stehen. So erklärte ein Sprecher des mit der Berichterstattung beauftragten Landes NRW, man stütze den Bericht auf eine Befragung von 90 Studierenden und Berufsträgerinnen und -trägern. Angesichts dieser krassen Diskrepanz – 12.000 Teilnehmende an der iur.reform-Studie gegen 90 Personen, die die Verantwortlichen in NRW befragt haben wollen – mag dieses Meinungsbild allenfalls als Beleg für das schwierige Verhältnis von Juristerei und Empirie herhalten. Apropos Empirie: Das vielfach beschworene "hohe Ansehen", welches die rechtswissenschaftliche Ausbildung – vor allem auch im Ausland – genießen soll, ist im Unterschied zu ihren Reformbedarfen bislang nicht empirisch belegt und dennoch argumentativer Dauerbrenner von Reformkritikern.

Mit ihrem Beschluss sendet die JuMiKo ein verheerendes Signal, adressiert insbesondere an diejenigen Juristinnen und Juristen, die sich seit Jahren – übrigens überwiegend ehrenamtlich – für Verbesserungen in der Ausbildung engagieren. Die Message: Solange man noch Juristinnen und Juristen findet, die das bestehende Ausbildungssystem unterstützen, halten wir an diesem fest. Wenn selbst fundierte empirische Befunde die politisch verantwortlichen Ministerinnen und Minister nicht ins Grübeln bringen, so muss man sich als Befürwortender von grundlegenden Reformen schon fragen, was noch passieren muss, damit die Notwendigkeit einer Generaldebatte über unser Ausbildungssystem endlich von diesen erkannt wird.

Die Ausbildung wird zum Wettbewerbsnachteil

Das wahrscheinlichste Szenario hierfür dürfte ein personeller Kollaps unseres Justizwesens sein. Vergleicht man das gegenwärtige Niveau von etwa 8.000 Volljuristinnen und -juristen, die pro Jahr erfolgreich das Ausbildungssystem verlassen, mit der Zahl der altersbedingt Ausscheidenden in Justiz, Verwaltung und Rechtsberatung, so merkt man schnell, dass die Zahl der Berufseinsteigerinnen und -einsteiger bereits jetzt kaum ausreicht, den entstehenden Bedarf zu decken. Bezieht man die steigende Zahl von Unternehmensjuristinnen und -juristen, die zuletzt leicht rückläufigen Studieneingangszahlen und den Trend zu alternativen Bachelorstudiengängen in die perspektivische Betrachtung ein, dürfte sich dieses Problem in den kommenden Jahren verschärfen. Die sinkenden Notenanforderungen in der Justiz und die in den vergangenen Jahren explodierenden Einstiegsgehälter in den (Groß-)Kanzleien sind Beleg für den immer härter geführten Kampf um den juristischen Nachwuchs.

Der Kampf um den Nachwuchs ist dabei gewiss kein spezifisch juristisches Problem. Die demografische Entwicklung führt vielmehr auf dem gesamten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu einem angespannten Wettbewerb um junge Köpfe. Und genau diesen Wettbewerb drohen wir zu verlieren, wenn wir weiterhin mit einer "Da mussten wir auch durch!"-Mentalität die Schattenseiten unseres Ausbildungssystems romantisieren. Denn in einer Zeit, in der man aufgrund des flächendeckenden Nachwuchsmangels mit praktisch jedem Abschluss am Arbeitsmarkt gefragt ist, obliegt es vor allem dem Ausbildenden, ein Ausbildungsangebot zu machen, welches die Abiturientinnen und Abiturienten von einem Studium überzeugt. Die Zeiten, in denen sich die juristische Ausbildung darauf ausruhen konnte, eine exklusive Jobperspektive anzubieten, dürften in dieser neuen Realität endgültig vorbei sein.

Wettlauf gegen die Zeit

Vielmehr liegt es an uns, eine Ausbildung anzubieten, die zeigt, dass sie sich für ihren Nachwuchs interessiert. Indem sie dessen Bedürfnisse in das Zentrum der Überlegungen stellt, wie gute Lehre zu funktionieren hat. Indem sie ihn zum Nachdenken und Verstehen anregt, statt ihn zum Auswendiglernen anzuhalten. Und indem sie ihm Unterstützung und Sicherheit bietet, statt ihn psychisch zu belasten. Auf diesem Weg würde unsere Ausbildung nicht nur wieder attraktiver für junge Menschen. Sie würde zugleich besser als jetzt gewährleisten, dass Studienanfängerinnen und -anfänger jenes Leistungsniveau erreichen können, welches wir für eine funktionierende Justiz so dringend benötigen.

Ohne grundlegende Reformen werden wir dieses Ziel nicht erreichen. Doch die Zeit drängt: Allein die Entwicklung neuer Ausbildungskonzepte, deren Erprobung in Form von Reformstudiengängen und die anschließende Evaluierung der Ergebnisse dürften einen Zeitraum von etwa zehn Jahren in Anspruch nehmen. Hinzu käme ein ganzer Ausbildungszyklus, bis die ersten Absolventinnen und Absolventen einen derartig reformierten Studiengang durchlaufen hätten. Angesichts des sich bereits jetzt abzeichnenden Personalmangels können wir es uns nicht leisten, einen derartigen Reformprozess weiter aufzuschieben. Umso bedauerlicher ist es, dass die JuMiKo mit ihrem Beschluss auf die Reformbremse getreten ist – und damit die vielleicht letzte Chance verpasst hat, die juristische Ausbildung noch rechtzeitig für den sich verhärtenden Kampf um den Nachwuchs vorzubereiten.

Der Autor Stephan Klawitter ist Dozent an der HU Berlin, Rechtsanwalt und engagiert sich seit Jahren in diversen Projekten wie etwa "JuraNotAlone" für eine grundlegende Reform der Juristenausbildung.

Auf Jobsuche? Besuche jetzt den Stellenmarkt von LTO-Karriere.

Thema:

Jurastudium

Verwandte Themen:
  • Jurastudium
  • Fachkräfte
  • Justiz

Teilen

Ähnliche Artikel

Newsletter