Juristische Informationsbeschaffung

Bit versus Paper

von Roland SchimmelLesedauer: 6 Minuten
Rechtswissenschaftliches Fachwissen gibt es sowohl in gedruckter als auch in digitaler Form. Roland Schimmel hat das Experiment gewagt, Information aus Print- und Onlineangeboten anhand einer wichtigen BVerfG-Entscheidung zu vergleichen.

Dass die Digitalisierung im Allgemeinen und das Internet im Besonderen Geschwindigkeit und Komfort des Zugriffs auf juristische Fachinformationen deutlich erhöht haben, ist ein Allgemeinplatz unter den älteren Juristen. Für die jüngeren und insbesondere die heutigen Studenten ist das kein Thema mehr, weil sie sich an eine Zeit ohne Internet gar nicht erinnern. Indes weigert sich das Gutenberg-Universum bislang beharrlich aus der Rechtswissenschaft zu verschwinden. Gerade bei den auch in dieser Hinsicht eher konservativen Juristen genießt das gedruckte Medium weiter große Wertschätzung. Als Lehrender ist es gar nicht so einfach, den elektronisch sozialisierten Studienanfängern Bücher und Fachzeitschriften ans Herz zu legen. Die Argumente dafür werden auch spärlicher: Gedruckte Medien bieten keine verlässliche Qualitätskontrolle mehr, weil die Verlage diese Funktion immer weiter an die Leser auslagern. Umgekehrt erhebt der eine oder andere Jura-Blog im Internet mit aufwendigen Peer-Review-Verfahren durchaus wissenschaftlichen Anspruch. Die Übergänge werden also flüssiger und die Informationsquellen der Studenten bei der Prüfungsvorbereitung und dem Verfassen von Haus- und Seminararbeiten vielfältiger. 

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Experiment: Treaty-Override-Entscheidung als Ausgangspunkt

Warum also nicht einmal ein kleines Experiment unternehmen und anhand eines juristischen Ereignisses betrachten, wie gut und wie schnell man sich im Internet einerseits und mit gedruckten Texten andererseits informieren kann? Als Beispiel dient die bedeutende Treaty-Override-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15.12.2015, im Volltext nebst Pressemitteilung veröffentlicht am 12.2.2016. Das Urteil ist nicht nur für Experten für exotische Detailfragen von Doppelbesteuerungsabkommen interessant, sondern auch für Studenten des Rechts wegen der darin getroffenen Aussagen zum Verhältnis des Bundesrechts zum Völkerrecht. Dadurch verdient es neben dem steuerrechtlichen Ausgangspunkt auch staatsrechtliches und rechtstheoretisches Interesse. Im Folgenden sind die Beiträge zusammengestellt, die innerhalb der ersten acht Wochen nach Verfügbarkeit des Urteilstexts erschienen sind. Vollständigkeit wurde angestrebt, aber sicher nicht erreicht.

Das Internet ist überpünktlich

Das Verfahren war bereits vor Veröffentlichung des Urteils Thema in Blogs. Bereits Stunden nach Veröffentlichung der Pressemitteilung gab es mit dieser fast identische Einträge bei Beck und eine Mitteilung beim Otto Schmidt Verlag. Auch erste um zusätzliche Information ergänzte Nachrichten waren noch am selben Tag in der elektronischen Fachpresse verfügbar. Ebenso berichtete die allgemeine Presse, so zum Beispiel TAZ, FAZ und Focus. Ebenfalls noch am 12. Februar erschien ein Eintrag im Verfassungsblog, tags darauf einer im NWB-Expertenblog, zwei Tage später ein ausführlicher Beitrag in der LTO sowie eine kurz anmoderierte Wiedergabe des Entscheidungstexts. Auch Anwälte meldeten sich zu Wort, verstärkt erschienen auch wissenschaftlich angelegte Blogposts, teilweise gar umfassende Paper von wissenschaftlichem Zuschnitt. Aufgegriffen und kommentiert haben das Urteil überwiegend Rechtswissenschaftler und Rechtsanwälte, aber auch Steuerberater. Das steuerrechtliche Ausgangsproblem tritt aber in fast allen Kommentierungen hinter die verfassungsrechtlichen Fragen deutlich zurück.

Was geschieht derweil im Printbereich?

Wie stünde es nun um die Verfügbarkeit der nötigen Informationen bei unterbrochenem Netzzugang oder im Falle freiwilliger digitaler Abstinenz? Gar nicht so schlecht, denn auch in den Printversionen der allgemeinen Presse taucht das Thema immerhin vereinzelt auf. Die ersten Volltextabdrucke des Urteils findet man in den Beck'schen Fachzeitschriften DStR (2016, 359 ff.); IStR (2016, 191 ff.) und WM (2016, 568 ff.). Die ersten Urteilsanmerkungen erschienen am 19.2.2016 (Mitschke, DStR 2016, 376 f.), am 26.2.2016 (Henningfeld, DB 2016, 443 f.) und am 17.3.2016 (Lehner, IStR 2016, 217 ff.). Darüber hinaus ist die Entscheidung eingearbeitet in den Informationsdienst Steuerrecht kurzgefasst vom 23.03.2016 (Möller, SteuK 2016, 119 ff.). Wer allerdings das Urteil nach dem Abdruck in der Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) oder auch nur in der am weitesten verbreiteten Fachzeitschrift (NJW) zitieren möchte, wird sich wohl noch eine Weile gedulden müssen.

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2/2: Internet für den ersten Überblick unschlagbar

Nun müsste man überhaupt erst einmal auf den Gedanken kommen, genau in DStR, IStR, DB und WM nach Entscheidungsvolltexten oder ersten Kommentierungen zu suchen. Um eine (vorläufig) vollständige Übersicht über Parallelfundstellen und Urteilsanmerkungen in gedruckter Form zu erhalten, müsste man zunächst einige Monate warten und dann einigermaßen mühsam von Hand die potenziell einschlägigen Fachzeitschriften durchsehen. Wer sich mit steuer- und wirtschaftsrechtlichen Fachzeitschriften nicht auskennt, wird also froh sein, dass er die Fundstellen elektronisch nachschauen kann. Die Onlinerecherche ist dabei weitaus komfortabler. Nicht nur über die kostenpflichtigen Datenbanken wie Juris und Beck online, sondern auch über Angebote wie dejure.org findet man zumindest die meisten Urteile im Volltext nebst digitaler Fundstellen zu weiteren Beiträgen zum Thema binnen weniger Sekunden.

Zwei Monate, ein Fazit

In der überschaubaren Zeitspanne von acht Wochen seit Urteilsveröffentlichung sind die im Internet verfügbaren Beiträge in der Überzahl. Das Internet ist nicht nur schnell, was die Bereitstellung des Urteilstexts angeht. Auch für die ersten Erläuterungen zum Urteil sind Quellen aus dem Netz am zügigsten verfügbar. Dort finden sich auch wissenschaftlich verwertbare Texte, vereinzelt auch größeren Umfangs. Die gedruckten Medien sind aber kaum langsamer. Und einen Beitrag eines einschlägig ausgewiesenen steuerrechtlichen Emeritus findet man eher im Druck als online. Die ganz großen Namen scheinen noch eine besondere Affinität zum Druckwerk zu haben. Wenn es um die schnelle und tagesaktuelle Recherche geht, ist das Internet der Bibliothek klar überlegen. Insbesondere dann, wenn man Zugang zu den Fachdatenbanken hat, so etwa über den Internetzugang der Universität. Die Beobachtungen aus den acht Wochen nach Veröffentlichung der Treaty-Override-Entscheidung  könnten verallgemeinerbar sein. Ganz sicher ist das nicht. Wer es genauer wissen will, probiere es selbst aus – etwa anhand der aktuellen BVerfG-Entscheidung zum BKA-Gesetz.

Nutzen für das Studium

In welchen Situationen ist es nun vorheilhaft, eine Vorstellung vom Informationsfluss bedeutender Entscheidungen zu haben? Jenseits des Gesichtspunkts der Arbeitserleichterung, die sich aus dem "gewusst wann" und "gewusst wo" ergibt, zeigen drei Überlegungen, dass der hier erörterte Typ von Methodenwissen einen juristischen Nutzen hat. Im Studium könnte es in einer Übungs- oder in einer Seminararbeit leicht einmal auf Aktualität ankommen. Auch wenn in Übungen eher ausnahmsweise Sachverhalte zur Entscheidung gestellt werden, die nur mit Kenntnis der Rechtsprechung von letzter Woche "richtig" zu bearbeiten sind, ist doch die Geschäftsgrundlage klar: Es ist ein Gutachten auf aktuellem Rechtsstand vorzulegen. Dabei dürften Urteile, die während der Bearbeitungszeitspanne ergehen oder veröffentlicht werden, kaum eine Rolle spielen – die sind nämlich auch für den Aufgabensteller meist nicht vorhersehbar. Aber eine erst wenige Wochen alte höchstrichterliche Entscheidung darf er natürlich in den Sachverhalt einbauen. Das kommt gelegentlich vor. Erst recht gilt das etwa für die mündliche Prüfung im staatlichen Teil des Examens. Hier werden regelmäßig aktuelle Urteile zur Diskussion gestellt. Darunter sind nicht nur solche zu verstehen, die im Volltext in der NJW der letzten Woche wiedergegeben sind, sondern auch solche, über die am Vortag die Medien berichtet haben. Mancher Prüfer fragt nach einem Urteil, über das auf der Anreise zum Prüfungsort in der Tageszeitung vom gleichen Morgen gelesen hat. Wichtig ist es aber auch für die Studenten, die Anwalt werden wollen. Der Mandant erwartet eine Rechtsberatung auf aktuellem Stand nicht nur hinsichtlich der Gesetzgebung, sondern auch hinsichtlich der Rechtsprechung. Schlimmstenfalls macht sich der Anwalt durch Unkenntnis einer unlängst erfolgten Rechtsprechungsänderung schadensersatzpflichtig. Hierfür kommt es darauf an, ab welcher Verzögerung der Rechtsanwalt pflichtwidrig und fahrlässig handelt, wenn er eine Informationsquelle nicht nutzt. Diese Zeitspanne wird wiederum kürzer, je selbstverständlicher in Zukunft die Recherche im Internet und in den einschlägigen Fachdatenbanken wird. Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.

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